# taz.de -- Reyhan Şahin über Deutschrap: „Ich habe feministische Pionierar… | |
> Reyhan Şahin wurde als Rapperin Lady Bitch Ray berühmt. Derzeit arbeitet | |
> die Linguistin an ihrer Habilitation und kritisiert Macho-Professoren. | |
Bild: „Lady Bitch Ray“, 2012: Die Rap-Karriere hat Reyhan Şahin mittlerwei… | |
taz: Frau Şahin, wie sind Sie Pionierin im progressiven Deutschrap | |
geworden? | |
Reyhan Şahin: 1994 habe ich mit Musik angefangen, 2006 wurde ich damit über | |
Nacht berühmt – und zwar nicht nur mit meiner Musik, sondern auch durch | |
meine künstlerischen Auftritte mit politisch-feministischen Inhalten. Ich | |
bin die erste Rapperin Deutschlands gewesen, die den Begriff „Bitch“ | |
positiv umgedeutet und mit sexpositiver Absicht in den Deutschrap | |
eingeführt hat. Damals kannte ich Aktivismus oder politische Konzeptkunst | |
nicht. Ich habe es einfach aus meiner Identität heraus gemacht. Mir waren | |
zwar die politischen, feministischen, antirassistischen Absichten wichtig, | |
aber ich konnte es nicht benennen. Auch Provokation hat bei meiner | |
Ausdrucksform eine Rolle gespielt. Aber die Reaktionen haben mir gezeigt: | |
Das hat nicht nur irritiert, sondern richtig Hass ausgelöst. Totale | |
Polarisierung. | |
taz: Inwiefern haben Ihre Identität und Herkunft eine Rolle gespielt? | |
Şahin: Ich komme aus einem alevitisch-muslimischen Elternhaus und bin | |
Arbeiterkind. Als ich als Lady Bitch Ray berühmt wurde, wurde das mehr | |
thematisiert als meine Musik. Mir wurde auch meine Kompetenz abgesprochen. | |
Es wurde immer gefragt: „Wie kann denn so eine Porno-Rapperin eine | |
Doktorarbeit schreiben?“ Damals wusste ich nicht, was | |
[1][Intersektionalität], also der gesamte Bereich der | |
Mehrfach-Diskriminierung und Überkreuzung von Diskriminierungsformen, | |
bedeutet. Aber genau das wurde in der Rezeption von Lady Bitch Ray | |
deutlich. | |
taz: Was bedeutet Ihnen Rap? | |
Şahin: Rap war für mich nicht nur eine sprachliche, sondern eine | |
ganzheitliche Ausdrucksform. Ich spreche auch gern vom Rap als | |
Gesamtkunstwerk. Es ist eine Möglichkeit, sich nicht nur sprachlich, | |
sondern auch visuell auszudrücken. Visuell vom Erscheinungsbild über den | |
Ausdruck durch Kleidung bis zur ganzen Performance, Habitus, Gestus und | |
politischen Content. Das ist das Besondere an [2][Rap]. | |
taz: Sie sind 2008 ausgestiegen. Wie empfinden Sie Ihre Rolle als Lady | |
Bitch Ray rückblickend? | |
Şahin: Ich empfand das ziemlich einengend und stigmatisierend. Ich fühlte | |
mich missverstanden, obwohl es bereits Schwarz-amerikanische Frauen in der | |
Rap-Bewegung gab, die sexualisierten und sexpositiven Rap gemacht haben. | |
Auch wenn diese Sachen für mich eindeutig waren, hat die deutsche | |
Gesellschaft das nicht kapiert. Es mag im Nachhinein absurd klingen, aber | |
es ging so weit, dass ich 2008 mit meiner Kunst aufhören musste, weil | |
sowohl meine Karriere an der Uni als auch meine Existenz gefährdet waren. | |
Ich habe mich sehr ausgegrenzt, noch mehr marginalisiert gefühlt. Ich kam | |
mir vor wie ein Alien. | |
taz: Hatten Sie den Eindruck, dass Sie dem gesellschaftlichen Diskurs | |
voraus waren? | |
Şahin: Das mag arrogant klingen, aber mir wurde schon oft gesagt, dass ich | |
meiner Zeit voraus war. Bis heute muss ich selbst auf mein | |
Alleinstellungsmerkmal und die feministische Pionierarbeit, die ich für Rap | |
geleistet habe, hinweisen. Sogar das würde man mir sonst absprechen – wie | |
so oft bei marginalisierten Frauen of Color, die aus benachteiligten | |
