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# taz.de -- Weltraumschrott: Unendlich vermüllte Weiten
> Um die Erde kreist immer mehr Müll. Ist das gefährlich? Und wer macht das
> wieder weg? Die wichtigsten Fragen von Friedhofsbahnen bis
> Aufräumrobotern.
Bild: Weltraumschrott wieder zuhause: ein abgestürztes Raumschiff in Russland …
Der gefährlichste Handschuh der Geschichte war ein weißes, optisch
unaufdringliches Exemplar. Der Astronaut Edward White verlor ihn 1965 beim
Aufbruch zu einem Weltraumspaziergang, und einmal aus der offenen Luke des
Raumschiffs geschwebt, raste der Handschuh mit 28.000 Kilometern pro Stunde
um die Erde. Bei solchen Geschwindigkeiten kann selbst so ein banaler
Gegenstand zur tödlichen Waffe werden – oder Satelliten und Raumschiffe
beschädigen.
Glücklicherweise verglühte der Handschuh einen Monat später in der
Atmosphäre, ohne großen Schaden anzurichten. Dennoch warf er so einige
Fragen zum Umgang mit menschlichem Müll im All auf, die seitdem immer
drängender geworden sind.
Fangen wir ganz grundsätzlich an: Was genau ist überhaupt Weltraumschrott?
Unter [1][Weltraumschrott] oder Weltraummüll versteht die Europäische
Weltraumorganisation (ESA) unbrauchbare menschengemachte Objekte, die die
Erde umkreisen. Das können ausgediente Satelliten, ausgebrannte
Raketenstufen, aber auch kleine Metallteile und Farbpartikel sein, oder
eben ein Handschuh.
Radaranlagen und Teleskope beobachten nur den Schrott regelmäßig, der etwa
10 Zentimeter oder größer ist. Die ESA schätzt die Anzahl dieser großen
Schrottteile auf über 40.000. Kleinerer Müll ist komplizierter aufzuspüren,
da er nicht mit Teleskopen oder Radaranlagen erfasst werden kann. Um seine
Häufigkeit zu messen, sind andere Methoden nötig. So bringen zum Beispiel
Astronaut:innen beim Austausch von Solarmodulen [2][an
Weltraumteleskopen] die alten Solarmodule zurück zur Erde, wo sie im Labor
auf Einschläge untersucht werden. Mit diesen Stichproben und statistischen
Modellen lassen sich dann Hochrechnungen erstellen. Nach der letzten
Schätzung der ESA für das Jahr 2024 kreisen um unsere Erde mehr als 130
Millionen Trümmerteile, die kleiner als ein Zentimeter sind.
Ist dieser kosmische Müll denn ein Problem?
Wie beschrieben, kann er die Sicherheit von Astronaut:innen, Raumschiffen
und Satelliten gefährden. Und dass er das tut, wird zunehmend
wahrscheinlicher. Erstmals beschrieben hat das der US-amerikanische
Forscher Donald Kessler. Sein Kessler-Effekt ist im Grunde eine logische
Annahme: Je mehr Schrottteile es gibt, desto häufiger kommt es zu
zufälligen Kollisionen, aus denen wiederum mehr Schrottteile entstehen, die
wiederum mit erhöhter Wahrscheinlichkeit miteinander kollidieren können.
Eine kosmische Kettenreaktion.
Dass Kesslers Theorie keine Science-Fiction ist, zeigen zwei Zwischenfälle
in den 2000er Jahren. 2007 brachte China eine Rakete auf dieselbe
Umlaufbahn wie ihren [3][Wettersatelliten] und ließ die beiden absichtlich
kollidieren, um den Fortschritt seiner Raketentechnologie zu testen. Dabei
entstand ein riesiges Trümmerfeld. Am Ende des gleichen Jahres schwebten
2.000 größere Objekte mehr im All.
2009 kollidierte ein amerikanischer Satellit mit einem ausrangierten
russischen Satelliten. Es gab zuvor zwar Warnhinweise der Weltraumbehörden,
aber die Umlaufbahnen wurden nicht korrekt berechnet und die Kollision
überraschte die Behörden. Auch hier entstanden rund 2.000 größere Teile aus
einem einzigen Zusammenstoß. Der britische Astronaut Tim Peake schreibt in
seinem Buch „Endet der Himmel, wenn das All beginnt?“, dass die Hälfte
aller Beinahekollisionen im Weltraum ihren Ursprung in diesen beiden
Vorfällen hatte.
Wie gefährdet ist eigentlich die internationale Weltraumstation ISS durch
den Schrott auf der Erdumlaufbahn?
Die ISS ist ungefähr so groß wie ein Fußballfeld und kreist in 400
Kilometer Höhe um die Erde. Sie wurde von den besten Ingenieuren der Welt
entwickelt – man sollte also meinen, dass ein zwei Zentimeter großes
Metallteil der Raumkapsel nicht viel anhaben kann. Aber ein Einschlag ist
ein Risiko, weil die unglaublichen Geschwindigkeiten im Weltraum selbst
kleinste Partikel gefährlicher als Pistolenkugeln werden lassen. Deswegen
hat die ISS Schutzschilde, teilweise aus dem gleichen Material wie
kugelsichere Westen.
