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# taz.de -- Indischer Schriftsteller Pankaj Mishra: „Gaza hat die westliche G…
> Aus globaler Perspektive sei der Gazakrieg eine größere Zäsur als
> Russlands Angriffskrieg, sagt der indische Intellektuelle Pankaj Mishra.
> Warum?
Bild: In Neu-Delhi wird eine propalästinensische Demonstrantin von der Polizei…
taz: Herr Mishra, in Deutschland gilt der russische Krieg gegen die
Ukraine als „Zeitenwende“. Sie sehen das anders, warum?
Pankaj Mishra: Für viele Menschen außerhalb Europas und der USA ist dieser
Krieg kein Wendepunkt. Russland fühlt sich schon lange von der Nato bedroht
und dass es unter einem zunehmend paranoiden Präsidenten wie Wladimir Putin
in die Ukraine einmarschiert ist, um ein Exempel zu statuieren, kam nicht
überraschend. Das hat sich lange angebahnt.
taz: Putin griff ein unabhängiges Land an und verschiebt Grenzen mit
Gewalt. Das ist ein Angriff auf eine Weltordnung, die auf dem Völkerrecht
gründet. Das soll keine Zäsur sein?
Mishra: Keine Frage, das ist ein Verbrechen. Aber es gibt noch ein anderes
Land, das seine Grenzen mit Gewalt verschiebt, seine [1][Siedlungen im
illegal besetzten Westjordanland seit Jahren ausbaut] und weitere Gebiete
im Gazastreifen, im Libanon und in Syrien besetzt. Deutschland unterstützt
diesen Staat und ist sein zweitgrößter Waffenlieferant. Wie bringt es das
mit seiner angeblichen Sorge um das Völkerrecht unter einen Hut?
taz: [2][In Ihrem Buch „Die Welt nach Gaza“ beschreiben Sie den Krieg in
Gaza als den eigentlichen globalen Wendepunkt.] Wie kommen Sie zu diesem
Schluss?
Mishra: Russland unter Wladimir Putin ist kein Land, zu dem irgendjemand in
der Welt je aufgeschaut hat, wenn es um internationale Normen ging. Aber
Menschen auf der ganzen Welt haben auf Westeuropa und die USA geschaut,
weil diese zumindest vorgaben, [3][ein gewisses Maß an Achtung vor dem
Völkerrecht zu haben]. Wenn diese Länder offen gegen die Prinzipien
verstoßen und das unterstützen, was respektable Organisationen wie Human
Rights Watch und Amnesty International und anerkannte Wissenschaftler wie
Omar Bartov als Völkermord bezeichnen, dann ist das eine viel größere
historische Zäsur als Putins Einmarsch in der Ukraine.
taz: Wie wird der Gazakrieg zum Beispiel von China aus betrachtet? Auch als
eine Zäsur?
Mishra: Ja, denn der Krieg in Gaza hat die westliche Glaubwürdigkeit
komplett untergraben. China geht als großer geopolitischer Gewinner aus
diesem Fiasko hervor.
taz: Sie waren 2008 in Israel und im Westjordanland unterwegs und nennen
diese Reise in Ihrem Buch einen persönlichen Wendepunkt. Warum?
Mishra: In vielen Ländern des globalen Südens wächst man mit dem
Bewusstsein auf, dass die weißen, westlichen Nationen lange Zeit große
Teile der Welt ausgebeutet und unterdrückt haben und sehr reich und mächtig
wurden, indem sie dort Land und Reichtum stahlen. Man betrachtet Rassismus,
Faschismus und Imperialismus als zusammengehörig. Wenn man mit diesem Blick
nach Israel reist und sieht, wie ein Land, das von allen weißen westlichen
Industrienationen unterstützt wird, eine indigene Bevölkerung ausbeutet,
vertreibt, foltert und tötet, dann fühlt man sich daran erinnert.
taz: Sie unterstellen Israel also Rassismus?
Mishra: Es ist kein Zufall, dass Südafrika vor dem Internationalen
Gerichtshof gegen Israel klagt. Es verbindet seinen eigenen Kampf gegen die
Apartheid mit dem Kampf der Palästinenser. Das ist ein Wendepunkt in den
Beziehungen zwischen dem globalen Süden und dem Norden, und Südafrika geht
damit ein großes Risiko ein. Es wird von den Vereinigten Staaten bereits
dafür bestraft.
taz: Viele Israelis sind allerdings nicht weiß, [4][sondern stammen aus dem
Nahen Osten]. Jüdinnen und Juden sind gerade in westlichen Gesellschaften
jahrhundertelang diskriminiert worden.
