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# taz.de -- 30 Jahre Intersektionalität: Dem Ungetüm begegnen
> Kimberlé Crenshaw hat den Begriff Intersektionalität für überlappende
> Diskriminierungen eingeführt. Im Alltag angekommen ist er noch nicht.
Bild: Im Englischen heißt die Straßenkreuzung „Intersection“, deshalb: In…
Es ist ein dermaßen sperriger Begriff, dass es eigentlich nicht wundert,
wenn Menschen, die nicht direkt Betroffene sind, eine echte
Auseinandersetzung mit ihr scheuen: mit der Intersektionalität.
Akademiker-Identitätspolitik-Gedöns von Critical-Whiteness-Fanatikern,
heißt es dann schnell oder eben gleich – höhö – Inter-sekt(en)-tionalit�…
Dabei ist Intersektionalität etwas [1][durch und durch Gelebtes], etwas
konstant Erfahrenes, etwas, das es schon immer gab, das aber bis 1989
schlicht keinen Namen hatte. Klar, man hätte es auch Herbert nennen können,
das wäre vielleicht zugänglicher.
Aber die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw hatte bei der
Benennung das Bild einer Straßenkreuzung im Sinn, an der sich Machtwege
kreuzen, sich überlagern, womit sie soziale Ungleichheit und ihre
Vielschichtigkeit darstellen wollte. Im Englischen heißt die
Straßenkreuzung „Intersection“, deshalb: Intersectionality. Im Deutschen
ist das weitaus schwieriger.
„Kreuzität“ wäre ein jedenfalls gewöhnungsbedürftiges Wort – und, wie…
taz-Kollegin letztens bei einer Konferenz richtig sagte: Kreuzigung war
halt schon vergeben. Deshalb also: Intersektionalität.
## Schwarze Frauen kamen für Jobs nicht infrage
So weit zum Namen, nun zum Leben: Ein Fall, mit dem auch Crenshaw, die
heute Juraprofessorin und Präsidentin des [2][Center for Intersectional
Justice] in Berlin ist, seit 30 Jahren in ihren Reden gerne
veranschaulicht, was mit Intersektionalität gemeint ist, das ist [3][der
Fall Emma DeGraffenreid].
DeGraffenreid hat 1976 in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri gemeinsam
mit vier anderen Schwarzen Frauen ihren früheren Arbeitgeber General Motors
wegen Diskriminierung verklagt. Die Frauen wurden 1974 betriebsbedingt
entlassen. Die Auswahl fiel auf sie, weil sie zu dem Zeitpunkt die kürzeste
Betriebszugehörigkeit aufwiesen. DeGraffenreid etwa wurde 1973 eingestellt.
Doch sie hatte sich bereits zuvor, im Jahr 1968, beworben und wurde
abgelehnt. Ähnlich ging es den anderen Frauen.
Sie beklagten, dass es bei General Motors lange Praxis gewesen sei, für
gewisse Jobs nur Männer einzustellen, etwa in der Fabrik, und für andere
Jobs nur Frauen, etwa im Sekretariat. Darüber hinaus machten die
Klägerinnen aber die Beobachtung, dass für die „Männerjobs“ zwar auch
Schwarze Männer eingestellt wurden, für die „Frauenjobs“ aber nur weiße
Frauen. Schwarze Frauen kamen also lange für keine der Jobkategorien in
Frage.
Bis 1970 habe es in der ganzen Niederlassung in St. Louis deshalb nur eine
Afroamerikanerin gegeben, die war Hausmeisterin. Die Klägerinnen
argumentierten, dass sie, wäre das nicht so lange die Praxis gewesen, schon
viel früher beim Unternehmen hätten arbeiten können, wodurch sie wiederum
bei den Stellenkürzungen nicht entlassen worden wären.
## Crenshaw erforschte das Loch im System
Das Gericht lehnte die Klage ab. Nicht etwa weil es die Argumentation für
gewagt hielt, sondern weil es schlicht nicht anerkennen wollte, dass
Menschen wegen Hautfarbe und Geschlecht gleichzeitig diskriminiert werden
konnten. So hieß es damals, die Frauen müssten sich entscheiden, ob sie
gegen die Diskriminierung nach Hautfarbe oder Geschlecht vorgehen wollten –
eine Kombination von beidem sei nicht möglich.
Da die Schwarzen Männer aber ein Beleg dafür gewesen wären, dass General
Motors nicht nach Hautfarbe diskriminierte und die weiblichen Angestellten
ein Beweis dafür, dass kein offensichtlicher Sexismus in der
Einstellungspolitik herrschte, hatten die fünf Frauen keine Chance.
Schwarze Frauen machen also Diskriminierungserfahrungen, die weder Schwarze
Männer noch weiße Frauen nachvollziehen können. Eine, die das sehen konnte,
war Kimberlé Crenshaw. Sie machte es sich 1989 deshalb zur Aufgabe,
herauszufinden, wie ein so großes Loch in einem juristischen System klaffen
konnte, das sich mit dem Civil Rights Act von 1964 doch bereits ein Gesetz
verordnet hatte, mit dem marginalisierte Menschen als Arbeitnehmer vor
Diskriminierung nach [4][„race, color, religion, sex and national origin“]
geschützt werden sollten. Sie wollte nicht hinnehmen, dass Schwarze Frauen
und Women of Color mit dieser Diskriminierung im Quadrat alleingelassen
werden.
