# taz.de -- Teilhabe für Armutsbetroffene: Wenn Verwaltung es nicht hinkriegt | |
> Seit der Abschaffung des Berlin-Passes gibt es Probleme mit | |
> Vergünstigungen wie dem Sozialticket. Betroffene klagen über | |
> Diskriminierung. | |
Bild: Vor dem Gang ins Schwimmbad müssen schonmal 6-DIN-A4-Seiten Leistungsbes… | |
Berlin taz | Annette Schmidt* trauert [1][dem Berlin-Pass] immer noch nach, | |
dabei wurde er vor zwei Jahren abgeschafft. „Alles war so einfach damit, | |
man hatte einen Nachweis für das Sozialticket und kam günstig ins | |
Schwimmbad, Kino oder in Volkshochschulkurse. Jetzt ist alles unsicher und | |
kompliziert.“ | |
Mit ihrer Forderung, den Berlin-Pass wiederauferstehen zu lassen, steht die | |
Mittvierzigerin nicht alleine. Jeden Dienstag trifft sich Schmidt im | |
Infoladen Lunte in der Neuköllner Weisestraße mit anderen Betroffenen und | |
linken Aktivisten. Die Gruppe nennt sich „Bewegung 9-Euro-Ticket“ und | |
befasst sich mit den Folgen der Abschaffung des Berlin-Passes. | |
Im Fokus der Aktivist:innen: der Verlust des Sozialtickets, nach seinem | |
aktuellen Preis auch 9-Euro-Ticket genannt. „Es ist ein Skandal, über den | |
keiner spricht“, fasst Tim* die Ansicht der Gruppe zusammen. „Die Politik | |
schafft ein funktionierendes System ab und führt etwas ein, das nicht | |
funktioniert. Ausbaden müssen es die Armen.“ | |
Der Berlin-Pass war 2009 eingeführt worden, um Empfängern von | |
Sozialleistungen die Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben zu | |
erleichtern. Möglich wurde so der Besuch in vielen Theatern, Kinos, | |
Schwimmbädern, Volkshochschulen etc. zu vergünstigtem Eintritt. Zudem | |
erhielten die Inhaber das Sozialticket, das früher 27 Euro kostete und im | |
Corona-Jahr 2021 auf 9 Euro verbilligt wurde. Das aufklappbare Papier im | |
Scheckkartenformat wurde in den Bürgerämtern ausgestellt und verlängert. | |
## Entlastete Verwaltungen | |
2022 gab es laut Sozialverwaltung rund 169.000 Berlin-Pass-Inhaber bei | |
eigentlich 600.000 Berechtigten. Sprich: Nur ein Viertel der Berechtigten | |
hat die Leistung zuletzt in Anspruch genommen. Grund dafür seien in der | |
Corona-Zeit eingeführte Änderungen gewesen, so ein Sprecher der | |
Sozialverwaltung. Unter anderem habe man ein schriftliches Antragsverfahren | |
bei den Bürgerämtern eingeführt. | |
So war die Nutzung des Berlin Passes schon seit einiger Zeit erschwert und | |
entsprechend weniger geworden. [2][Zum 1. Januar 2023 wurde der Berlin-Pass | |
dann abgeschafft.] Begründung: Die überarbeiteten Bürgerämter müssten | |
entlastet, die Verwaltung digitalisiert werden. Ersteres sei auch | |
geschehen, so die Sprecherin des Senats, Christine Richter: Es seien | |
„spürbare Kapazitäten an Terminen für die Kerndienstleistungen der | |
Bürgerämter frei geworden, weshalb deutlich mehr Termine vergeben werden | |
können.“ | |
Für die Betroffenen waren die Effekte weniger positiv, fortan klappte | |
nichts mehr. Der Nachfolger des Berlin-Passes namens „Berechtigungsausweis“ | |
sollte von der jeweiligen Behörde automatisch verschickt werden, von der | |
Transferleistungen bezogen werden. Darin sollte sich ein QR-Code befinden, | |
mit dem bei der BVG eine VBB-Kundenkarte Berlin S beantragen werden könnte | |
– nur mit dieser ist das Sozialticket nutzbar. | |
Doch die Ämter – Jobcenter, Sozialamt, Wohnungsamt, Landesamt für | |
Flüchtlingsangelegenheiten –, verschickten die Berechtigungsausweise oft | |
viel zu spät, es gab Berichte von technischen Probleme mit dem QR-Code, | |
viele Kunden verstanden das neue System auch nicht. Darum galt zunächst | |
eine „Übergangsregelung“, wonach der Nachweis ausreichte, dass man | |
Leistungen von einer Sozialbehörde erhält, um mit dem Sozialticket fahren | |
zu dürfen. | |
## Ungerechtfertigte Knöllchen | |
Als diese Regelung im Oktober 2023 auslief, bekamen Tausende Betroffene bei | |
Fahrkarten-Kontrollen ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ (EBE) aufgebrumm… | |
weil sie keine VBB-Kundenkarte S hatten. Was weiterhin allerdings nicht an | |
ihnen, sondern an den Behörden lag, die die „Berechtigtenausweise“ nicht | |
