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# taz.de -- Jurist über geschlossene Jugendheime: „Freiheit darf man nicht p…
> Eine längerfristige, geplante geschlossene Unterbringung von Jugendlichen
> hält Sozial- und Rechtswissenschaftler Thomas Trenczek für nicht
> zulässig.
Bild: Wie im Gefängnis: Hof einer geschlossenen Unterbringung für Jugendliche…
taz: Herr Trenczek, wann ist geschlossene Unterbringung (GU) in
Jugendheimen verboten?
Thomas Trenczek: Nicht ausreichend sind zum Beispiel Eigentumsdelikte oder
insbesondere [1][jugendtypisches delinquentes Verhalten]. Die in der Praxis
dokumentierten Anlässe wie Delinquenz, Schulabsenz, Weglaufen oder auch
Aggressivität, Erziehungsprobleme, Alkohol- und Drogengefährdung
legitimieren als solche keine freiheitsentziehenden Maßnahmen in der
Kinder- und Jugendhilfe, weil diese gerade nicht im Gesetz stehen.
taz: Sie publizierten 2024 in der [2][Zeitschrift für Jugendkriminalrecht
und Jugendhilfe] einen Fachaufsatz, in dem es heißt, Freiheitsentzug zur
Erziehung sei unzulässig.
Trenczek: Genau. Das ist weder nach den Normen des Sozialgesetzbuchs VIII
(SGB VIII) noch nach dem häufig zitierten Paragraf 1631b des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB) zulässig. Auch eine sogenannte geschlossene Unterbringung
zum Zweck der Sanktionierung lässt das SGB VIII oder das BGB nicht zu. Das
ginge nur bei einer Entscheidung nach Jugendstrafrecht, die allerdings
nicht „zur Erziehung“ verhängt wird.
taz: Warum ist das so?
Trenczek: Es ist hinreichend belegt, dass freiheitsentziehende Maßnahmen
junge Menschen schwer und nachhaltig in ihrer Entwicklung schädigen können.
Aber entscheidend ist, dass unsere Verfassung Regeln für den
Freiheitsentzug aufstellt. Zudem gilt auch nach der
UN-Kinderrechtskonvention der Vorrang des Kindeswohls. Das Gesetz regelt
klar, wann es zulässig ist und wann nicht. Zudem gilt bei staatlichen
Interventionen stets das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere
[3][eingreifende Maßnahmen] müssen stets insbesondere geeignet und
erforderlich sein, das heißt, das vorgegebene Ziel erreichen können und
keine weniger eingreifende Maßnahmen möglich sein.
taz: Wann wäre es denn rechtens?
Trenczek: Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe
sind nach dem Gesetz nur bei einer nicht anders abwendbaren, erheblichen
Selbst- oder Fremdgefährdung für Leib und Leben zulässig. Eigen- und
Fremdgefährdung meint also nicht irgendwie eine ungünstige
Entwicklungsprognose, sondern es bezieht sich auf die körperliche
Unversehrtheit. Und die Gefahr muss erheblich sein. Zum Beispiel dieses
Aufzugsurfen, bei dem die Jugendlichen auf einen Aufzug in Hochhäusern
springen, oder der völlige Kontrollverlust bei Drogengebrauch, wenn die
kurz vorm goldenen Schuss stehen. Umstritten ist es schon bei der
Prostitution. Es geht um eine erhebliche körperliche Schädigung und
Lebensgefahr. Nicht selten sind Eigen- und Fremdgefährdung eng verknüpft.
Bei illegalen Autorennen etwa gefährdet ein Jugendlicher sich und andere.
taz: Ein Fall für die geschlossene Unterbringung?
Trenczek: Nur bei extremer Leib- und Lebensgefahr, wenn es wirklich keinen
anderen Weg gibt. Freiheit darf man nicht präventiv entziehen. Denn
Grundgesetz und BGB setzen hier voraus, dass die Gefährdung zeitlich akut
und so erheblich sein muss, dass sie nicht anders abgewendet werden kann.
