| # taz.de -- Zu Besuch in Fredericksburg: High Noon für Texasdeutsch | |
| > Im Herzen von Texas sprechen Menschen seit dem 19. Jahrhundert einen | |
| > eigenen deutschen Dialekt. Der droht auszusterben. Was geht mit | |
| > Texasdeutsch verloren? | |
| Bild: Deutsche Leitkultur an die Wand gepinselt: Biergarten in Federicksburg, T… | |
| Fredericksburg taz | Am Ortseingang von Friedrichsburg steht ein Schild mit | |
| der Aufschrift „Willkommen“. Fast 30.000 Menschen sind Anfang Oktober in | |
| die Kleinstadt geströmt, um hier [1][Oktoberfest] zu feiern, samt Brezeln, | |
| Lederhosen und natürlich: Bier. | |
| Doch Friedrichsburg mit seinen 11.500 Einwohner:innen liegt nicht etwa | |
| in Bayern, sondern in Zentraltexas und heißt eigentlich Fredericksburg. | |
| Friedrichsburg sagen nur noch manche der älteren Bewohner:innen – die | |
| Texasdeutschen. So nennen sich die Nachfahren deutscher Einwanderer:innen, | |
| die bis heute einen eigenen deutschen Dialekt am Leben erhalten. | |
| Betty, selbst Texasdeutsche, sagt, sie sei noch nicht beim Oktoberfest | |
| gewesen. Und habe es auch nicht vor. „Es war zu … crowded. Und ich habe | |
| niemand gekannt, da war keiner von uns“, erzählt sie den anderen Männern | |
| und Frauen, mit denen sie an diesem Mittwochvormittag im kleinen Saal des | |
| örtlichen Geschichtsmuseums sitzt. Alle zwei Wochen treffen sie sich im | |
| Gesprächskreis, um gemeinsam Deutsch zu sprechen. | |
| Die Menschenmassen sind nicht Bettys einziger Grund, warum sie in diesem | |
| Jahr auf das Oktoberfest verzichtet: „Wenn ich so viel Bier oder Wein | |
| trink, dann schlaf ich in 15 Minuten“, sagt sie. Eine ganze Maß Bier „wür… | |
| mich killen“. | |
| ## Texasdeutschen in Fredericksburg blieben lange unter sich | |
| Evelyn Weinheimer, die die Treffen organisiert, erzählt in der Runde, dass | |
| sie auf dem Oktoberfest gefragt worden sei, ob das eine althergebrachte | |
| Feier sei. „Nein, das ist eine neue“, habe sie erwidert. Das erste | |
| Oktoberfest feierte Fredericksburg erst in den 1980er Jahren. | |
| Viele der hier Anwesenden sind Texasdeutsche der fünften oder sechsten | |
| Generation. Ihre Vorfahren kamen ab Mitte des 19. Jahrhunderts nach Texas, | |
| angespornt von dem Mainzer Adelsverein, der hier deutsche Siedlungen | |
| gründen wollte und auswanderungswilligen Deutschen Land versprach. Die | |
| Neuankömmlinge gründeten Siedlungen und Städte in dem abgeschiedenen | |
| Zentraltexas und tauften sie New Braunfels, Boerne oder eben | |
| Fredericksburg. | |
| Während sich deutsche Einwander:innen anderswo in den USA schnell in | |
| die Mehrheitsgesellschaft integrierten, blieben die Texasdeutschen in | |
| Fredericksburg lange unter sich. Sie sprachen in der Familie, in den | |
| Geschäften und in der Schule Deutsch, betrieben deutschsprachige Zeitungen | |
| und Radiosender. | |
| Ihre Sprache war eine Mischung verschiedener [2][Mundarten], die sie aus | |
| ganz Deutschland mitgebracht hatten – beeinflusst vom Englisch aus der | |
| Umgebung. Von Generation zu Generation blieb der Dialekt bewahrt, geriet | |
| mit den beiden Weltkriegen aber in Verruf. Die Senior:innen in der | |
| Gesprächsrunde gehören daher zu den letzten Menschen, die noch einigermaßen | |
| fließend Texasdeutsch sprechen. | |
| ## „erschte“ statt „erste“ | |
| Im Gesprächskreis erzählt Betty nun, sie habe vor einiger Zeit ein neues | |
| deutsches Wort gelernt – „Fitnesscenter“. Während sie den Ausdruck komis… | |
| in die Länge zieht, bricht der Kurs in Gelächter aus. Denn das Wort, das so | |
| englisch klingt, existiert im angloamerikanischen Raum nicht. Betty erzählt | |
| von einem Besuch in Deutschland, bei dem sie sich mit einer Bekannten vor | |
| einem solchen Fitnesscenter treffen wollte. Im Englischen ein gym. „Ich | |
| habe Gymnasium gesagt, aber das ist eine Hochschule“, sagt Betty und meint | |