Durchdringt dennoch ein Trümmerteil diese Verteidigung, werden alle Luken,
die das getroffene Modul mit den anderen Modulen verbinden, umgehend
geschlossen. Durch den Druckverlust und die Temperaturschwankungen im
Weltraum wird ein Modul mit Einschlagloch nämlich sehr schnell unbewohnbar.
Falls sich das Problem nicht von der ISS aus beheben lässt und droht, außer
Kontrolle zu geraten, wird die Besatzung evakuiert. Dafür steht jederzeit
ein Rettungsraumschiff bereit. Wirklich passiert ist bisher nichts,
allerdings fliegt die ISS immer mal kleinere Ausweichmanöver, wenn
heranfliegender Weltraumschrott rechtzeitig erkannt wird.
Sind Weltraumspaziergänge durch den Schrott gefährlich?
Durchaus – zumal der Schrott ja nicht nur selbst rasend schnell durchs All
fliegt, sondern auf Astronaut:innen trifft, die mit der ISS die Erde in
anderthalb Stunden umrunden. Bei einem Treffer muss man beide
Geschwindigkeiten addieren, um die Energie des Einschlags zu bemessen.
Aber: Das Weltall ist groß und Astronaut:innen sind im Vergleich dazu
winzig klein. Dass sie selbst getroffen werden, fällt in die Kategorie
„hohes Schadenspotenzial, aber extrem unwahrscheinlich“, so der Astronaut
und ehemalige ISS-Bewohner Tim Peake in seinem Buch.
Für den Fall der Fälle verfügt ein Raumanzug über eine ganze Reihe von
Schutzschichten. Einige davon dienen ausschließlich dem Schutz vor
Weltraumschrott. Werden diese durchbrochen, strömt Sauerstoff aus dem Loch
ins All. Die Person im Raumanzug erhält eine Warnung und muss sich zügig
zur Luftschleuse begeben. Ob der Restsauerstoff ausreicht, hängt von der
Größe des Einschlaglochs und der Distanz zur Schleuse ab.
Wie riskant ist der Schrott für uns auf der Erde?
Einiger Weltraumschrott fällt schon jetzt regelmäßig auf die Erde. Denn
grundsätzlich sinken die Teilchen auf erdnahen Umlaufbahnen Richtung Erde
ab. Selbst in 1.000 Kilometer Höhe gibt es nämlich noch eine
Restatmosphäre: Gasmoleküle, die einen Widerstand für alle Objekte bilden,
die dort oben herumfliegen. Dadurch werden sie abgebremst und sinken Stück
für Stück nach unten, bis die meisten von ihnen irgendwann in der
Erdatmosphäre verglühen. Sie verbrennen durch die Reibungshitze in der
dichten Luft.
Hinzu kommt, dass ausgediente Satelliten auf erdnahen Umlaufbahnen gezielt
zurück zur Erde gesteuert werden. Beim Fallen werden auch sie so schnell,
dass sie normalerweise beim Eintreten in die Erdatmosphäre verglühen. Doch
so manches Bauteil besteht aus sehr widerstandsfähigem Material oder ist so
groß, dass es nicht vollständig verbrennt. Wenn möglich, fällt dieser
Schrott auf sogenannte Raumschifffriedhöfe. Der wohl bekannteste ist Point
Nemo, ein Punkt im südlichen Pazifischen Ozean, zwischen Neuseeland und
Südamerika gelegen. Er ist näher an der ISS als am nächsten Festland.
Zu Zeiten des Kalten Krieges fiel einmal ein sowjetischer Satellit, der
radioaktives Material enthielt, auf kanadisches Territorium. Für solche
Fälle gibt es im internationalen Weltraumrecht eine Haftungsklausel, sagt
Jan Siminski, Wissenschaftler beim ESA-Büro für Weltraumsicherheit. „Die
Sowjetunion hat damals dann auch für die Aufräumarbeiten bezahlt.“
Inwieweit kann der Weltraumschrott das Leben auf der Erde noch
beeinflussen?
Ein weiteres Thema sei die [4][Lichtverschmutzung] im Weltall, sagt Jan
Siminski. Die Zahl der Satelliten wächst, und irgendwann gäbe es dann
keinen Nachthimmel mehr, sondern nur noch bewegte Punkte. „Die Astronomen
beschweren sich schon, dass bei ihren Beobachtungen Satelliten durchs Bild
fliegen und die Forschung stören“, sagt der Weltraumforscher.
Außerdem: Mehr Müll und mehr Kollisionen bedeuten auch mehr ausfallende
Satelliten. Dann können wir vorübergehend nicht fernsehen, unsere
Smartphones nicht orten oder sehen nicht, wohin die Regenwolken ziehen.
Kollidierende Satelliten sind heute zwar noch recht selten, aber mit der
zunehmenden Anzahl an Satelliten könnten Ausfälle in Zukunft zum Problem
werden.
Wer muss sich um den Schrott kümmern?
