| # taz.de -- Erste Uni-Professorin Deutschlands: Die widersprüchliche Pionierin… | |
| > Deutschlands erste Uni-Professorin wurde von Kollegen angefeindet und | |
| > schließlich von den Nazis rausgeschmissen. Ihre Gedanken sind bis heute | |
| > aktuell. | |
| Bild: Hinterfragte die Geschlechterverhältnisse schon vor rund 100 Jahren: Mat… | |
| Leipzig taz | Es gibt da ein Zitat, das die Lehre von Mathilde Vaerting auf | |
| den Punkt bringt: „Begabung ist an kein Geschlecht gebunden.“ Als sie am | |
| 17. November 1923 in Jena ihre erste Vorlesung als Professorin für | |
| Pädagogik hielt, kämpfte sie um Anerkennung für diesen Satz. Schon die | |
| Umstände verdeutlichen das: Es war nicht nur Vaertings erste Vorlesung, es | |
| war die allererste Vorlesung überhaupt, die eine Frau als ordentliche | |
| Professorin an einer deutschen Universität gehalten hat. | |
| Statt – wie bei Antrittsvorlesungen üblich – in der großen, feierlichen | |
| Aula der Friedrich-Schiller-Universität, stand Vaerting an diesem Samstag | |
| in einem kleinen Hörsaal. Wenige waren gekommen, ein großes Presseecho über | |
| die erste Professorin blieb aus. Etwa zehn Jahre lehrte Vaerting in Jena. | |
| Sie wurde angefeindet, weil sie eine Frau war – aber nicht nur deshalb. | |
| Mathilde Vaerting sei eine „sehr, sehr widersprüchliche“ Frau gewesen, sagt | |
| heute Margret Kraul. Wie Vaerting ist sie Professorin für Pädagogik, | |
| allerdings an der Uni in Göttingen. Sie beschäftigt sich seit mehr als 30 | |
| Jahren mit Vaertings Geschichte. „Für mich zeichnet sie sich durch eine | |
| angestrengte Ernsthaftigkeit aus“, sagt Kraul. Getroffen hat sie Vaerting | |
| nie, aber daraus, wie sie Briefe formulierte, sich in ihren Schriften | |
| ausdrückte oder wie andere über die erste Uni-Professorin urteilten, | |
| schließt Kraul das: „Ich kann sie mir nicht als locker vorstellen.“ | |
| Geradezu radikal habe Vaerting ihre Überzeugungen vertreten, war | |
| durchdrungen vom Wunsch nach Gleichberechtigung. Sie identifizierte | |
| Machtgefälle zwischen Generationen, „Rassen“ und Geschlechtern. Ihren | |
| Glauben. Ihre Überzeugungen habe sie auch in der Auseinandersetzung gegen | |
| große Widerstände beibehalten. Allerdings gebe es eben auch | |
| „Schattenseiten“ bei Vaerting, sagt Kraul. Etwa ihre aus heutiger Sicht | |
| unwissenschaftlichen Äußerungen zu [1][„Eugenik“] nach dem Ersten | |
| Weltkrieg. Ebenso ihre „Radikalität – etwa das Ablehnen jeglichen | |
| Auswendiglernens – die keinerlei Kompromisse zugelassen habe“. | |
| ## Vaerting hinterfragte Geschlechterordnung | |
| Als Vaerting 1923 an die Uni Jena kam, waren ihre Ansichten zur „Eugenik“ | |
| nicht der zentrale Problempunkt. Ihre Professur galt als „Zwangsprofessur“. | |
| Nicht die Uni selbst hatte sie berufen, sondern der SPD-Bildungsminister | |
| Max Greil. In Thüringen regierte zu der Zeit eine Koalition der | |
| Sozialdemokraten mit der KPD. Um die Reformpädagogik zu stärken, berief | |
| diese neben Mathilde Vaerting auch [2][Peter Petersen an die Uni-Jena]. Für | |
| die Universitätsangehörigen ein Affront. „Nur, dass man sich bei Herrn | |
| Petersen an der Uni recht schnell damit abgefunden hat“, erzählt Kraul. | |
| Vaertings Lehre hingegen – sie stellte die herrschende Geschlechterordnung | |
| infrage – war umstritten. Sowohl sie selbst als Frau als auch ihre Thesen | |
| waren ihren Kollegen offensichtlich ein Dorn im Auge. | |
| Die Vorstellung, Frauen seien weniger intelligent, war damals noch weiter | |
| verbreitet als heute. Und genau dagegen argumentierte Vaerting in ihren | |
