# taz.de -- Vom Publikum kuratierte Kunstausstellung: Was den Briefträgerinnen… | |
> Zum 120-jährigen Jubiläum der Künstlervereinigung präsentiert das | |
> Brücke-Museums seine Sammlung. Ausgewählt wurden die Exponate vom | |
> Publikum. | |
Bild: Max Pechstein, Zirkus, 1911, Aquarell über Kreide auf Papier (Ausschnitt) | |
Am 7. Juni 1905 fanden sich in Dresden vier Studenten der Technischen | |
Hochschule zusammen, die alle einen ähnlichen farbig-expressiven Malstil | |
pflegten, um eine Künstlergruppe zu gründen. [1][Auf Anregung des | |
Gruppenmitglieds Karl Schmidt-Rottluff nannten sie sich „Die Brücke“]. | |
„Schmidt-Rottluff sagte, wir könnten das Brücke nennen – das sei ein | |
vielschichtiges Wort, würde kein Programm bedeuten, aber gewissermaßen von | |
einem Ufer zum anderen führen“, schrieb Mitglied Erich Heckel in seinem | |
Tagebuch. | |
Wenn auch die inhaltliche Programmatik der Gruppe eher kursorisch blieb, | |
verpflichteten sich die Mitglieder, einen gemeinsamen Malstil zu pflegen. | |
Wie Heckel und Schmidt-Rottluff malten auch Ernst Ludwig Kirchner und Fritz | |
Bleyl in einem ausdrucksstarken, reduzierten Stil, der von Van Gogh und | |
[2][Edvard Munch] beeinflusst war; auch Künstler wie Max Pechstein, Otto | |
Mueller und Emil Nolde, die kurzzeitig zur Gruppe gehörten, schufen | |
grell-farbige Gemälde mit kräftigem Farbeinsatz und starken Kontrasten und | |
bevorzugten vereinfachte und bewusst grobe Formen ohne feine Details, die | |
oft an Holzschnitte erinnern. | |
Der Stil wurde zu einer Art Markenzeichen, das sicher zur Beliebtheit der | |
Gruppe, die bis 1911 bestand, beigetragen hat. Die „Brücke“ ist nicht nur | |
eine Keimzelle des deutschen Expressionismus und wichtige Position beim | |
Entstehen einer deutschen Moderne, sondern auch ein Publikumsliebling; ihre | |
Bilder wurden in endlosen Katalogen und Bildbänden, Postkarten, Postern und | |
Kalendern reproduziert. | |
Die kleine Federzeichnung, die Schmidt-Rottluff zur Gründung anfertigte, | |
ist im Vergleich zu den bekannten Werken der Gruppe erstaunlich reduziert. | |
Mit einigen wenigen Strichen werden zwei Brückenbögen skizziert und der | |
„Zusammenschluss zur Künstlergruppe Brücke“ bekanntgegeben. Das Blatt hä… | |
nun am Anfang einer Ausstellung des Brücke-Museums zum 120-jährigen | |
Jubiläum dieses Ereignisses. Und für die hat nicht die Leitung des Hauses, | |
sondern das Publikum eine Auswahl aus der Sammlung des Museums getroffen. | |
120 eng gehängte Werke geben so einen Überblick über deren Vielseitigkeit, | |
neben jedem Exponat findet sich eine kurze Begründung. | |
[3][Kai Wegner] hat eine wild bekleckste Tuschezeichnung einer Berliner | |
Straßenecke von Ernst Ludwig Kirchner von 1915 ausgewählt, weil die für ihn | |
„in genialer Weise mit wenigen Pinselstrichen die Stimmung und Dynamik der | |
Großstadt“ festhalte. Auch wenn das Bild tatsächlich mit der Feder | |
gezeichnet wurde – hier muss man dem Regierenden Bürgermeister trotzdem | |
uneingeschränkt Recht geben. | |
Einen Gymnasiasten erinnert ein Landschaftsbild von Max Pechstein an das | |
Online-Game „Fortnite“, was bei ihm „OG Vibes“ auslöse. Ein Dogwalker | |
erkennt in Schmidt-Rottluffs „Entwurzelten Bäumen“ (1934) die Farbe des | |
Grunewalds wieder. [4][Grünen-Politikerin Claudia Roth] hat das | |
Selbstporträt von Erich Heckel ausgesucht, das Iggy Pop auf dem Cover | |
seiner LP „The Idiot“ nachstellt. Und der Schauspieler Alexander Scheer | |
entschied sich für Otto Muellers „Liebespaar zwischen Gartenmauern“ (1916), | |
auf das David Bowie in seinem Song „Heroes“ Bezug zu nehmen scheint. | |