| damit die Highschool. „Dann habe ich Turnverein gesagt. Oh, ich habe so | |
| lange probiert, ein Wort zu finden.“ Bis ihre Gesprächspartnerin darauf | |
| kam: „‚Meinen Sie ein Fitnesscenter?‘ Und ich habe gesagt, ja, wir treffen | |
| uns beim Fitnesscenter.“ Wieder zieht sie das Wort in die Länge, wieder | |
| kann sich die Runde kaum halten vor Lachen. | |
| Evelyn Weinheimer leitet nicht nur den Gesprächskreis. Obwohl sie Rentnerin | |
| ist, arbeitet sie, Anfang 80, als Archivarin. Später führt sie über das | |
| Gelände des Pioniermuseums, benannt nach den ersten deutschen Siedlern. | |
| Ihre Vorfahren, erzählt Weinheimer, immigrierten in den 1840ern und 1850ern | |
| nach Texas. Sie kamen aus Halle an der Saale, aus Peine bei Hannover und | |
| aus dem Rheinland. | |
| Weinheimer ist eine zierliche, offenherzige Frau. Wenn sie Deutsch redet, | |
| sagt sie „erschte“ statt „erste“, „uff“ statt „auf“ und Kirche … | |
| „Kerch“ aus. Auf dem Gelände zeigt sie nun Nachbauten der ersten Holzhäus… | |
| der Siedlung und des historischen Friseursalons sowie die erhaltenen | |
| Werkzeuge der Pioniere. | |
| Hans Boas hingegen ist ein Texasdeutscher der etwas anderen Sorte. In | |
| Göttingen geboren, zog der 53-Jährige Ende der 1990er Jahre während seines | |
| Germanistikstudiums in die USA. 2001 war er mit dem Auto auf dem Weg von | |
| Kalifornien nach Austin, wo er eine Stelle als Assistenzprofessor an der | |
| University of Texas antreten sollte, als er in einem Restaurant in | |
| Fredericksburg hielt. Am Nachbartisch saß eine Gruppe älterer Herren, die | |
| ein Deutsch sprachen, das Boas noch nie zuvor gehört hatte. Er fragte sie, | |
| wo sie herkämen. „Was meinst du?“, antworteten sie, „wir haben schon imm… | |
| hier gewohnt. Und wir sprechen Friedrichsburger Deutsch.“ | |
| ## Kein Genetiv und kaum Dativ im Texasdeutsch | |
| Angekommen in Austin, suchte Boas nach Büchern zum Texasdeutschen und fand | |
| heraus, dass in den Jahrzehnten davor fast niemand mehr ernsthaft dazu | |
| geforscht hatte. Also machte er es sich zur Aufgabe, die verbleibenden | |
| Sprecher:innen zu interviewen und die Aufnahmen in einem Onlinearchiv zu | |
| sammeln. Anhand dieser Interviews konnte Boas den Dialekt analysieren. | |
| Fünf bis acht Prozent der Wörter im Texasdeutschen seien dem Englischen | |
| entlehnt, sagt er. Oft handele es sich um Bezeichnungen für Dinge, die die | |
| Einwander:innen und ihre Nachfahren aus Deutschland nicht kannten. Den | |
| Feigenkaktus nannten sie prickly pear und den Schuldirektor principal. Auch | |
| ein Stinktier – auf Englisch skunk – hatten die Texasdeutschen noch nie | |
| gesehen. Sie tauften es „Stinkkatze“. Boas erklärt, dass eine Texasdeutsche | |
| etwa sagen könnte: „Am Montag habe ich abgenommen“, um auszudrücken, dass | |
| sie nicht gearbeitet hat. Abgenommen ist dabei die wörtliche Übersetzung | |
| von took of, also „freigemacht“. Auch die Struktur der Sprache hat sich | |
| gewandelt. So ist der Genitiv heute vollständig aus dem Dialekt | |
| verschwunden, der Dativ fast komplett. „Die Grammatik des Deutschen sieht | |
| mehr und mehr aus wie das Englische“, sagt Boas. | |
| Für sein Archiv haben Boas und seine Studierenden seit den frühen 2000er | |
| Jahren mit über 900 Menschen gesprochen. Insgesamt will er in der nächsten | |
| Zeit mit über tausend gesprochen haben – bis auch die letzte Sprecherin des | |
| Texasdeutsch verstirbt. Boas schätzt, dass aktuell noch rund 2.000 Menschen | |
| den Dialekt einigermaßen fließend sprechen. In allerspätestens zehn Jahren | |
| sei Texasdeutsch jedoch ausgestorben. | |
| Der Anfang vom Ende des Dialekts lässt sich auf April 1917 zurückdatieren. | |
| Damals wurden die USA über Nacht Kriegspartei im Ersten Weltkrieg und alles | |
| Deutsche war auf einmal suspekt. In der Folge verlangte die US-Regierung, | |
| dass in Fredericksburger Schulen kein Deutsch mehr gesprochen werden | |