## Diskriminierungsformen verschmelzen
Was Crenshaw tat, war denkbar klein, und was sie damit bewirken würde, war
damals wohl kaum vorhersehbar. Sie schrieb einen [5][Essay] und gab dem
Ding einen Namen, der heute – zumindest bei Betroffenen – weltweit bekannt
ist. Ihr Ansatz war, wie sie es heute in ihren [6][Reden zum Thema] auch
gerne beschreibt, dass der Mensch Frames, also Rahmen, braucht, in denen er
denkt.
Denn was in keinen Rahmen passt, existiert nicht – so hatte es das Gericht
ja vorgemacht. Sie schuf also den Rahmen, in dem eine mehrfache
Diskriminierung gesehen werden kann, die so ineinander verwoben ist, dass
sie eine neue Form ergibt. Es sind nicht einfach zwei (oder mehr)
Diskriminierungsformen, die beide nebeneinander erlebt werden, sie
verschmelzen und ergeben ein neues Ungetüm.
Es waren in erster Linie Schwarze Frauen, die den Begriff der
Intersektionalität in die Welt getragen haben, auch, [7][um den weißen
Feminismus zu kritisieren]. Aber es sind eine Menge Menschen davon
betroffen. Zu Beginn ging man vor allem von drei sich kreuzenden und sich
überlappenden Diskriminierungsformen aus: Rassismus, Sexismus, Klassismus.
Dazu kamen später noch: Ageism, Homophobie, Xenophobie, Ableismus und
Transphobie. Es gibt aber auch Kritiker_innen, die eine längere Liste
befürworten. Ebenso wird das Bild der Straßenkreuzung heute kritisiert,
weil es nicht deutlich machte, dass die einzelnen Machtstränge nicht
isoliert voneinander [8][betrachtet werden können].
## Immer noch kein Konsens
Jetzt ist das hier aber natürlich nicht die Diskriminierungsolympiade. Denn
eigentlich geht es darum, zu verstehen, dass Intersektionalität kein Ding
ist, kein Zustand, sondern eine Art und Weise, Dinge analysieren zu können.
Die Fähigkeit, zu sehen und nachzuvollziehen, dass eine Frau ohne Kopftuch
andere Diskriminierungserfahrungen macht als eine Frau mit Kopftuch. Ein
22-jähriger Homosexueller andere Erfahrungen macht als ein 70-jähriger
Homosexueller. Eine reiche Schwarze Cis-Frau anders behandelt wird als eine
mittellose Schwarze Transfrau. Ein Mann mit Behinderung, der Arbeit und
Familie hat, anders benachteiligt wird, als eine obdachlose Frau mit
Behinderung. Und eine Person of Color aus einem prominenten Elternhaus in
Deutschland andere Ressourcen und andere Chancen zur Verfügung hat als eine
Person of Color mit einer alleinerziehenden Mutter, die Hartz IV bezieht.
Klingt bis dahin alles nachvollziehbar, oder? Dennoch ist es in einem
linken Spektrum auch heute, 30 Jahre nach Crenshaws Essay, immer noch kein
Konsens, dass man Diskriminierung von Menschen nur ganzheitlich bekämpfen
kann, wenn man Privilegien erkennt und benennt – und zwar vor allem die
eigenen.
Das Missverständnis, wenn es um Privilegien geht, liegt ja darin, dass ihre
Benennung verwechselt wird mit dem Vorwurf, man habe alles geschenkt
bekommen: Vor allem in einer deutschen Kultur, in der Fleiß und harte
Arbeitsmoral als vermeintlich erstrebenswerte Charakterzüge gelten, erzeugt
das prompt einen Widerstand, der oft jedes weitere Gespräch unmöglich
macht.
## Intersektionalität und Privilegien erkennen
Dabei gibt es zweierlei Privilegien, die einen, die man von Geburt an hat –
und die anderen, die man sich im Laufe eines Lebens erarbeiten oder auch
verlieren kann. Dies sowie den direkten Zusammenhang mit Intersektionalität
zu erkennen, könnte viele gesellschaftliche Debatten voranbringen.
Wenn etwa Konsens wäre, dass – nur weil ein in vielerlei Hinsicht
privilegierter Schwarzer Mann für acht Jahre Präsident der Vereinigten
Staaten war – deswegen nicht automatisch alle anderen Schwarzen Menschen
keinen Rassismus mehr erfahren; genauso wenig wie, nur weil eine in
vielerlei Hinsicht privilegierte Frau aus dem Osten schon sehr lange
deutsche Bundeskanzlerin ist, die Diskriminierung von Frauen aus dem Osten
nun generell aufgehört hätte.
Oder aber auch, dass es nicht funktionieren wird, erst die Armut und dann
den Rassismus zu bekämpfen, weil es da eine intersektionelle Schnittmenge
von Menschen gibt, die es sich nicht leisten kann, dass ein großer Teil
ihrer Lebensrealität einfach mal auf später verschoben wird.
14 May 2019
## LINKS
[1] /Intersektionaler-Feminismus/!5533294
[2] https://www.intersectionaljustice.org/
[3] https://openjurist.org/558/f2d/480/emma-degraffenreid-et-al-v-general-motor…
[4] https://www.nps.gov/articles/civil-rights-act.htm
[5] https://chicagounbound.uchicago.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1052&co…
[6] https://www.ted.com/talks/kimberle_crenshaw_the_urgency_of_intersectionalit…
[7] https://g.co/kgs/ftdQUB
[8] https://gender-glossar.de/glossar/item/25-intersektionalitaet
## AUTOREN
Saskia Hödl
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Intersektionalität
Feminismus
Lesestück Recherche und Reportage
Feminismus
Kolumne Unisex
Schwerpunkt Rassismus
Feminismus
Bernie Sanders
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Emma
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