# taz.de -- Neue Musik aus der Ukraine: Drohnen, Tränen und Liebestod | |
> Musik aus der Ukraine ist experimentierfreudig, stilistisch vielfältig | |
> und trotzt der prekären Lage im Krieg. Ein Überblick zu spannenden neuen | |
> Alben. | |
Bild: Sopranistin Viktoriia Vitrenko | |
Berlin taz | „Mein Herz, meine Rosenblüte!“, eine leicht schiefe Stimme | |
singt auf Ukrainisch und wird dabei von einer melancholischen | |
Klaviermelodie begleitet. „Es bricht mir das Herz, dass du weit weg von mir | |
gehst, und ich kann nicht …“ | |
Die Worte stammen aus einem Liebesbrief des Kosakenhetmans Iwan Masepa an | |
seine weit jüngere Geliebte. Statt weiterer Worte setzt dann ein Pfeifen | |
ein, scheinbar verlorene einzelne, wenig zusammenhängende Pfeiftöne; und | |
von der Stimme sind mal fröhliche „Lalalas“ zu vernehmen, mal wuchtige, | |
fast aggressive „Param Params“, eingebettet in eine kitschige | |
Liebeslied-Hookline. Schließlich entwickelt sich das über zehnminütige | |
Lied, erweitert um elektronische Beats zur zeitgenössischen Tanzmusik. | |
Es handelt sich um „Heartily“, dem Auftakt von insgesamt vier Tracks auf | |
dem vor Kurzem als physischem Tonträger auf Vinyl und auch digital | |
erschienenen Werk „Liebestod“ der Komponisten und Musiker Alexey Shmurak | |
und Oleh Shpudeiko. Zugleich ist es die allererste Veröffentlichung des | |
experimentellen Musiklabels „Kyiv Dispatch“. | |
## Ironie als Stilmittel | |
Shpudeiko, der mittlerweile in Deutschland lebt, ist unter seinem | |
Künstlernamen Heinali für seine eigenwilligen, mit mittelalterlicher | |
Polyphonie operierenden Elektronik-Kompositionen bekannt. Auch sein | |
Soloalbum „Kyiv Eternal“ (2023), für das er Feldaufnahmen aus der | |
ukrainischen Hauptstadt der Vorkriegszeit verarbeitete, sorgte | |
international für Aufsehen. Shmurak lebt und arbeitet immer noch in Kyjiw | |
als klassisch am Konservatorium ausgebildeter Komponist und Pianist, der | |
inzwischen mit Experimenten arbeitet, aber dabei vorwiegend akustische | |
Instrumente nutzt. Wie im Track „Heartily“ deutlich zu hören ist, setzt er | |
auch gerne Ironie als Stilmittel ein. | |
Auf ihrem Duo-Album prallen konträre Vorstellungen von Musikstilen, | |
Stimmungen und Sprachen aufeinander und verschmelzen zu etwas einzigartigem | |
Dritten. Der Albumtitel spielt auf das Motiv aus Richard Wagners Oper | |
„Tristan und Isolde“ an – die Liebe der beiden Protagonist:innen ist im | |
hiesigen Leben nicht möglich, und so können sie nur im Tod zusammen sein. | |
Direkte musikalische Referenzen zu Wagner gebe es allerdings keine, erklärt | |
Shpudeiko der taz. „Das ist eine abstrakte Idee, die alle Lieder des Albums | |
vereint.“ | |
Die ambivalente Stimmung zwischen überschwänglicher Liebe und einer | |
Sehnsucht nach dem Tod, als Mischung extremer Gefühle in unsicheren Zeiten, | |
bestimmt den Sound des gesamten Albums. Shpudeiko verantwortet die | |
Electronics, während Shmurak singt, Klavier, Cembalo und MIDI-Keyboard | |
spielt. | |
## Opfer des Stalinismus | |
Neben Masepas Worten finden sich auf dem Album auch Gedichte des | |
ukrainischen Dichters Wolodymyr Swidsinskyj, der 1941 wie viele andere | |
ukrainische Kulturschaffende im Zuge der Stalinistischen Repression | |
ermordet wurde. Zitiert werden auch Verse des romantischen britischen | |
Dichters John Keats. | |
Ein halbes Jahr vor Beginn der russischen Großinvasion seien Shpudeiko und | |
er von der Labelgründerin Sasha Andrusyk darauf angesprochen worden, dass | |
sie gemeinsam ein Album aufnehmen sollten, berichtet Shmurak der taz. Die | |
