# taz.de -- „Interstellar“ in Darmstadt: Alles ist relativ! | |
> Vom Blockbuster zur Miniaturlandschaft: Das Staatstheater Darmstadt | |
> bringt Christopher Nolans „Interstellar“ auf die Bühne. | |
Bild: Laura Eichten in „Interstellar“ | |
Berlin taz | Das All kann einsam sein, vor allem, wenn das Schicksal der | |
gesamten Menschheit an einem einzigen Mann hängt. Nachdem die Erde | |
zunehmend unbewohnbar wurde, muss Ex-Nasa-Pilot Cooper genau diese Bürde | |
tragen. Er begibt sich auf ungewisse Expedition, durchreist ein sogenanntes | |
Wurmloch, um anderswo neuen Lebensraum zu finden. Wird er die humane | |
Gesellschaft dadurch retten können? Das persönliche Opfer ist jedenfalls | |
groß. Denn seine Tochter Murph muss er zurücklassen. | |
[1][Christopher Nolan hat dieses Szenario 2014 in seinem Spielfilm | |
„Interstellar“] mit gewohnt monumentaler Gebärde umgesetzt. Solch eine | |
astrale Bildgewalt auf die Bühne zu bringen, stellt eine Herausforderung | |
dar, derer sich gerade das Staatstheater Darmstadt angenommen hat. Der | |
Coup: Jegliche visuellen Effekte werden dabei live erzeugt. Dasselbe gilt | |
für die unzähligen Ortswechsel und Zeitsprünge. | |
Regisseur Klaus Gehre hat dazu detailreiche Miniaturlandschaften errichten | |
lassen. Wir sehen ein Spielzeugraumschiff, das Wattewolken (auf einer | |
drehenden Walze) durchfliegt, und beobachten Playmobil-Astronauten auf | |
einem Eisplaneten. Sogar eine Szene aus „Casablanca“ läuft mit | |
Barbie-Puppen vor unseren Augen ab. | |
Arrangiert und mittels zahlreicher Kameras auf Leinwände gebannt werden | |
diese Szenen durch das Ensemble (unter anderem Laura Eichten und Valentin | |
Erb). Zwischen diversen Stationen springen die Spieler:innen umher, | |
fahren Autoscooter oder sitzen in einem echten Geländewagen. | |
## Einstein'sche Relativitätstheorie | |
Dass die Kulisse mehr an ein Labor als an eine einheitliche Komposition | |
erinnert, passt zum Grundgedanken der Vorlage, geht es ihr doch vor allem | |
um die Einstein’sche Relativität. In dem Kinoepos erstreckt sie sich | |
vornehmlich auf die Zeit. Trotz der unterschiedlichen Geschwindigkeiten | |
dies- und jenseits des Wurmlochs gelingt es Cooper und seiner Tochter spät, | |
wieder in Kontakt zu treten. | |
Ebenjene logisch schwer zu erklärende Grenzüberschreitung spiegelt sich in | |
Darmstadt in der durchweg offenen Bühne. Jeder ist sozusagen überall und | |
nirgendwo. Oder anders gesagt: Alles ist eine Frage der | |
Imaginationsfähigkeit. | |
Als wäre dies nicht schon komplex genug, bezieht die Inszenierung mit ihren | |
verschiedenen Ebenen noch weitere Texte ein. Zum Beispiel Heiner Müllers | |
„Der Horatier“ von 1973. Im Kampf mit der Stadt Alba verhilft darin die | |
titelgebende Gestalt Rom zum Sieg. | |
Gleichzeitig nimmt der Protagonist Schuld auf sich, indem er seine | |
Schwester tötet. Mit dieser Folie will Gehre das Hauptthema seiner | |
Aufführung veranschaulichen, das sich wiederum als jenes von „Faust“ | |
erweist: Jeder Fortschritt fordert seinen Tribut. Es gibt keine Erlösung | |
ohne Verlust. | |
## Mutiges Experiment | |
Jenes Dilemma hätte man an diesem Abend zweifelsohne organischer aus der | |
Mitte des Theaters heraus, mit Spielkunst und konzentrierten Metaphern | |
beleuchten können. Schade also, dass sich Gehre in einer überfrachteten | |
Challenge mit der aufwendigen Kinoästhetik messen will und ihr in Teilen | |
nacheifert. Mutig ist das Experiment dennoch. | |
Und was überdies besticht, ist der Gesang. Immer wieder stimmen die | |
Schauspieler:innen eine berührende Version des Songs „Always on My | |
Mind“ an, um dadurch die Liebe als über alle physikalischen Barrieren | |
hinweg verbindendes Element zu feiern – keine schlechte Idee in dieser | |
dunklen Gegenwart! | |
Habhaft wird man unserer schwierigen Epoche wohl nur, sobald man sie wie | |
durch ein Kaleidoskop zu betrachten versucht, weswegen das Staatstheater | |
Darmstadt unter der neuen Schauspieldirektion von Alexander Kohlmann mit | |
einem vielschichtigen Stückereigen in die Saison startete. War die Sparte | |
unter der vorigen Leitung zuletzt im Dornröschenschlaf versunken, spürt man | |
nun den neuen Drive allein schon in den Diskussionen zu den Premieren. | |
So etwa zur Wiederentdeckung von Joe Ortons heute mehr als provokativer | |
Klamotte „Was der Butler sah“ von 1969. Einerseits nimmt die Farce mit | |
allerlei ungewollten Travestien die queere Gesellschaft vorweg, | |
andererseits werden vor einer bewusst staubigen Kulisse Altherrenwitze | |
dargeboten. Wie eine „alte Pornokassette“ aus einer früheren Videothek mute | |
das Werk heute an, so Kohlmann in einem Interview. | |
Dieser komödiantischen Annäherung an Diskurse unserer Tage steht indessen | |
eine archaische Realisierung von Shakespeares „Macbeth“ gegenüber, die mit | |
mehreren schiefen Ebenen auf der Bühne allein den Blick in den Abgrund | |
preisgibt. Statt der einen, alles beantwortenden Botschaft erwartet uns in | |
Darmstadt also gerade ein ganzer Aufriss an Weltdeutungen. Mit | |
„Interstellar“ kommt jetzt noch die kosmische Perspektive von ganz oben | |
hinzu. | |
6 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Science-Fiction-Film-Interstellar/!5029396 | |
## AUTOREN | |
Björn Hayer | |
## TAGS | |
Theater | |
Darmstadt | |
Weltraum | |
Raumfahrt | |
wochentaz | |
Theater | |
Theater | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Weltraumschrott: Unendlich vermüllte Weiten | |
Um die Erde kreist immer mehr Müll. Ist das gefährlich? Und wer macht das | |
wieder weg? Die wichtigsten Fragen von Friedhofsbahnen bis Aufräumrobotern. | |
Theaterstück über Felix Hartlaub: Im Epizentrum der Nazis | |
Das Nationaltheater und die Kunsthalle Mannheim bringen das kurze Leben des | |
Kriegstagebuchschreibers Felix Hartlaub auf die Bühne. | |
„Magic Town“ am Staatstheater Mainz: Hauptsache, normal | |
Fluch oder Segen des Mittelmaßes: Am Staatstheater Mainz denkt man über das | |
ganz normale Leben nach. | |
Theater übers Erben in Wiesbaden: Arbeitest du noch oder erbst du schon? | |
Das Hessische Staatstheater bringt im geldigen Wiesbaden Kapitalismuskritik | |
auf die Bühne. Das Stück zeigt: Eigentum verpflichtet – zu gar nichts! |