# taz.de -- Kongress zum Völkerrecht: Gerechtigkeit in Trümmern | |
> Russland tritt das Völkerrecht mit Füßen. Glaubt überhaupt noch jemand | |
> dran? In Nürnberg fand zu dieser Frage an historischem Ort ein Kongress | |
> statt. | |
Bild: Wann wird sich Russland für seine Kriegsverbrechen verantworten? Zerstö… | |
Ungewissheit und das Gefühl, dass eine neue, schwierige Zeit anbricht, | |
liegen in der Luft. Das ist der Hintergrund des zweitägigen Kongresses | |
„Lebendige Menschlichkeit“ der Bundeszentrale für politische Bildung, der | |
am 18. und 19. Februar im Saal 600 des Justizpalastes Nürnberg stattfand. | |
Expert:innen diskutierten über Kriegsverbrechen, universelle Rechte und | |
die Zukunft der Gerichtsbarkeit mit Schwerpunkt auf dem Krieg in der | |
Ukraine, während die alte Weltordnung wegzubrechen scheint. | |
Der Saal 600 ist ein historischer Veranstaltungsort. Hier fanden nach dem | |
Zweiten Weltkrieg die [1][Nürnberger Prozesse] statt, die ein Meilenstein | |
für das Völkerrecht waren. Nach den Schrecken des Krieges und des | |
Holocausts herrschte in der internationalen Gemeinschaft Einigkeit darüber, | |
dass die Drahtzieher dieser schrecklichen Verbrechen unbedingt zur | |
Rechenschaft gezogen werden müssen. | |
Und nun, acht Jahrzehnte später, möchte Trump mit Putin, gegen den der | |
Internationale Strafgerichtshof vor zwei Jahren wegen Kriegsverbrechen | |
einen Haftbefehl erlassen hat, wieder einen „Deal“ machen, redet ihm nach | |
dem Mund und verbreitet fiese Lügen über die Ukraine. Das Recht des | |
Stärkeren scheint statt der Gerechtigkeit, die internationale Institutionen | |
des Völkerrechts weltweit garantieren sollen, wieder zu herrschen. | |
Sind die Ideale der Menschlichkeit passé? Während der drei Jahre | |
Großinvasion und elf Jahre Krieg in der Ukraine haben die russischen | |
Truppen unzählige Kriegsverbrechen begangen – und begehen sie nach wie vor. | |
Wann werden die Betroffenen Gerechtigkeit erfahren? | |
## Erforschung von Genoziden | |
Patrick Desbois, katholischer Priester und Präsident der Organisation | |
„Yahad – In Unum“, die sich der Erforschung von Genoziden widmet, bericht… | |
in seiner Keynote-Rede von seiner Feldforschung zum Holocaust, zum Genozid | |
an den Jesiden durch den IS, zum Krieg in der Ukraine. Genozid, folgert er, | |
sei nicht an die Nationalität der Täter gebunden, es sei eine „menschliche | |
Krankheit“. | |
Man müsse den Opfern unbedingt helfen, die Verbrecher zur Rechenschaft zu | |
ziehen, aber die Bilanz sei oft nicht zufriedenstellend. So seien bei über | |
30.000 beim Massaker von Babyn Jar in Kyjiw getöteten Jüd:innen 2.000 | |
Täter beteiligt gewesen, sagt Desbois, aber nur einige wenige | |
Schlüsselfiguren für die Verbrechen tatsächlich verurteilt worden. | |
Angelika Nußberger, Professorin für Staatsrecht, Völkerrecht und | |
Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln und ehemalige Richterin am | |
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, merkt an, nach | |
dem Kalten Krieg habe es einen allgemeinen Konsens über Demokratie und | |
Rechtsstaatlichkeit gegeben. Es habe selbst für autoritäre Staaten zum | |
guten Ton gehört, sich an den Institutionen des Völkerrechts zu beteiligen. | |
So urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa, dass | |
Russland im Zweiten Tschetschenienkrieg das Recht auf Leben verletzt habe. | |
Russland erkannte das an und zahlte – „Russia always pays“, habe man in | |
Straßburg gesagt. Diese Zeiten seien vorbei, so Nußberger. Die Geschichte | |
habe uns nicht den Gefallen getan, vorbei zu sein, so wie der Philosoph | |
Francis Fukuyama es ihr attestierte, sie beschleunige sich vielmehr: | |
„Kants ewiger Friede ist in weite Ferne gerückt.“ | |
## An die Institutionen glauben | |
Brandaktuell wirken die Worte Hannah Arendts aus ihrer Lessingpreis-Rede, | |
von denen der Titel des Kongresses inspiriert ist: „Man könnte wohl sagen, | |
dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in | |
dem er auf das Denken verzichtet.“ Die Stützen der öffentlichen Ordnung | |
liegen auch in diesen neuen finsteren Zeiten wieder in Trümmern. | |
Die Diagnose, die immer wieder durch die Worte der Redner:innen des | |
