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# taz.de -- Intersektionaler Feminismus: Kopftuch und Tabu
> Seit Jahren beißen sich feministische Lager am Thema Kopftuch fest.
> Problematisch ist nicht nur die pauschale Kritik der Generation Alice
> Schwarzer.
Bild: Bedeutungsvoll gen Himmel: Protestaktion im Mai 2018 gegen das Kopftuchve…
Im Rahmen des [1][Bundesfrauenkongresses der Grünen vergangene Woche] in
Leipzig ist ein Streit zwischen der Frauenbewegung der zweiten Welle sowie
der dritten, jüngeren Welle von intersektional ausgerichteten
Feminist*innen entfacht. Feministische Kreisverbandsmitglieder der Grünen
schrieben einen offenen Brief an den Bundesvorstand, der vor Beginn des
Zukunftskongresses von der Emma-Redaktion online veröffentlicht wurde. In
dem Brief wurde u. a. kritisiert, dass es angesichts der
Teilnehmer*innenauswahl auf dem Kongress gar nicht um Feminismus gehen
könne. Kritisiert werden differenzfeministische Ansätze als „abgewürgter
Feminismus“ und „Solidarität mit Unterdrückung und Opferkult“.
Auch andere Stimmen aus dem Umfeld der Grünen echauffierten sich im Vorfeld
via Facebook über das Kopftuch der muslimischen Bloggerin Kübra Gümüşay,
die unter den Speaker*innen im Kongress saß. „Kopftuch und Feminismus“
stünden „im diametralen Widerspruch zueinander“, „Vertreterinnen des
politischen Islam gehörten nicht zum Feminismus“.
Nun kennen wir solche Art Kritik am Kopftuch von der zweiten Generation von
Feminist*innen in Deutschland bereits. Seit Jahrzehnten wird er
hauptsächlich von Alice Schwarzer geäußert, auf eine oftmals einseitige und
bevormundende Weise unpräzise formuliert und auf alle Kopftuchträger*innen
der Menschheit pauschal angewandt. Auch Frauen mit migrantisch-muslimischem
Background wie das ehemalige Femen-Mitglied Zana Ramadani oder die
Soziologin Necla Kelek ordnen sich bekanntlich in diese Reihen ein. Im
Grunde genommen könnte man diese Kritik wieder einmal in die Schublade des
sogenannten westlich kodierten, Schwarzer’schen Feminismus einordnen und
weiterignorieren.
So einfach ist es aber eben nicht. Seit Jahren beißen sich beide
feministischen Lager am Thema Kopftuch fest. Die einen pauschalisieren es
als ausschließliche „Flagge des Islamismus“ und bedienen dabei
antimuslimische Ressentiments. Die anderen sehen nur die Emanzipationsgeste
in ihr und verharmlosen andere, für die Betroffenen sehr schmerzhafte
Varianten. Die Wahrheit aber liegt dazwischen.
Mittlerweile lebt die dritte und vierte Generation der Nachkommen von
Migrant*innen in Deutschland. Unter den Muslim*innen hat sich eine kleine
Gruppe von jungen, größtenteils akademisierten Muslim*innen
herauskristallisiert, die sich als deutsche Muslim*innen bekennen und zu
islam- und migrationsbezogenen Themen die Stimme erheben. Ein großes
Problem stellt die unkritische Haltung vieler dieser jungen Menschen
gegenüber Islamismus dar.
## Queerfeindliche Agenda
Eine bittere Realität ist aber auch, dass islamische Verbände und
Organisationen in Deutschland (wie die Ditib, IGMG oder Atib) durch ihre
islampolitische Agenda strukturell nationalistisch, frauen- und
queerfeindlich und antisemitisch gefärbt sind. Diese Verbände haben in der
Vergangenheit gezielte Vorarbeit bezüglich Mitgliederservice geleistet,
indem sie diese junge Generation von Muslim*innen durch jahrzehntelange
Jugend- und Erwachsenenarbeit verlässlich in ihre Strukturen eingebunden
haben. Es liegt also in der Hand dieser jungen Menschen, vor allem der
Frauen, solche islampolitischen Strukturen im emanzipatorischen Sinne zu
hinterfragen.
Dies tut jedoch bis dato niemand – zumindest nicht so, dass es sichtbar
wäre. Und es ist sicher nicht leicht. Allein die Tatsache, dass Moscheen in
Deutschland überwiegend von diesen Verbänden gebaut werden, die
Eingebundenheit vieler muslimischer Eltern in solchen Verbandsstrukturen
plus das Erstarken von Rechtspopulismus und antimuslimischem Rassismus
dürfte die Entscheidung, sich von solchen Strukturen kritisch zu
distanzieren, zusätzlich erschweren.