ordentlich verschickten. | |
Damals gründete sich die Bewegung 9-Euro-Ticket, erinnert sich Tim. „Wir | |
gingen in den Sozialausschuss des Abgeordnetenhauses, wo das Thema auch auf | |
unsere Beschwerde hin diskutiert wurde, wir verteilten Info-Zettel vor den | |
BVG-Kundencentern, wo die Leute deswegen Schlange standen.“ [3][Dass die | |
Politik im Januar 2024 reagierte und die „Übergangsregelung“ wieder in | |
Kraft setzte,] die bis heute gilt, verbucht Tim als Erfolg. | |
„Nur weil sich so viele beschwert haben, wurde diese VBB-Karte wieder | |
abgeschafft“, sagt er. Aber bis heute gebe es viele Probleme: Was sei zum | |
Beispiel mit den EBEs, die viele Menschen ohne eigenes Verschulden bekamen? | |
„Manche haben sogar schon Mahnungen bekommen, da drohen demnächst | |
Ersatzfreiheitsstrafen“, sagt Tim. | |
Auch Christiane* und Anna*, die beim Treffen in der Lunte dabei sind, haben | |
Post von Inkassounternehmen bekommen, beide haben drei EBE trotz | |
Sozialticket bekommen. Insgesamt hat die BVG laut einem Sprecher in 2023 | |
rund 21.600 EBE in Verbindung mit dem Sozialticket ausgestellt, 2024 waren | |
es rund 5.700. Zeigen Menschen binnen einer Woche ihr Sozialticket nach, | |
wird das EBE bis auf 7 Euro „Verwaltungsgebühr“ erlassen. | |
## Ungewisse Zukunft | |
Unklar ist, wie es weitergeht. Die bisherige „Übergangsregelung“ sei keine | |
gute Lösung, sagen Annette, Christiane und Anna übereinstimmend. Es sei | |
„stigmatisierend“, wenn man in Bus und Bahn vor anderen Menschen den | |
Leistungsbescheid einer Behörde, ein weißes DIN-A-4-Blatt, vorweisen muss. | |
„Das ist gerade in dieser aufgeheizten Stimmung, wo viel gegen | |
Bürgergeld-Empfänger gehetzt wird, eine Demütigung“, sagt Annette. | |
Auch Christoph Dittrich vom 9-Euro-Fonds kritisiert die „Diskriminierung | |
bei der Kontrolle“, wenn man seinen Leistungsbescheid vorzeigen muss. Dies | |
sei zudem ein Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen. Der 9-Euro-Fonds | |
bezahlt Menschen, die bei einer Fahrkartenkontrolle erwischt werden, das | |
EBE. | |
Dennoch wird die „Übergangsregelung“ vorerst bestehen bleiben. Bis Ende | |
Juni 2025 gelte sie weiter, so der Sprecher der Sozialverwaltung. Zunächst | |
hatte man dort an eine App gedacht, mit der Sozialleistungsbezieher ihre | |
Berechtigung nachweisen können – [4][aber das geht nicht wegen | |
Datenschutzbestimmungen]. Seither arbeite man an einer neuen Lösung, | |
erklärte der Sprecher. Wie die aussieht, sei völlig offen. Gut möglich | |
also, dass das derzeitige Verfahren eine Dauerlösung wird. | |
Ein weiteres Problem: Die vergünstigten Eintritte gibt es offenbar auch | |
nicht mehr überall. So berichtet Anna, sie sei kürzlich bei der | |
Volkshochschule abgeblitzt, als sie mit ihrem Leistungsbescheid vergünstigt | |
eine Veranstaltung besuchen wollte. | |
Der Sprecher der Sozialverwaltung widerspricht: Weiterhin sollten | |
berechtigte Personen von den Ermäßigungen profitieren können. Man wisse | |
aber, „dass es in einigen Fällen noch zu Missverständnissen oder | |
Schwierigkeiten kommen kann“. Er verspricht, man werde mit den betroffenen | |
Einrichtungen „Lösungen finden“. | |
## Sozialticket deutlich verteuert | |
Für großen Unmut sorgt auch die drastische Verteuerung des Sozialtickets: | |
Ab April 2025 wird es auf 19 Euro pro Monat erhöht. Dittrich vom | |
9-Euro-Fonds nennt diesen 111-prozentigen Aufschlag „unverschämt“. Der | |
SPD-Sozialpolitiker Lars Düsterhöft erklärte kürzlich: Die Absenkung auf 9 | |
Euro sei seinerzeit als „Unterstützungsmaßnahme und zur Entlastung der | |
Menschen in Berlin in der Krise“ erfolgt. Diese Krise sei nun vorbei. | |
In der Lunte kann man darüber nur den Kopf schüttern. Tim: „In welcher Welt | |
leben solche Menschen eigentlich?“ | |
*Namen auf Wunsch geändert | |
5 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Sozialticket-nach-dem-Berlin-Pass/!5980971 | |
[2] /Nachfolger-des-Berlin-Passes/!5980705 | |
[3] /Neues-vom-Berlin-Pass-Nachfolger/!5983124 | |
[4] /Aerger-mit-dem-Sozialticket/!6033091 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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