| sollte. Um ihren Kindern Nachteile und Hänseleien zu ersparen, wechselten | |
| viele Eltern auch im Privaten zu Englisch. Und sie änderten ihre Nachnamen, | |
| „von Schmidt zu Smith, Fuchs zu Fox, Meyer zu Miller“, sagt Boas. | |
| ## ,,Wir wollten nichts mit Hitler zu tun haben“ | |
| Donnie Schuch erinnert sich noch daran, wie das für seinen Vater war. Der | |
| 75-Jährige ist an diesem Vormittag ebenfalls Besucher des Gesprächskreises. | |
| Auf Englisch erzählt er, dass die Lehrer seines Vaters, der 1913 zur Welt | |
| gekommen war, ihm und seinem Cousin damals verboten hätten, in der Schule | |
| Deutsch zu sprechen. „In der Mittagspause gingen sie zum Rande des Geländes | |
| und steckten ihre Köpfe durch den Zaun, um miteinander Deutsch zu sprechen. | |
| Ihrem Lehrer sagten sie, sie seien ja nicht auf dem Schulgelände.“ | |
| Zur selben Zeit beschleunigte sich auch die technische Entwicklung. Autos | |
| ermöglichten Fahrten ins anglophone Umland, Radios und Fernseher brachten | |
| eine Fülle englischsprachiger Sendungen in die Wohnzimmer. | |
| Evelyn Weinheimer erzählt, dass ihr Onkel im Zweiten Weltkrieg mit der | |
| US-Armee in Deutschland stationiert gewesen war, wo er sich mit seinen | |
| Deutschkenntnissen nützlich machen konnte. Sie legt Wert darauf, dass die | |
| Texasdeutschen trotz ihrer Sprache stets patriotisch waren. „Wir waren | |
| Amerikaner, wir wollten nicht zurück, wir wollten nichts mit Hitler zu tun | |
| haben“, sagt sie. „Wir haben für Amerika gekämpft. Ich hoffe, ich habe das | |
| klargemacht.“ | |
| Nach 1945 entspannte sich die Lage. Die Menschen in Fredericksburg sprachen | |
| auf der Straße wieder Deutsch, sagt Donnie Schuch. Aber es wurden über die | |
| Jahre immer weniger. Schuch trägt ein kurzärmliges Hemd und eine Cap mit | |
| Texasflagge, seine großen rauen Hände zeugen von einem Leben als Farmer. Er | |
| deutet in Richtung Hauptstraße, wo die alten Läden und Werkstätten | |
| mittlerweile den Souvenirshops und Schnitzelrestaurants gewichen sind. „Es | |
| ist kommerzieller Tourismus“, sagt er. Während in der Generation seiner | |
| Eltern manche kaum Englisch konnten, sprechen seine Kinder wiederum nur ein | |
| paar Brocken Deutsch, erzählt Schuch. „Sie tun sich echt schwer.“ | |
| ## „Es ist ein Teil unseres Erbes, der verschwindet“ | |
| Dass Texasdeutsch dem Tod geweiht ist, findet Hans Boas schade. Der Dialekt | |
| sei „ein einzigartiger Ausdruck davon, wie flexibel und innovativ die | |
| deutsche Sprache und Kultur sein kann“. Gleichzeitig müsse man realisieren, | |
| dass es ein natürlicher Prozess ist, dass bestimmte Sprachen und Dialekte | |
| sich stark verändern, sich durchmischen und manchmal eben aussterben. | |
| Ähnlich wie Flora und Fauna befinden sich auch Sprachen in einer Krise der | |
| Artenvielfalt. Boas sagt: „Wir sind jetzt in einer Extremsituation, dass | |
| von den 6.000 Sprachen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts gesprochen | |
| werden, nur ungefähr die Hälfte am Ende des 21. Jahrhunderts noch da sein | |
| werden.“ | |
| Was bleibt dann, wenn das Texasdeutsche nicht mehr ist? Eine Kultur als | |
| Marketingstrategie? T-Shirts in Souvenirshops, auf denen „I’m on my wurst | |
| behavior“ steht? Donnie Schuch sagt, dass er hin und wieder noch auf | |
| Deutsch denkt, besonders wenn er am Haus seiner Kindheit ist. | |
| „Es ist ein Teil unseres Erbes, der verschwindet“, sagt er auf Englisch. | |
| „Ich schätze, man nennt das Fortschritt. Ich tue es nicht.“ Und dann fügt | |
| er noch auf Deutsch hinzu: „Aber so geht’s.“ Viele Texasdeutsche, so | |
| scheint es, haben sich mit dem unvermeidbaren Ende ihres Dialekts | |
| abgefunden. „Das macht mich nicht krank“, sagt Evelyn Weinheimer. Kurz | |
| überlegt sie. „Aber das ist etwas schwer zu denken.“ | |
| 22 Mar 2025 | |
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