Die kurzen Beschreibungen und die Wahrnehmungen der vielen verschiedenen | |
Gastkuratoren erlauben einen anderen Blick auch auf Arbeiten, mit denen man | |
sonst vielleicht nichts anfangen könnte. Manche Texte könnten allerdings | |
auch von der Referentin verfasst worden sein. Die Empfindungstiefe, mit der | |
[5][Ex-Kultursenator Joe Chialo] eine musikalische Szene kommentiert, traut | |
man ihm irgendwie nicht zu. | |
Gleichzeitig sind dank des originellen Ausstellungskonzepts Exponate in die | |
Ausstellung gekommen, die nicht unbedingt zum „Brücke“-Kanon gehören, zum | |
Beispiel Ernst Ludwig Kirchners selbst geschnitzter Stuhl von 1920 oder das | |
Türschild von Karl Schmidt-Rottluffs Berliner Wohnung, das überhaupt noch | |
nie gezeigt wurde. Die Ausstellung ist darum eine anregende Angelegenheit, | |
mit der man im stillen Dialog mit anderen Kunstbetrachtern viel Zeit | |
verbringen kann – einerseits. | |
Andererseits zeigt die Ausstellung leider auch, für welche Bubble in Berlin | |
Kultur gemacht wird. Ein repräsentativer Bevölkerungsdurchschnitt ist es | |
nicht, der hier Kunst auswählen durfte. Zwar haben auch ein Sicherheitsmann | |
und eine Briefträgerin Lieblingswerke ausgesucht. Aber es überwiegt ein | |
Soziotop aus Kulturbetriebsnudeln, Kunstszenegestalten, gehobener | |
Bourgeoisie – obwohl Museen mit den Steuern der gesamten Bevölkerung | |
finanziert werden. | |
So beweist die Ausstellung unfreiwillig, dass viele Berliner | |
Kunstinstitutionen große Teile der Berliner Stadtgesellschaft offenbar | |
schlicht nicht auf dem Schirm haben. Vor zwei Jahren hat eine Studie zur | |
kulturellen Teilhabe im Auftrag des Senats gezeigt, dass die Berliner | |
Museen sich in erster Linie an die Gebildeten, Wohlhabenden und Alten | |
richten. Und in der Tat haben bei einem Besuch der Ausstellung an einem | |
Sonntag gut gekleidete, bildungsbürgerliche Boomer und noch Ältere das | |
Museum mehr oder weniger für sich allein. | |
22 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Kunst-und-Kolonialismus/!5820942 | |
[2] /Edvard-Munch-in-Oslo/!5937246 | |
[3] /Kulturkuerzungen-in-Berlin/!6053865 | |
[4] /Claudia-Roth-zieht-Bilanz/!6085169 | |
[5] /Kultursenator-Joe-Chialo-tritt-zurueck/!6085546 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
## TAGS | |
Moderne Kunst | |
Expressionismus | |
Brücke | |
Kai Wegner | |
Bauhaus | |
Kinderfrage | |
Malerei | |
Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
Emil Nolde | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ausstellung im Mies van der Rohe Haus: Kunst ist konkret | |
Eine Ausstellung im Berliner Mies van der Rohe Haus zeigt Kunst von Max | |
Bill, der einst am Bauhaus studierte. Blieb dies in seinem Werk sichtbar? | |
Kinder fragen, die taz antwortet: Sind Künstler besondere oder verrückte Mens… | |
Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche | |
beantworten wir eine. Diese Frage kommt von Jelena, 11 Jahre alt. | |
Maler Gustav Wunderwald: Berlin, ein Monster der Moderne | |
Vor 80 Jahren starb Gustav Wunderwald, Maler der „Neuen Sachlichkeit“. Er | |
stellte Berlin dar, wie es war – obwohl niemand die Stadt so sehen wollte. | |
Kunst und Kolonialismus: Expressionistischer Südseetraum | |
Mit einer Doppel-Ausstellung beginnt das Brücke-Museum die Aufarbeitung | |
seines kolonialen Erbes. Das ist in den Werken der Brücke bis heute | |
sichtbar. | |
Zusammenarbeit in der Kunst: Kurzlebige Nord-Süd-Achse | |
1906 wurde Emil Nolde Mitglied der Künstlergruppe „Brücke“. Für wen sich | |
was lohnte, zeigt nun die Kieler Kunsthalle. |