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# taz.de -- Spielfilm „Das Mädchen mit der Nadel“: Überleben im Dämmerli…
> Auf der Suche nach einem besseren Leben stürzt eine Näherin immer weiter
> ab. Der Historienfilm „Das Mädchen mit der Nadel“ ist Zeugnis sozialer
> Härte.
Bild: Hier sticht sie noch heraus: Karoline (Vic Carmen Sonne) in „Das Mädch…
Ehe Karoline (Vic Carmen Sonne) zum „Mädchen mit der Nadel“ wird, hat sie
bereits ein langes Martyrium hinter sich. Weil sie mit der Miete im
Rückstand war, hat sie ihr Vermieter aus ihrer kärglichen Kammer in einem
ärmlichen Viertel von Kopenhagen geworfen. Danach muss sie in einen
finsteren Verschlag ohne fließend Wasser umziehen. Das kleine Fenster lässt
sich nicht öffnen, dafür hat das Dach ein Leck.
Je tiefer die junge Frau fällt, desto mehr schwindet auch das Licht aus
diesem düsteren Drama des schwedischen Regisseurs Magnus von Horn. Der
polnische Kameramann Michał Dymek transkribiert den Gemütszustand von
Karoline in kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder, die dem Film unmittelbar
die finstere Aura des Unheimlichen verleihen. Auch wenn sie sich erhellen,
sobald Karoline neue Hoffnung schöpft, geht von ihnen etwas Bedrohliches
aus.
Etwa als Jørgen, der Besitzer der Fabrik (Joachim Fjelstrup), in der die
Protagonistin als Näherin arbeitet, ihr seine aufrichtige Aufmerksamkeit
widmet und sich die Dinge für Karoline zum Besseren zu wenden scheinen. Sie
tauschen Zärtlichkeiten aus, die im scharfen Kontrast zur sozialen Härte
stehen, die das eigentliche Sujet des Films bleibt.
Denn Magnus von Horn, der das Drehbuch gemeinsam mit Line Langebek Knudsen
verfasste, weitet den Blick immer wieder zu einem grimmen Panoptikum des
Proletariats, das sich am Ende des Ersten Weltkriegs mit schwerer
körperlicher Arbeit über Wasser zu halten versucht, mit verhärteten
Gesichtern durch die schlammigen Straßen der Stadt huscht und weder Kraft
noch Kapazitäten besitzt, sich um die Sorgen des jeweils Nächsten zu
scheren.
Eine Aschenbrödel-Geschichte hat darin freilich keinen Platz, und so wird
Karoline vom eigentlich heiratswilligen Jørgen verlassen, als dessen Mutter
mit Enterbung droht. Auch ihre Anstellung verliert sie. Zudem kehrt mit
Peter (Besir Zeciri) der Mann zurück, mit dem sie eigentlich bereits
verheiratet ist. Anders als von Karoline vermutet, ist der Soldat zwar
nicht gefallen. Doch wurde ihm ein Teil des Gesichts durch ein Geschoss
weggesprengt, sodass er es nun unter einer Maske verbirgt.
## Spiel mit Erwartungen
Wenn Karoline wenig später zur titelgebenden Nadel greift, scheint es für
einen Augenblick, als würde sie ob ihrer ausweglosen Situation, der
Verzweiflung und zahlreichen Enttäuschungen endgültig zu der
Serienmörderin, von der das Historiendrama laut Ankündigung handelt. Doch
[1][dem Film „Das Mädchen mit der Nadel“ gelingt es, auch durch seine
starke Besetzung], lange undurchschaubar zu bleiben und mit Erwartungen zu
spielen.
Tatsächlich will Karoline mit dem spitzen Strickwerkzeug das nun ungewollte
Baby des Fabrikbesitzers in einem öffentlichen Bad abtreiben. Eine fremde
Frau namens Dagmar (Trine Dyrholm) bemerkt, was sie vorhat, hindert sie
daran, sich weiter zu verletzen, und bietet Karoline ihre Hilfe an. Sobald
sie das Kind geboren hat, solle sie zu ihr kommen. Dann werde Dagmar es,
gegen eine Gebühr, an eine geeignete Pflegefamilie vermitteln.
Karoline tut wie geheißen und wird sogar zur Amme für die Tochter Dagmars,
die heimlich eine Art illegale Adoptivagentur für verzweifelte Frauen aus
der Arbeiterschicht zu betreiben scheint. In Karoline wird abermals die
Hoffnung geweckt: Bald verbindet sie eine enge Beziehung zu Dagmar und
deren Tochter Erena (Ava Knox Martin), sie gehen gemeinsam ins Kino und
betäuben sich mit Ether und Naphtha, wenn das Lichtspielhaus allein nicht
genug Helligkeit in den trostlosen Alltag bringt.
Erst gegen das Ende hin offenbart „Das Mädchen mit der Nadel“ sein
grausames Geheimnis und die wahren Ereignisse, von denen der Film
inspiriert ist, der nun für Dänemark ins Rennen um den internationalen
Oscar geht. [2][Magnus von Horns vermeintliches Schauermärchen] entpuppt
sich dann, trotz aller Grausamkeiten und grotesker Überhöhungen, als
mitfühlendes Sozialdrama. Eines, in dem auch ein überzeugendes Plädoyer für
staatliche Fürsorgepflicht und weibliche Selbstbestimmung mitschwingt.
8 Jan 2025
## LINKS
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[2] /Maennlicher-Blick-bei-den-Filmfestspielen/!6008693
## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
Spielfilm
Historienfilm
Sozialdrama
Dänemark
Serienmörder
Film
Western
Frauen im Film
Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes
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