| Schriften. Sie betrieb, was mittlerweile vielleicht Gender Studies heißen | |
| würde, und kritisierte etwa pädagogische Erhebungsmethoden, die männliche | |
| Probanden bevorzugten. | |
| Bis heute [3][dominieren Männer die Wissenschaft]. Auch wenn der | |
| Frauenanteil unter Professor:innen in den vergangenen 10 Jahren um 8 | |
| Prozentpunkte gestiegen ist, lag er laut Statistischem Bundesamt 2023 nur | |
| bei 29 Prozent. Je nach Fach, gab es dabei Unterschiede: in den | |
| Geisteswissenschaften waren 43 Prozent weiblich, bei den | |
| Ingenieurwissenschaften 16 Prozent. | |
| Besonders verglichen mit der Zahl der Hochschulabsolventinnen, die seit | |
| Jahren konstant die Hälfte ausmachen, ist der Anteil an Professorinnen | |
| immer noch niedrig. Je höher die Stufe der akademischen Karriere, desto | |
| niedriger der Frauenanteil. | |
| ## Vorwurf „Feminismus“ | |
| Als Margret Kraul 1986 ihre Habilitation in Hannover abschloss und | |
| feststand, dass sie demnächst eine Antrittsvorlesung halten musste, suchte | |
| sie nach Inspiration. Wer war die erste Frau, die eine Professur für | |
| Pädagogik in Deutschland antrat? Sie fand den Namen Mathilde Vaerting – | |
| doch nicht viel mehr: „In Kürschners Deutschem Gelehrtenkalender etwa | |
| standen unterschiedliche Geburtsdaten.“ Also machte Kraul sich selbst auf | |
| die Suche. Ihren Worten nach folgte sie Spuren, telefonierte Namen ab, | |
| schaute sich den Geburtsort an, stieß auf Vaertings Lebensgefährten, der | |
| damals noch lebte, besuchte auch den und stöberte in alten Dokumenten. | |
| Während Vaerting an der Uni in Jena ankam, änderten sich in Thüringen | |
| rasant die politischen Verhältnisse. Noch bevor Vaerting im November 1923 | |
| ihre Antrittsrede hielt, besetzten Truppen der Reichswehr die damalige | |
| Landeshauptstadt Weimar, um eine drohende Revolution der | |
| Kommunist:innen zu unterdrücken. Die KPD-Minister traten zurück, die | |
| SPD-Regierung blieb noch bis Februar im Amt. Danach kam der bürgerliche | |
| „Thüringer Ordnungsbund“ an die Macht – mit Unterstützung der „Verein… | |
| Völkischen Liste“, einer Tarnorganisation der zu der Zeit verbotenen NSDAP. | |
| Obwohl die politische Rückendeckung verschwand, blieb Vaerting Professorin. | |
| Sie hielt kaum Vorlesungen, bekam kein Prüfungsrecht und war weiter | |
| Anfeindungen ausgesetzt. Der Zoologe, Sozialdarwinist und bekennende | |
| Antisemit Ludwig Plate veröffentlichte 1930 eine Schmähschrift gegen seine | |
| Kollegin Mathilde Vaerting unter dem Titel „Feminismus unter dem Deckmantel | |
| der Wissenschaft“, in der er ihre Kompetenz in Zweifel zog. | |
| Während ihrer Zeit als Pädagogik-Professorin in Jena habe Vaerting | |
| versucht, eine andere Stelle zu finden. „Sie hat sich dann eigentlich sehr | |
| stark der Soziologie zugewandt“, erzählt Kraul. Doch am Ende ging Vaerting | |
| nicht freiwillig. | |
| ## Vaerting versuchte erfolglos, sich der NSDAP anzudienen | |
| „Sie war nie Mitglied der NSDAP. Und ich würde sagen, sie war eher links | |
| orientiert“, erzählt Kraul. Aber als sie entlassen werden sollte, diente | |
| sie sich in einem Schreiben den neuen Machthabern an. In einem Brief an | |
| Uni-Rektor Abraham Esau, der 1933 in die NSDAP eingetreten war, bat | |
| Vaerting, er möge sich für sie einsetzen. Begründend habe sie geschrieben, | |
| dass sie „nationalsozialistische Schüler“ in Berlin habe, die darauf | |
| aufmerksam machen könnten, wie viele „nichtarische“ Professoren in Jena | |
| noch an der Universität lehrten. | |