Offiziell niemand. „Es gibt keine einzige Regulation. Das ist der Wilde
Westen“, sagt Jan Siminski. Tatsächlich gibt es keine international
verbindlichen Gesetze, um Weltraumschrott zu vermeiden – lediglich
Empfehlungen, zum Beispiel vom Inter-Agency Space Debris Coordination
Committee (IADC). Dazu zählt etwa, dass ein ausgedienter Satellit nach 25
Jahren entsorgt werden soll, also entweder in die Atmosphäre eintreten und
verglühen soll oder auf die sogenannte Friedhofsbahn gebracht wird. Man
versuche zwar, aus den Empfehlungen Gesetze zu machen, so der
Weltraumforscher. Doch vor allem auf internationaler Ebene habe das bisher
nichts gebracht.
Kann man den Weltraum nicht einfach aufräumen?
Es gibt erste Versuche, über uns für Ordnung zu sorgen. Bei der [5][ESA]
etwa versuche man in einem Pilotprojekt, alte Satelliten einzufangen und
kontrolliert in der Atmosphäre verglühen zu lassen, erklärt Jan Siminski.
Das aber sei teuer und kompliziert. Zunächst muss der Aufräumroboter die
richtige Umlaufbahn erreichen. „Dort dreht sich das Objekt um sich selbst,
das heißt, man muss sich dieser Drehung anpassen, um es mit Roboterarmen
zu stabilisieren.“ Erst dann könnten beide Objekte kontrolliert zurück zur
Erde gebracht werden, wo sie dann verglühen.
Das bedeutet aber auch: Man muss jedes Mal einen neuen Aufräumroboter ins
All schießen. Ein Stück Müll aufzuräumen bedeutet also einen zusätzlichen
Start. Das ergibt nur Sinn für die gefährlichsten Objekte auf den am
meisten vermüllten Umlaufbahnen.
Weltraumforscher Siminski bezweifelt, dass dies der richtige Weg ist. Ein
guter Vergleich sei der Plastikmüll im Meer. „Es macht Sinn, den Ozean zu
säubern – aber gleichzeitig werden unendlich viele Plastikteilchen aus
allen Flüssen der Welt angeschwemmt. Am Ende ist immer mehr Plastikmüll da
als vorher.“ Für Siminski käme es daher vor allem darauf an, weniger
Raketen und Satelliten ins All zu schießen. Doch genau das Gegenteil ist
der Fall. Seit sich nicht nur Raumfahrtagenturen, sondern auch private
Unternehmen für den Weltraum interessieren, nimmt die Zahl der Objekte auf
den Umlaufbahnen noch stärker zu – und damit auch der Schrott.
Was ist die Idee hinter der sogenannten Friedhofsbahn?
Auf 35.786 Kilometer Höhe ist viel los. Dort befindet sich die
geostationäre Umlaufbahn, die zum Beispiel von Rundfunk- und
Kommunikationssatelliten genutzt wird. Sie ist deshalb so beliebt, weil
sich die Objekte dort in derselben Zeit einmal um die Erde drehen wie die
Erde um sich selbst. Aus der Perspektive der Menschen am Erdboden
erscheint es daher so, als ob sich die Satelliten durchgehend am selben
Punkt am Himmel befinden, also stationär sind – was beispielsweise
praktisch für die Ausrichtung von Satellitenantennen ist.
Damit es auf dieser wertvollen Umlaufbahn nicht zu Kollisionen kommt,
müssen alte Satelliten – denn alle Satelliten nutzen sich ab und gehen
irgendwann kaputt, genau wie Waschmaschinen oder Staubsauger – Platz
machen. Dafür entstand die Friedhofsbahn. Mit ihrem Resttreibstoff, der vor
dem Start genau berechnet wurde, bewegen sich die ausrangierten Satelliten
rund 300 Kilometer weiter weg von der Erde. Dort bleiben sie.
So verringert die Friedhofsbahn zwar die Chance, dass es zu Kollisionen auf
der geostationären Umlaufbahn kommt. Aber wenn sich sehr viele alte
Satelliten auf der Friedhofsbahn tummeln, wird es dort irgendwann eng und
das Risiko für Kollisionen steigt. Die Teilchen werden bei so einer
Kollision in alle Richtungen gestreut und könnten auch wieder tiefer auf
die geostationäre Umlaufbahn gelangen, so ESA-Forscher Jan Siminski. „Auch
die Friedhofsbahn ist nicht optimal“, sagt er.
Und nun?
Die Menschheit wird den Weltraum weiterhin nutzen, denn wir sind stark auf
ihn angewiesen –für unsere Kommunikation, zur militärischen Beobachtung
oder auch für wissenschaftliche Missionen, etwa, um Daten für den
Klimawandel zu sammeln. „Es ist ein Spiel mit Zahlen“, sagte der Astronom
Stuart Grey 2023 in einer Rede an der Universität in Pennsylvania. Wenn
wir die Anzahl der großen Objekte auf den erdnahen Orbits verdoppeln oder
verdreifachen, wie derzeit in Aussicht, steige auch das Risiko für
Kollisionen. Grey fragt sich: Ist es das wert?
15 Mar 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Enno Schöningh
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