Arbeit daran begann direkt im Sommer 2021 in Kyjiw, fertiggestellt wurde | |
die Musik dann nach Kriegsausbruch. | |
Jüngst veröffentlichte das Label Kyiv Dispatch sein zweites, ebenfalls | |
hochemotionales und absolut hörenswertes Album: „Limbo“. Die Sopranistin | |
Viktoriia Vitrenko gab bei verschiedenen Komponist:innen, darunter Agata | |
Zubel, Liederzyklen in Auftrag, die sie ihrer Kollegin und Freundin, der | |
belarussischen Flötistin und Oppositionspolitikerin Maria Kalesnikava, | |
widmet. | |
## Sorge um Kollegin | |
Kalesnikava wurde im Herbst 2020 wegen ihres Protests gegen das | |
diktatorische Lukaschenko-Regime zu elf Jahren Haft verurteilt. Über | |
längere Zeit war nicht einmal bekannt, ob sie überhaupt noch am Leben ist. | |
Die Sorge um ihre Kollegin, aber auch die Ungewissheit, die Verzweiflung, | |
ausgelöst vom Krieg, all das bringt Vitrenkos variantenreiche Stimme | |
kunstvoll zum Ausdruck. | |
[1][Eine zentrale Rolle in der experimentellen Musiklandschaft der Ukraine | |
nimmt das Label Muscut mit seinem Sublabel Shukai ein], das sich auf | |
Deutsch mit dem Imperativ „Suche“ übersetzen lässt. Shukai versteht sich | |
als Archiv des ukrainischen Underground, entdeckt und veröffentlicht | |
spannende und ultrarare Tapes aus der Zeitspanne der 1960er bis 1990er | |
Jahre. | |
Es kann als Wunder bezeichnet werden, aber am 7. März feierte Muscut | |
immerhin seinen 13. Geburtstag und gab zugleich bekannt, mit dem jazzigen | |
Tape „Love Fidelity or Hiss Goodbye“ des mittlerweile in Tallinn im Exil | |
lebenden Labelgründers Dmytro Nikolaienko sein letztes Album zu | |
veröffentlichen. Nikolaienko schrieb auf Instagram: „Ja, wir haben uns | |
entschlossen, neue Veröffentlichungen einzustellen und in unseren geliebten | |
Archivmodus zu wechseln.“ Das Sublabel Shukai werde entsprechend die | |
Wühlarbeit fortsetzen und hoffentlich noch viele weitere Perlen ausfindig | |
machen. | |
## Schätze aus dem Klangarchiv | |
In Kooperation mit Shukai erschien auf Vinyl und digital im vergangenen | |
Herbst bei den US-Reissue-Spezialisten von Light in the Attic Records aus | |
Seattle die viel beachtete Kompilation „Even the Forest Hums: Ukrainian | |
Sonic Archives 1971-1996“. Darauf ist in chronologischer Reihenfolge | |
ukrainische Musik aus der sowjetischen und frühen postsowjetischen Periode | |
mit insgesamt 18 Songs vertreten – Folk, Rock, Jazz und Elektronik aus dem | |
Underground. | |
Eröffnet wird das Album mit dem Song „Bunny“ der Folk-Rocker Kobza, einem | |
instrumentalen Walzer, der Elemente aus Progrock, ukrainische Folklore und | |
Jazz miteinander fusioniert. Bekannter dürften die ebenfalls auf der | |
Compilation vertretene Musikerin Svitlana Nianio und ihre von 1988 bis 1993 | |
aktive Band „Cukor Bila Smert'“ (Zucker Weißer Tod) sein. Alben von ihr und | |
ihrer Band wurden auch schon zuvor bei Shukai veröffentlicht. | |
Das Cover des Doppelalbums ist auf der Vorder- und Rückseite mit jeweils | |
einem Werk der ukrainischen Volkskünstlerin Marija Prymatschenko | |
illustriert. Die Arbeit an dem Projekt war schon vor der Großinvasion in | |
Gange. Geplant war ursprünglich ein Werk mit Songs sowohl von ukrainischen | |
als auch russischen Künstler:innen. | |
## Spenden für den Wiederaufbau | |
„Was als breiterer Überblick über eine klanglich unterrepräsentierte Region | |
begann, wurde plötzlich zu einem ziemlich kontroversen Projekt“, | |
[2][erklärt der Gründer von Light in the Attic, Matt Sullivan.] Also habe | |
man beschlossen, sich auf ukrainische Musik zu konzentrieren. Ein Teil des | |
Erlöses aus den Albenverkäufen fließt an die NGO „Livyj Bereh“, die beim | |