| „Das ist eine ganz große Drohung der Universität gegenüber, von der sie | |
| fordert, dass sie sich für ihre Weiterbesetzung einsetzen soll“, so Kraul. | |
| Ein „Tabubruch“. Deswegen habe Kraul ihre Recherchen zur Geschichte | |
| Vaertings immer wieder weggelegt. Ihr sei allerdings weder klar, von | |
| welchen Schülern Vaerting geschrieben habe, noch welche „nichtarischen“ | |
| Professoren in Jena hätten weiter lehren dürfen. „Der Nationalsozialismus | |
| war in Jena schon weit fortgeschritten.“ | |
| Trotz der Drohung: Vaertings Zeit als Professorin endet 1933. Am 5. Mai, | |
| Adolf Hitler und seine NSDAP waren schon an der Macht, vermeldete die | |
| Saale-Zeitung: Das Thüringer Volksbildungsministerium habe sie und acht | |
| andere Professoren „beurlaubt“. Nach dem „Gesetz zur Herstellung des | |
| Berufsbeamtentums“ waren neben rassistischen und antisemitischen Gründen | |
| unter anderem die zu entlassen, von denen nicht zu erwarten sei, dass sie | |
| dem NS treu bleiben. | |
| Auch nach dem Ende der NS-Diktatur bekam Vaerting keine Stelle mehr als | |
| Professorin. Sie gab zwar über Jahre die Zeitschrift für Staatssoziologie | |
| heraus, geriet aber weitgehend in Vergessenheit. | |
| ## Individualität gegen Autoritarismus | |
| Erst als sich Vaertings Amtseinführung 2023 zum hundertsten Mal jährte, | |
| wurde an der Friedrich-Schiller-Universität ein Symposium zu ihrem Leben | |
| und Wirken organisiert. Einen der vier Vorträge dazu hielt Sarah Ganss, | |
| wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Historische Pädagogik und | |
| Globale Bildung in Jena. | |
| Für das Symposium betrachtete Ganss vor allem, was Vaerting in ihrer | |
| Schrift, „Das Verhältnis der Geschlechter und seine Bedeutung für das | |
| politische Gleichgewicht“, über Gleichberechtigung und lebenslanges Lernen | |
| formulierte. „Wenn man liest, was sie vor etwa hundert Jahren geschrieben | |
| hat, ist das im Grunde super aktuell und sehr modern gedacht“, findet | |
| Ganss, auch wenn Vaerting als Kind ihrer Zeit etwa Geschlecht | |
| ausschließlich binär gedacht habe. | |
| Welchen Mehrwert Ganss in Vaertings Theorie sieht? Beim Lesen sei Ganss ins | |
| Grübeln gekommen, „inwieweit Persönlichkeitsbildung zur Demokratiebildung | |
| beitragen kann“. Vaerting schrieb etwa, durch die Persönlichkeitsbildung | |
| entstehe ein moralischer Gerechtigkeitssinn. „Wenn Menschen eine | |
| Persönlichkeit bilden, könnten sie autokratischen Verführungen besser | |
| widerstehen“, so Ganss. Sie habe sich gefragt, ob das nicht ein | |
| interessanter Ansatz für die Demokratiebildung sei. | |
| Vaerting schrieb über den Versuch des herrschenden Geschlechts der Männer, | |
| als Teil des Machtkampfs ein Frauenbild zu entwerfen und das zu einer | |
| einheitlichen, homogenen „Frauenmasse“ umzusetzen. Eine solche sei | |
| politisch einfacher zu beeinflussen als viele individuelle Frauen, so | |
| Vaerting. Im Gegensatz dazu wollte die erste Professorin keinen neuen Typus | |
| von Frau, Mann oder Kind ausrufen, sondern, „eine echte, individuelle | |
| Persönlichkeit“ ermöglichen. | |
| Hundert Jahre nach ihrer unscheinbaren Antrittsvorlesung, gedachte die | |
| Universität Jena Mathilde Vaerting, indem sie bei der Einweihung einer | |
| Gedenktafel die Schauspielerin Johanna Geißler in ihre Rolle schlüpfen | |
| ließ. Diese holte nach, was Vaerting verwehrt geblieben war: Sie hielt ihre | |
| Lesung feierlich in der großen Aula. | |
| 30 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| David Muschenich | |
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