Kongresses durchschimmert, ist so trivial wie wichtig: An das Völkerrecht | |
und die internationalen Institutionen muss geglaubt werden, ihre | |
Entscheidungen müssen anerkannt werden, sonst verlieren sie ihre | |
Wirksamkeit. Vollkommene Gerechtigkeit gab es freilich nie – aber doch | |
zumindest den Wunsch, in Richtung dieses Ideals zu streben. | |
In der anschließenden Diskussion bemerkt Nußberger, dass autoritäre | |
Akteur:innen Menschenrechte nicht einfach negieren, sondern ideologisch | |
umkehren. Das zeige sich an Putins Reden, aber auch bei J. D. Vance. Dass | |
Menschenrechte von allen verschieden verstanden und zum Kampfbegriff | |
werden, halte sie für eine schockierende Entwicklung. | |
Der zweite Tag des Kongresses fand ebenfalls in einem historischen Gebäude | |
statt, im Alten Rathaus von Nürnberg. Der ukrainische Menschenrechtler, | |
Journalist und ehemalige Kriegsgefangene [2][Maksym Butkevych] berichtete | |
während des ersten von vielen anregenden Panels an diesem Tag von seinen | |
Erfahrungen: „Die Genfer Konvention fand bei uns keine Anwendung.“ Er wies | |
darauf hin, dass ukrainische Kriegsgefangene immer wieder hingerichtet | |
werden, die Verbrechen von den russischen Soldaten selbst mit Videos | |
dokumentiert werden. | |
Seine Zeit in Kriegsgefangenschaft sei wie „zwei Jahre und vier Monate der | |
Menschenrechts-Feldforschung“ gewesen. In der Haft habe er auch die | |
verheerende Wirkung der Propaganda verstanden, der Fernseher in seiner | |
Zelle lief rund um die Uhr. Er wünschte sich, dass insbesondere die | |
Propagandisten, ohne die dieser Krieg nicht möglich wäre, bestraft werden. | |
Das wird nicht einfach in einer Zeit, in der selbst der US-Präsident | |
russische Propaganda verbreitet. | |
## Die Grenzen der Gerechtigkeit | |
Magda Koole, Richterin am Berufungsgericht in Den Haag, ist Realistin: | |
„Gerechtigkeit kommt oft spät, und Gerechtigkeit hat auch ihre Grenzen.“ | |
Sie benannte die vier Möglichkeiten, die Ukrainer:innen haben, um | |
Gerechtigkeit zu erfahren. Erstens das Justizsystem der Ukraine. Zweitens | |
der Internationale Strafgerichtshof, der den Haftbefehl gegen Putin | |
erlassen hat – was von großem symbolischen Wert sei. Drittens das System | |
der universellen Gerichtsbarkeit, wenn unbeteiligte Länder wie Deutschland | |
über die Verbrechen richten. Und viertens die Einrichtung eines Tribunals. | |
Dass auch zusätzliche „zivilgesellschaftliche“ Strategien existieren, davon | |
berichtete der Schriftsteller und Journalist Stanislaw Assjejew, der nach | |
Beginn der russischen Aggression im Osten der Ukraine 2014 in Donezk blieb | |
und das Geschehen dokumentierte. Er landete im berüchtigten Foltergefängnis | |
Isoljazija, in einem ehemaligen Kunstzentrum. | |
Seine Erfahrungen verarbeitete er zunächst literarisch. Jetzt zahlt der von | |
ihm gegründete Justice Initiative Fund Belohnungen für Hinweise über | |
russische Kriegsverbrecher aus, darunter über diejenigen, die ihn | |
persönlich folterten. Vorbild sei für ihn die Strategie Israels, das nach | |
dem Zweiten Weltkrieg weltweit Nationalsozialisten jagte – wenngleich es | |
gegenwärtig keine Möglichkeiten gebe, die Verbrecher in die Ukraine zu | |
bringen. Aber ihr Tod an der Front sei für ihn „auch eine Form der | |
Gerechtigkeit“. | |
## Zerbombte Krankenhäuser | |
Die in Wien lebende Publizistin Maynat Kurbanova berichtete von den | |
Schrecken der Tschetschenienkriege, die sie selbst erleben musste. Schon | |
damals zerbombte die russische Armee Krankenhäuser, unzählige | |
Zivilist:innen starben, aber keiner habe den Tschetschen:innen | |
zugehört. | |
Den Epilog zur Veranstaltung hielt [3][Omri Boehm,] Professor für | |
Philosophie an der New School for Social Research in New York. Es gelte, | |
die Logik des totalen Krieges zu verhindern. Jeder Mensch verdiene Schutz – | |
auch Palästinenser:innen. Doch die aktuellen Ereignisse in Israel und in | |
der Ukraine ließen Zweifel aufkommen, „ob wir das Ideal des ewigen Friedens | |
ernst nehmen“. | |
25 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Yelizaveta Landenberger | |
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