# taz.de -- Holocaust und Antisemitismus in Italien: „Unsere Grundwerte sind … | |
> Enrico Mentana ist eine Journalismuslegende. Im Buch „Erinnern macht | |
> frei“ hat er die Geschichte der Auschwitz-Überlebenden Liliana Segre | |
> aufgeschrieben. | |
Bild: Liliana Segre bei der Veranstaltung „Science for peace“ in Mailand am… | |
taz: Herr Mentana, im Vorwort [1][Ihres Buches „Erinnern macht frei“], das | |
die Holocaustüberlebende Liliana Segre mit Ihnen geschrieben hat, habe ich | |
gelesen, dass Ihre Tochter Sie immer geneckt hat, Liliana Segre könnte Ihre | |
Mutter sein, so oft wie Sie sie besuchen. Wie kam es zu diesem engen | |
Verhältnis? | |
Enrico Mentana: Liliana Segre wurde 1930 geboren wie meine Mutter, sie war | |
Jüdin, aber nicht praktizierend wie meine Mutter und sie wurde am selben | |
Tag von derselben Schule verwiesen. Meine Mutter hatte jedoch mehr Glück. | |
Sie floh mit ihrer Familie aus Mailand in die Region Marken zu Bauern, die | |
sie versteckten. Und hier blieb sie bis zum Ende des Krieges. Sonst wäre | |
sie vielleicht nach Auschwitz oder in ein anderes Lager verschleppt worden | |
– wie Liliana Segre. Was mich dann wirklich mit Liliana Segre | |
bekanntgemacht hat, war, dass ein Klassenkamerad von mir ihr ältester Sohn | |
war – aber das wusste ich nicht. | |
Liliana Segre hat ihren Kindern erst in einem angemessenen Alter von allem | |
erzählt, was geschehen war. Nur ihr Mann wusste von ihrer Verschleppung | |
nach Auschwitz, denn er hatte sie am Strand kennengelernt und die | |
eintätowierte Häftlingsnummer gesehen. Den Sohn traf ich Jahre später | |
wieder, weil ich zu einer Veranstaltung zum Thema Erinnerung ging – es gab | |
damals noch keinen offiziellen Gedenktag – und er sagte zu mir: Weißt du, | |
wer heute Abend hier spricht? Liliana Segre – das ist meine Mutter! Und von | |
da an gab es eine ganze Reihe von Verbindungen, bis es zu unserem Buch kam, | |
das vor genau zehn Jahren in Italien erschienen ist. | |
taz: Warum hat Liliana Segre sich seit den 1990er Jahren entschieden, ihre | |
Geschichte zu erzählen? | |
Mentana: Sie hatte eine schwere psychische Krise. Es klingt unglaublich, | |
aber: Sie legte öffentlich Zeugnis ab von der Shoah, weil ihr Arzt ihr | |
sagte, sie müsse jetzt darüber sprechen. Als sie nach dem Krieg wieder zu | |
Hause war in Mailand und erzählen wollte, was ihr widerfahren war, wollte | |
das niemand wissen. Die Leute sagten, im Krieg passiere halt allen | |
Schlimmes, und leugneten so, was Liliana Segre konkret angetan worden war. | |
Bis heute gibt es in Italien keinen Text, kein Buch von einem, der sagt: | |
Ja, ich habe den Deutschen geholfen. Ja, ich habe geholfen, die | |
Rassengesetze zu machen. Ja, ich habe geholfen, die Juden aus den Schulen | |
oder Fabriken oder Universitäten zu vertreiben. Sie hat es nie so gesagt, | |
aber ich glaube, sie trug eine furchtbare Wut in sich, weil sie all die | |
folgenden Jahrzehnte als Ehefrau und Mutter in einem Umfeld lebte, in dem | |
es wahrscheinlich auch diejenigen gab, die sie denunziert hatten. Die | |
Erinnerung, die Verantwortung, die Schuld und die Scham über das, was | |
geschehen war, wurden im Schweigen ertränkt. | |
taz: Das erste Kapitel des Buches heißt „Jüdin werden“. Sind Sie nach dem | |
Pogrom der Hamas vom 7. Oktober jüdischer geworden für sich und für andere? | |
Mentana: Weder Liliana Segre noch ich sind religiös, aber ihr Vater wurde | |
in Auschwitz ermordet und ihre Großeltern. Sie hat sich mit der Tatsache | |
abgefunden, dass sie Jüdin ist, [2][auch weil sie von ihren Gegnern als | |
solche angesehen wird]: Es gibt keinen stärkeren Impfstoff als das. Und sie | |
fühlt jetzt ihr Gewissen stark. Und das ist etwas, was ich auch fühle. | |
Niemand, angefangen bei Liliana und mir, sieht den jüdischen Staat Israel | |
in seiner Reaktion auf den 7. Oktober nicht als unerbittlich an. Man kann | |
das nur verurteilen. Aber ich habe auch selbst erlebt, wie schrecklich und | |
demütigend es ist, wenn behauptet wird, dass dies ein Genozid sei. Das | |
macht uns wütend und das eint uns. Wenn ich Leute bei öffentlichen | |