Gibt es also andere Mittel, sind freiheitsentziehende Maßnahmen nicht
zulässig.
taz: Es könnten mehrere Pädagogen den Jugendlichen in Freiheit betreuen.
Trenczek: Genau. Das Prinzip [4][Menschen statt Mauern] ist bekannt.
Zumindest eine längerfristige, geplante geschlossene Unterbringung aus
„erzieherischen Gründen“ ist nicht zulässig. Die Kinder- und Jugendhilfe
hat auch in extremen Krisen die Pflicht, eine weitere Gefährdung ohne
Einschließen abzuwenden, etwa durch personalintensive sozialpädagogische
Betreuung. Nur scheint das vielen oft zu mühsam oder teuer. Ich sage es
einmal andersherum: Menschen statt Mauern ist nicht nur verfassungs- und
sozialrechtlich richtig und sozialpädagogisch sinnvoll, es ist auch bei den
wenigen Fällen im Jahr, in denen diese Bedingungen zutreffen, allemal
ökonomischer als ein bundesweites System geschlossener Einrichtungen. Zumal
diese ihren Zweck, das Weglaufen zu verhindern oder eine erzieherische
Erreichbarkeit zu gewährleisten, gar nicht sicherstellen. Das ist alles
hinreichend belegt.
taz: Warum hat der „Arbeitskreis G14plus“ der Einrichtungen, die
geschlossen unterbringen, Sie dann auf seiner Internetseite als Befürworter
des Freiheitsentzugs zitiert?
Trenczek: Das war wohl ein Irrtum.
taz: Dort stand, Freiheitsentziehung wäre berechtigt, um „die Anwesenheit
des Minderjährigen für die notwendige sozialpädagogisch therapeutische
Arbeit sicherzustellen“.
Trenczek: Diese Textstelle stammt nicht von mir. Eine Kommission der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hatte dies zu Beginn der
1990er in einem Protokoll so formuliert. Ich hatte dieses als fehlerhaft
zitiert, doch wurde mir diese These von dem Arbeitskreis zugeschrieben. Die
Aussage ist aber hochproblematisch, weil sie außergesetzliche Kriterien
zugrunde legt. Diese Zweckbestimmung steht nirgendwo im Gesetz und ich
vertrete das nicht.
taz: Aber man hat das so zitiert.
Trenczek: Mittlerweile hat sich der Verein für das falsche Zitat
entschuldigt und eine entsprechende Unterlassungserklärung unterzeichnet.
Inzwischen wird wohl auch dort nicht bezweifelt, dass freiheitsentziehende
Maßnahmen zu schweren Entwicklungsschädigungen führen können. Es gibt aber
verschiedene Sichtweisen, wann ein Fall bei Selbst- und Fremdgefährdung so
akut und schlimm ist und ob noch was anderes hilft. Das kann man in
konkreten Einzelfällen mitunter streitig diskutieren. Aber es gibt leider
sehr viele unseriöse Äußerungen in Öffentlichkeit und Politik.
taz: Sie schreiben, es gibt so wenig Fälle, die eigneten sich nicht zur
Legitimation einer institutionellen Regelpraxis?
Trenczek: Es gibt viele Fälle, in denen bezweifelt werden muss, dass
hinreichend geprüft wurde, ob es Alternativen gibt. Das belegt unter
anderem auch eine unlängst veröffentlichte Evaluation der Universität
Halle, die extrem viele Verfahrensfehler feststellt. In nur 17,4 Prozent
gab es Nachweise, dass die Familiengerichte überhaupt geprüft haben, ob
mildere Mittel möglich sind. Das ist eine rechtsstaatliche Katastrophe.