Mishra: Rassismus hat nicht nur mit der Hautfarbe zu tun, sondern mit einer
Hierarchie, die immer wieder neu geschaffen wird. „Weißsein“ ist keine
feste Kategorie, sie verändert sich immer wieder. Italiener, Griechen oder
Iren galten in den USA lange nicht als echte Weiße, das gilt auch für
Juden. Heute gehört Israel fraglos zum Westen. Dass ein großer Teil der
Israelis heute aus Ländern des Nahen Osten stammt, ist dabei nebensächlich.
Wichtiger ist: Das Land steht für ein System der weißen Vorherrschaft. So,
wie auch indischstämmige US-Politiker wie Nikki Haley oder [5][Vivek
Ramaswamy] für eine weiße Vorherrschaft stehen.
taz: Sie sind in Indien geboren, dort identifizieren sich viele mit
Israel. Rechtsextreme Hindus bilden den weltweit größten Fanclub Benjamin
Netanjahus. Warum?
Mishra: Ethno-Nationalisten, Wahnsinnige und Fanatiker auf der ganzen Welt
bewundern Israel: Nicht nur Hindu-Nationalisten in Indien, sondern auch
Javier Milei und Jair Bolsonaro in Südamerika oder Rechtsradikale wie
Victor Orbán, Matteo Salvini und Marine Le Pen in Europa. Israel zeigt
ihnen, wie man sich über das Recht hinwegsetzen und völlig ungestraft davon
kommen kann. Das gefällt ihnen. Sie würden es gerne nachahmen.
taz: Aber was verbindet Hindu-Nationalisten mit dem christlichen
Nationalismus westlicher Rechtsradikaler? Diese schauen doch auf Hindus
wahrscheinlich genau so herab wie auf Muslime.
Mishra: Islamophobie ist ein verbindendes Element. Aber viele Inder, die
auch große Fans von Donald Trump sind, haben keine Ahnung, wie er Indien
sieht. Er hält es vermutlich für ein „shithole country“, ein Scheißland.
Aber seine brutale, rohe Macht übt eine starke, pubertäre Faszination aus.
taz: Zurück zu Israel. Sie schreiben, dass viele jüdische Intellektuelle in
der Diaspora ein ambivalentes Verhältnis zum jüdischen Staat hatten. Wie
sieht das heute aus?
Mishra: Leute wie Primo Levi, Hannah Arendt und andere, die ich zitiere,
sahen, dass Israel immer stärker, aggressiver und expansionistischer wurde,
und haben das Land deshalb scharf kritisiert. Es gibt immer noch jede Menge
jüdische Schriftsteller und Intellektuelle, die dagegen protestieren. Aber
sie bekommen in den Medien nicht so viel Platz und Aufmerksamkeit.
taz: Vom [6][Massaker der Hamas am 7. Oktober] fühlten sich viele Juden
weltweit persönlich betroffen. Ist das nicht verständlich?
Mishra: Wenn ein Land oder ein Volk auf diese Weise angegriffen wird, dann
führt das dazu, dass sich die Reihen schließen. Wenn man sich als
Gemeinschaft angegriffen fühlt, dann fühlt man sich in seiner
Gruppenidentität bestärkt. So ging es auch vielen Menschen, die nach dem
11. September 2001 als Muslime angefeindet wurden. Aber solche Gefühle
lassen nach. Etwa, wenn man nicht nur die schrecklichen Dinge sieht, die am
7. Oktober passiert sind – sondern auch, was danach passiert ist.
taz: Sie schreiben in Ihrem Buch von einem „Missbrauch der Erinnerung an
die Shoah“. Was soll das heißen?
Mishra: Es gibt ein bestimmtes Bild von Israel, darin erscheint das Land
schwach und belagert, ständig von einem neuen Holocaust bedroht. Israel
verbreitet dieses Bild von sich weltweit nach Kräften. Und obwohl es
unverhältnismäßig viel Macht, Atomwaffen und die stärkste Armee der Region
besitzt, verfängt das bei manchen.
taz: Aber Israel ist auch ein sehr kleines Land. Seine Sicherheit gilt in
Deutschland als „Staatsräson“. Halten Sie das für falsch?