Wiederaufbau vom Krieg zerstörter Häuser in der Ukraine hilft. | |
[3][Auch der in Kyjiw lebende US-Kurator und Künstler Clemens Poole sammelt | |
mit seinem Noise-Label „Kyivpastrans“ Spenden]. Mittlerweile | |
veröffentlichte er schon vier Kassetten seines Projekts „Drones for Drones“ | |
mit Stücken ukrainischer und internationaler experimenteller Musiker:innen, | |
darunter auch von Shmurak. Von den Erlösen beim Verkauf der Tonträger | |
werden im Krieg dringend benötigte Drohnen für ukrainische Soldaten | |
gekauft. | |
Diese spielen eine immer größere Rolle an der Front und sind | |
vergleichsweise günstige wie effektive Waffen. Labelgründer Poole wird wie | |
auch die NGO „Livyj Bereh“ am diesjährigen ukrainischen Pavillon der | |
Architekturbiennale in Venedig beteiligt sein, der unter dem Motto „Dakh – | |
vernacular hardcore“ steht. Das ukrainische Wort „Dakh“ leitet sich vom | |
deutschen Wort Dach ab. | |
## Quadrokopter löten | |
Die Ausstellung im Pavillon ist dem Wiederaufbau vom Krieg zerstörter | |
Gebäude gewidmet, „hardcore“ ist im ursprünglichen Sinn als Baumaterial zu | |
verstehen. Poole wird eine immersive Soundinstallation beitragen, die von | |
selbstgebauten FPV-Drohnen der Grassroots-Initiative „Klyn Drones“ | |
inspiriert ist. Die Freiwilligen dieser Initiative löten, wie mittlerweile | |
viele Ukrainer:innen in ihrer Freizeit, selbst kleine Quadrokopter | |
zusammen, die dann an der Front von Soldaten mit Sprengsätzen ausgestattet | |
werden und als Kamikaze-Drohnen gegen die russische Armee eingesetzt | |
werden. | |
Blumenhändlerin und Klyn-Drones-Gründerin Kseniia Kalmus schreibt auf | |
Instagram in ihrer Bio: „Um nicht zu weinen, sammle ich für Drohnen“. | |
2 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Experimentalmusik-aus-der-Ukraine/!5998675 | |
[2] /Werkschau-Haruomi-Hosono/!5552035 | |
[3] /Drone-Musik-aus-der-Ukraine/!6035271 | |
## AUTOREN | |
Yelizaveta Landenberger | |
## TAGS | |
Ukraine | |
Neue Musik | |
Solidarität | |
Experiment | |
Sowjetunion | |
Social-Auswahl | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Kunstmuseum Wolfsburg | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Belarus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kunst aus Ukraine und Ostdeutschland: Suche nach Identität | |
In der Chemnitzer Ausstellung „Woraus wir gemacht sind“ trifft ukrainische | |
auf ostdeutsche Kunst. Die Verbindung stimmt nachdenklich, geht aber auf. | |
Ausstellung „Im Angesicht des Krieges“: Barfuß durch eine verwüstete Land… | |
Die Künstlerin Iryna Vorona führte ein Tagebuch in Bildern, als russische | |
Truppen ihre Stadt besetzten. Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt einige davon. | |
Abkommen zwischen USA und Ukraine: Plötzlich wieder Freunde | |
Der Rohstoffdeal soll den Wiederaufbau der Ukraine regeln und den USA | |
Vorrechte auf seltene Erden sichern. Ein Zeichen der Annäherung zwischen | |
beiden Ländern? | |
Drone-Musik aus der Ukraine: Experimente und Gräueltaten | |
Drones für Drohnen: Ein Avantgarde- und Noise-Musik-Fundraisingprojekt vom | |
Label Kyivpastrans aus der Ukraine. | |
Experimentalmusik aus der Ukraine: Im Untergrund der bröckelnden UdSSR | |
Die Label Shukai und Muscut betreiben eine Archäologie des Sounds aus der | |
Ukraine und finden die wunderbare Musik der 1980er und 90er. | |
Politische Gefangene in Belarus: Maria, der Kampf geht weiter | |
Folter, Isolationshaft, inhumane Verhältnisse. Bei einem Pressetermin in | |
Berlin wird an die Situation politischer Gefangener in Belarus erinnert. |