Insofern sorge ich mich über einen Ausbau eines Systems der sogenannten
geschlossenen Unterbringung. Denn es ist empirisch belegt, dass freie
Plätze einen Sog auslösen. Die werden auch mit jungen Menschen gefüllt, die
dort nicht hingehören. Ich habe großen Respekt vor Kolleginnen und
Kollegen, die sich in Fällen einer extrem lebensgefährlichen
Selbstgefährdung nicht anders zu helfen wissen, als den jungen Menschen
festzuhalten. Aber wenn ich sage, es kann im extremen Einzelfall
gerechtfertigt sein, einen jungen Menschen durch Freiheitsentziehung vor
dem Tod zu retten, dann ist es keine Blaupause für ein System geschlossener
Unterbringung, sondern es ist ein Dilemma.
taz: Lässt sich ein einziges solches Heim legitimieren?
Trenczek: Gehen wir davon aus, dass es wenige 100 Fälle in der
Bundesrepublik gibt, die sich so extrem zuspitzen, muss es eine Möglichkeit
geben, mit den jungen Menschen adäquat umzugehen. Ich sage, das passiert am
besten in der Einrichtung, wo sie leben, in der man sich mit einem hohen
Personalaufwand rund um die Uhr um sie kümmert. Auch der „Arbeitskreis G14
plus“ sagt mittlerweile, die Freiheitsentziehung darf nur durchgeführt
werden, um Leib und Leben zu schützen. Aber in der öffentlichen Diskussion
tritt oft ein rigoroser Pragmatismus zutage, der auf Grundrechte wenig
Rücksicht nimmt. Da wird schnell flächendeckende geschlossene Unterbringung
gefordert. Und sind die Plätze erst mal da, werden sie gefüllt.
taz: Hamburg plant seit einigen Jahren [5][mit Casa Luna eine Einrichtung
der Jugendhilfe] an der Schnittstelle zur Psychiatrie, in der auch Kinder
nach Paragraf 1631b BGB aufgenommen werden können. Wäre dies rechtlich
legitim?
Trenczek: Das kann ich nicht beantworten. Ich kenne die konzeptionellen
Grundlagen nicht genau. In der Psychiatrie kann nach dem
Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) beziehungsweise Unterbringungsgesetz
(UBG) eine freiheitsentziehende Maßnahme durch eine medizinische Indikation
legitimiert sein.
taz: Es soll Jugendhilfe sein.
Trenczek: Dort sind die gesetzlichen Regelungen des SGB VIII und BGB
einzuhalten. Und da – ich wiederhole mich – legitimiert der Gesetzgeber
Freiheitsentziehung nur bei akuter Krisenintervention zur Verhinderung
einer nicht anders abwendbaren erheblichen Leib- und Lebensgefahr. Eine
längerfristig geplante geschlossene Unterbringung aus Gründen der Erziehung
oder was auch immer ist nicht zulässig. Was die Psychiatrie zur Abklärung
von medizinischen Indikationen tut, richtet sich nicht nach dem SGB VIII
und deswegen kann auch die Psychiatrie den nach PsychKG/UBG gegebenenfalls
öffentlich-rechtlich zulässigen Freiheitsentzug nicht in Einrichtungen der
Kinder- und Jugendhilfe durchführen.
taz: Es heißt, die Fachwelt sei bei der geschlossenen Unterbringung tief
gespalten?
Trenczek: Das sehe ich nicht so. Auch „G14plus“ bestreitet nicht, dass
freiheitsentziehende Maßnahmen nur zur Abwendung einer aktuellen Leib- und
Lebensgefahr zulässig sind. Einige Personen scheinen nur die Situation im
Einzelfall mitunter anders zu bewerten. Manche sagen: „Wir stehen in diesen
Extremfällen vor einem Dilemma und wissen nicht, was wir sonst tun können,
weil wir wenig Mittel haben. Wenn das Label ‚geschlossen‘ heißt, dann wird
das eher und mehr finanziert.“ Das ist ein Armutszeugnis, für die
Verantwortlichen und eines Rechtsstaats unwürdig.
1 Apr 2025
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## AUTOREN
Kaija Kutter
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