Auftritten frage, wie viele italienische Juden es gibt, dann sagen die: ein | |
bis zwei Millionen. Aber wir sind nur 30.000. Das ist immer noch die | |
Wahrnehmung der Juden, als große Masse und als bedeutende Macht. Das wurde | |
über Jahrzehnte nicht offen ausgesprochen – weil es Auschwitz gab, weil es | |
tabuisiert war, Vorurteile offen auszusprechen. | |
taz: Das gilt nur für Italien? | |
Mentana: Hätte vor 30 Jahren jemand gesagt, dass die Alternative für | |
Deutschland stärker sein würde als die Sozialdemokraten? Den hätte man d | |
doch ausgelacht! Es ist offensichtlich, dass eine historische Phase und ein | |
System gemeinsamer Werte, die ewig zu sein schienen, zu Ende gegangen sind: | |
die Erklärung der Menschenrechte, die Überlegenheit der Demokratie, das | |
Nein zum Antisemitismus. Das Problem ist aber auch allgemein die | |
Infragestellung der Realität, sodass diejenigen, die Segre oder die Juden | |
angreifen, auch Corona leugnen oder die russische Aggression gegen die | |
Ukraine. | |
taz: Diese Angriffe kommen nicht nur von rechts, sondern auch von links. | |
Mentana: Wenn ich vor zwanzig Jahren geboren wäre, ich wüsste nicht, wie | |
meine Haltung wäre. Wenn ich bestimmte Dinge nicht selbst erlebt hätte, | |
sondern immer nur erzählt bekäme wie ein Dogma, dann würde ich mich fragen, | |
wie sieht es denn ganz real aus? Wir sollen für die Juden sein, aber gegen | |
die Migranten? Wir wehren sie an den Grenzen ab, wir streiten in Europa, | |
wer sie aufnimmt, wir warnen sie, gar nicht erst ein Schiff übers | |
Mittelmeer zu besteigen. Es gibt einen grundlegenden Fehler in der Haltung | |
der demokratischen Länder zu sehr sensiblen Themen, der ungewollt eine | |
Abkehr von unseren Grundwerten gefördert hat. Und so sind sie schal | |
geworden, abgelaufen, wie verfallene Lebensmittel. Und das ist eine sehr | |
schwierige Situation, weil wir immer wie Lehrer wirken, die anderen die | |
Realität erklären wollen – das schürt Hass. Als wir jung waren, haben wir | |
die kleinen Lehrer gehasst, die uns erklären wollten, wie die Dinge | |
wirklich sind. | |
taz: Im Jahr 2017 [3][haben Sie mit den Faschisten der damaligen Partei | |
CasaPound in Rom diskutiert.] Warum? | |
Mentana: Weil ich denke, dass man immer von Angesicht zu Angesicht sprechen | |
muss. Wenn es nur Ausgrenzung gibt, kann man nicht sprechen. Wenn ich | |
demokratisch bin, zeige ich mit der Kraft der Argumente, also demokratisch, | |
dass unsere Positionen stark sind. Sonst sagen diese Leute, seht ihr, die | |
haben Angst vor uns. Man schafft dann so ein Katakomben-Ding. Für die | |
Rechten ist es aber die klassische Win-win-Situation: Wenn sie mit mir | |
diskutieren, werde ich meine Meinung sagen, meine Leute werden mir | |
applaudieren. Wenn sie nicht mit mir diskutieren, dann haben sie Angst vor | |
mir. | |
taz: Sie haben als Journalist für das Berlusconi-Imperium gearbeitet. Hat | |
das heute noch die Macht, die italienische Öffentlichkeit zu dominieren? | |
Mentana: Ich weise nur auf eine Sache hin, die niemandem auffällt. 2018 | |
gewann in Italien die Fünf-Sterne-Bewegung die Wahlen, ohne eigene | |
Zeitungen, ohne Fernsehen. Im Jahr darauf gewann Salvini die Europawahlen, | |
auch seine Lega hatte keine Zeitungen, im Fernsehen wurde sie sogar | |
verspottet. Dann hat Meloni gewonnen, und Meloni hat auch keine Zeitungen. | |
Berlusconi war sehr stark, bevor er in die Politik ging, weil er als | |
Besitzer des AC Mailand Zugriff auf den Fußball hatte, er hatte die drei | |
Fernsehsender und so weiter. Aber seit er in Italien in die Politik | |
eingetreten ist, ist etwas Außergewöhnliches passiert: Wer auch immer | |
Wahlen gewinnt, hat die nächsten verloren. Und das heißt, dass es in | |
Wirklichkeit keine Macht mehr gibt, die von den traditionellen Medien | |
bestimmt wird. | |
4 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://neofelis-verlag.de/verlagsprogramm/wissenschaft/auto-biografie/1102… | |
[2] /Antisemitismus-und-Rassismus-in-Italien/!5639582 | |
[3] /Rechtspopulismus-in-Italien/!5473223 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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