Verhältnissen kommen. | |
taz: Wie schätzen Sie den Fortschritt feministischer Diskurse ein? | |
Şahin: Zu Beginn meiner Karriere fühlte ich mich ziemlich alleine. Es gab | |
allenfalls einige wenige Queerfeministinnen, aber die kamen nur in | |
akademischen Nischen vor. Später, als die [3][#MeToo-Bewegung] kam und | |
[4][Feminismus] „in“ wurde, habe ich mich einerseits gefreut. Andererseits | |
denke ich, das kam alles zu spät. Zumal sexualisierte Gewalt gegen Frauen | |
zwar sichtbarer wurde, aber nicht weniger. | |
taz: Sind diese progressiven Themen heute im Deutschrap angekommen? | |
Şahin: Die Rap-Szene spiegelt den Status quo der Gesellschaft wider. | |
Gesellschaftlich und medial sind diese Themen zwar präsenter, aber es gibt | |
in der Rap-Szene anti-progressive, anti-feministische, rassistische und | |
chauvinistisch geprägte Haltungen. Queerfeministische oder antirassistische | |
Bewegungen sind heutzutage zwar medial sehr verbreitet, aber auch | |
kommerzialisiert. Auch im Deutschrap haben sich feministische Inhalte | |
kommerzialisiert und wurden von einigen Männern vereinnahmt. Das ist immer | |
das Problem bei der Anerkennung sozialer Bewegungen, die von unten kommen. | |
Es gibt immer eine Parallelentwicklung und eine Gefahr, dass die Inhalte | |
verblassen. | |
taz: Ist Rap überhaupt die richtige Ausdrucksform für | |
gesellschaftspolitische Diskurse? | |
Şahin: Ich finde ja, weil die Entstehung des Rap Anfang der 1970er in den | |
USA, in New York, in der Bronx, von Schwarzen Menschen und Hispanics neben | |
dem kreativen und künstlerischen auch einen politischen Anspruch hatte. Es | |
ist eine Bewegung, die zum Beispiel die Lebensbedingungen der Schwarzen | |
Menschen in den USA in den Ghettos sichtbar gemacht hat. Deshalb sollte für | |
mich Rap immer einen progressiven, antirassistischen, queerfeministischen | |
Anspruch haben. Im Kern ist Rap genau das richtige Ventil, um | |
gesellschaftspolitische Missstände anzuprangern. | |
taz: Sie arbeiten seit 2012 vor allem als Autorin und Forscherin. Ähneln | |
Rap- und akademische Wissenschafts-Szene einander? | |
Şahin: Ja, ich arbeite gerade an meiner Habilitation zu den Zusammenhängen | |
von Rechtspopulismus, Rassismus, Islam und Gender. Und wenn ich die | |
[5][elitäre, männlich dominierte und teilweise rassistische | |
Wissenschaftsbranche mit Deutschrap vergleiche], ist Deutschrap ein | |
Kindergeburtstag. Im Rap kann man sich ungefiltert ausdrücken. In der | |
Wissenschaft wird man aussortiert, wenn man sich so direkt äußert. In | |
meinem Buch „Yalla, Feminismus!“ vergleiche ich männliche Rapper, die sich | |
mit Gangster-Gestus, fetten Karren und ihren „Bitches“ präsentieren, mit | |
Professoren. Auch die zeigen sich oft breitbeinig mit ihren Smartphones und | |
Laptops und behandeln Frauen genauso schlecht wie manche Rapper. | |
taz: Was muss sich in der Rap-Szene ändern? | |
Şahin: In den letzten 20 Jahren wurden im Deutschrap mehr Frauen, mehr | |
Women of Color, mehr queere Personen oder marginalisierte Menschen sichtbar | |
– eine [6][positive Entwicklung]. Deutschrap ist durch und durch | |
migrantisiert und hat Antirassismus schon immer thematisiert. Trotzdem | |
wünsche ich mir, dass Patriarchatskritik, realer Feminismus, | |
Queerfeminismus, echte Rassismuskritik, Sexismus sowie sexualisierte Gewalt | |
nicht mehr patriachalisch vereinnahmt werden. | |
18 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sabrina Bhatti | |
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