Mishra: Die Deutschen von heute sollten ihre Perspektive erweitern und sich
mit ihrer Geschichte von Rassismus und Imperialismus auseinandersetzen. Sie
könnten mit der Lektüre von Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft“ beginnen. Darin schreibt sie, wie der Diskurs der
Entmenschlichung seine Wurzeln in der Art und Weise hat, wie im 19.
Jahrhundert über die Eingeborenen in den Kolonien gesprochen wurde. Auch
die Geschichte der Konzentrationslager fängt nicht in Deutschland an.
taz: Sie halten den Holocaust nicht für ein singuläres Verbrechen?
Mishra: Es gibt Aspekte des Holocausts, die singulär waren, etwa der Bau
von Gaskammern. Aber man kann den Nationalsozialismus und den Holocaust
nicht aus einer langen Geschichte des Imperialismus und der rassistischen
Gräuel herauslösen und trennen.
taz: Viele würden einwenden, dass dadurch der Holocaust relativiert werde.
Mishra: Die Deutschen stehen mit dieser Interpretation des Holocausts
ziemlich allein. Ich denke auch nicht, dass ausgerechnet Deutsche anderen
Leuten sagen sollten, welche Lehren man aus ihrem Völkermord ziehen sollte.
Das ist ziemlich anmaßend.
taz: Sie nennen den Krieg in Gaza ein „Gemetzel industriellen Ausmaßes“.
Ziehen Sie damit nicht eine Parallele zum Holocaust?
Mishra: An keiner Stelle in meinem Buch ziehe ich diesen Vergleich! Aber
wollen Sie das Ausmaß von Tod und Zerstörung im Gazastreifen leugnen? Das
ist ein Ablenkungsmanöver, um sich nicht den Realitäten stellen zu müssen.
Wenn Deutsche so sehr auf der Besonderheit des Holocausts beharren, erregt
das den Verdacht, dass es ihnen um etwas ganz anderes geht – zum Beispiel
darum, Waffen an Israel zu verkaufen und sich zugleich tugendhaft und rein
zu fühlen. Daher rührt die Obsession mit diesem Thema.
taz: Sie sprechen von Obsession, andere von historischer Verantwortung.
Mishra: Ich bin, wie viele Menschen auf der Welt, entsetzt über das
Anschwärzen von Andersdenkenden in Deutschland, die Absagen von
Veranstaltungen und die Polizeigewalt gegen propalästinensische
Demonstranten. Vielen Deutschen ist wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie
sehr ihr Land in der Welt dadurch an Ansehen verloren hat. Die Aussage der
deutschen Kulturstaatsministerin, sie habe bei der Berlinale nur für den
israelischen Dokumentarfilmer geklatscht, war erbärmlich und hat die ganze
Mittelmäßigkeit der deutschen politischen und medialen Klasse offenbart.
taz: Ist Deutschland in dieser Frage wirklich so anders als die USA oder
Großbritannien?
Mishra: Die Härte des deutschen Vorgehens insbesondere gegen jüdische
Kritiker Israels ist ziemlich außergewöhnlich. Viele dachten, Deutschland
fühle sich Jüdinnen und Juden in aller Welt gegenüber historisch
verantwortlich. Wie kann es dann sein, dass hier Masha Gessen gecancelt
wurde? Warum werden Vorträge von Eyal Weizman abgesagt? Warum wurde der
jüdische Fotokünstler Adam Broomberg in Hamburg aus seiner Hochschule
rausgeworfen? Das ist alles sehr verstörend.
taz: Welche Rolle spielen Deutschland und Europa in der veränderten
Weltordnung?
Mishra: Die Entfremdung von den USA böte Europa die Möglichkeit, seinen
Widerstand gegen Russland und den Putinismus mit einer prinzipiellen
Ablehnung von Rassismus und Imperialismus überall zu verbinden. Aber wir
wissen: Das wird nicht passieren. Friedrich Merz hat Benjamin Netanjahu
trotz des Haftbefehls gegen ihn nach Deutschland eingeladen. Das lässt
ahnen, in welche Richtung er sich bewegen wird. Und Kaja Kallas, die
Außenbeauftragte der EU, sagt, die freie Welt bräuchte einen neuen
Anführer. Aber man kann kein Anführer der freien Welt sein, wenn man einen
Völkermord unterstützt.
20 May 2025
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Daniel Bax
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