Auch die Kritik an Kübra Gümüşay ist nicht neu. Die Autorin und
Journalistin Sineb El Masrar kritisierte Gümüşay bereits 2016 in ihrem Buch
„Emanzipation im Islam“ für ihre Teilnahme an islampolitischen,
muslimbrüderschafts-nahen Veranstaltungen sowie ihre Nähe zur
legalistischen Organisation Milli Görüş (IGMG). Auch ich übte Kritik,
angesichts früherer Pro-Erdoğan-Postings auf Gümüşays Facebookseite und der
Nichtthematisierung ihrer Sozialisation bei der AKP-nahen Milli Görüş. Vor
zwei Jahren fragte ich sie – bewusst via Facebook – wie ihre Arbeit
feministisch sein kann, wenn sie parallel dazu islampolitische, queer- und
frauen- und minderheiten-feindliche Strukturen der Milli Görüş ausschweigt
und durch aktive, interne Teilnahme unterstützt. Eine Positionierung auf
diese Kritik blieb bisher aus. Gesprächsangebote wurden ignoriert,
Gelegenheiten von kritischen Fragen vermieden. Die Kritik steht seither
unbeachtet im feministischen Raum.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass das Thema der Rolle der Frau und
Queerness im politischen Islam tatsächlich eine Leerstelle des jungen,
weißen, intersektional ausgerichteten Feminismus in Deutschland darstellt.
Es wird partout nicht behandelt. Das Kopftuch beispielsweise wurde nur in
puncto Entscheidungsfreiheit der Trägerin und Befürwortung des
(selbstverständlichen) Selbstbestimmungsrechts der Frau für oder gegen das
Kopftuch thematisiert.
Die Vielfalt unterschiedlicher Bedeutungsvarianten des Kopftuchs bleibt
somit tabu. Etwa diejenigen Frauen, denen das Kopftuch gegen ihren Willen
familiär aufgedrückt wird, oder jene, die es aus Überzeugung abgelegt
haben. Es wird lediglich die Bedeutungsvariante des Kopftuchs als Zeichen
der Emanzipation hervorgehoben, nur wie dies konkret aussehen soll, das
bleibt unangesprochen. Ebenso wie Abhandlungen zur Geschlechtertrennung,
zur Rolle der Frau in islampolitischen Strukturen, das damit einhergehende
binäre, komplementäre Geschlechterverhältnis oder die Vermeidung des
Handschüttelns gegenüber dem anderen Geschlecht.
Namen von islamischen Feminist*innen fielen zwar in den letzten Jahren im
deutsch-feministischen Kontext vereinzelt, Inhalte des Hauptkampfes
islamischer Feminist*innen gegen den politischen Islam, etwa die
Hinterfragung androzentrischer Lesarten des Korans, wurden nie einbezogen.
Der Begriff „muslimischer“ oder „islamischer Feminismus“ funktionierte
bisher als inhaltsleeres Etikett. Dazu haben auch Medien beigetragen.
Wie politische Akteur*innen in Moscheeverbänden teilweise frauen- und
minderheitenfeindliche Strukturen aktiv unterstützen, wird weder
thematisiert noch kritisch betrachtet. Dabei wäre genau dies die Aufgabe
von intersektionalen und antirassistisch orientierten Feminist*innen. Diese
Kritik schließt eine Solidarisierung mit Minderheiten ja nicht per se aus,
im Gegenteil. Im Sinne der Intersektionalität könnten sie, dieselben
Feminist*innen, sich zum einen gegen antimuslimischen Rassismus, zum
anderen aber auch gegen Rassismus gegenüber religiösen Minderheiten, wie
etwa gegen Kurd*innen, Alevit*innen, Yesid*innen stark machen. Denn ihre
Ausgrenzung geht mit reaktionären Islam-Auslegungen einher und hat fatale
Folgen. Und zwar nicht nur in der Türkei, sondern auch hier in Deutschland.
Der Punkt der Mehrfachdiskriminierung sollte im
feministisch-intersektionalen Sinne alle Frauen des muslimischen Spektrums
sichtbar machen und nicht nur Vertreter*innen eines bestimmten Islam.
Bestehende Grenzen sollten durch feministische Diskussionen aufgebrochen
und fehlende Solidarität gefördert werden. Jegliche Emanzipationsprozesse
müssen sichtbar werden, ob von konservativen Muslim*innen mit und ohne
Kopftuch, muslimischen Konvertit*innen, Kopftuchträger*innen, die sich
bewusst von islampolitischen Verbänden distanzieren, oder
Kopftuchträger*innen, die sich so freizügig kleiden und leben, dass sie
dadurch aus Communities ausgeschlossen werden. Ebenso säkulare
Muslim*innen, Alevit*innen, Kurd*innen, Atheist*innen und geflüchtete
Muslimin*innen – all diese Frauen bleiben im Diskurs bisher unsichtbar.
Die fehlenden Kenntnisse weißer, nichtmuslimischer, intersektional
orientierter Feminist*innen in puncto Diversität des Islam sowie das
Aufschieben einer differenzierten Kritik am islampolitischen Patriarchat,
begünstigen nicht nur den Raum für die pauschalisierende Kritik der
Zweite-Welle-Feminist*innen, sondern werfen langfristig auch ein schlechtes
Licht auf die wertvollen Inhalte und die bisher geleistete, harte Arbeit
von intersektionalen, antirassistischen Feminismen. Und nicht nur das:
derartige Lücken bieten Rechtspopulist*innen ebenso
Argumentationsspielraum, die antifeministische Lager verstärkt und die
postfeministische Bewegung zunehmend schwächt. Zudem könnte diese Art von
Nichtbenennung als eine neue Form ignoranter, weißer Bevormundung ausgelegt
werden, welche den Islam wie eine Art feministische Folklore für eigene
Zwecke missbraucht.
20 Sep 2018
## LINKS
[1] /Gruene-streiten-ueber-Feminismus/!5531303
## AUTOREN
Reyhan Şahin
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