| # taz.de -- „Vatermal“ am Gorki-Theater: Mütter unter Druck | |
| > Hakan Savaş Mican rückt in der Bearbeitung von Necati Öziris Roman | |
| > „Vatermal“ am Berliner Gorki-Theater starke Frauen in den Vordergrund der | |
| > Handlung. | |
| Bild: Zwei starke Frauen, ein Typ: Flavia Lefèvre, Sesede Terziyan und Doğa G… | |
| Der Protagonist leidet. Arda (Doğa Gürer) liegt im Krankenhaus. Die | |
| Leberwerte stimmen nicht, was nicht am Saufen liegt, sondern an einer | |
| Autoimmunerkrankung. Ob er überlebt, bleibt unklar. Der Bühnenraum ist | |
| daher angefüllt mit blutroten Projektionen (Bühne: Alissa Kolbusch, Video: | |
| Sebastian Lempe). | |
| Das sieht mal wie Rosen auf dem Grab aus, es kann sich aber auch um | |
| CT-Aufnahmen von Innereien und Zellstrukturen des angegriffenen Blutes | |
| handeln. Es fügt sich schließlich zu einer rot ausgeleuchteten | |
| Cabaret-Bühne, auf der Kristina Koropecki (Cello) und Mascha Juno | |
| (Percussion) für stimmungsvolle Live-Klangwolken sorgen. | |
| In diesem Ambiente läuft das Leben noch einmal vor dem inneren Auge Ardas | |
| ab. Das Herumlungern mit den Kumpels vor einem Bahnhof irgendwo im | |
| Ruhrgebiet etwa. Als Teenager kiffen sie noch. An der Schwelle zum Twen | |
| landet der eine im Knast, ein anderer wird aus Deutschland abgeschoben. | |
| Migrantengeschichten, wie das Leben sie schreibt und der Rechtsstaat sie | |
| oft genug auch aufdrückt. | |
| ## Wenig tragische Dimensionen | |
| Interessanter als Arda, der als Figur außer seiner Krankheit und dem | |
| vaterlosen Aufwachsen nicht allzuviel tragische Dimensionen aufweist, sind | |
| die Frauenfiguren dieser szenischen Anordnung. Die Schwester Aylin etwa, | |
| die gegen die Mutter rebelliert, weil sie als Kind zur Oma abgeschoben | |
| wird. | |
| Trotzdem kümmert sie sich später um die dem Alkohol ergebene Mutter, wischt | |
| das Erbrochene auf, passt auch auf Arda auf. Sie haut dennoch ab, entbrennt | |
| in Liebe zu einer deutschen Polizistin – was gleich mehrfachen Tabubruch | |
| bedeutet: lesbisch, Einlassen mit Deutschen, einer Ordnungshüterin gar. | |
| Flavia Lefèvre spielt diese Aylin tough und kompromisslos. Dass die Mutter | |
| nicht gar so ein Scheusal war, wie man sie sich aus den töchterlichen Augen | |
| konfigurieren mag, erzählt in mehreren Rückblicken Terziyan. Als junges | |
| Mädchen wird auch sie abgeschoben, zur Tante diesmal, weil ihre Eltern zum | |
| Geldverdienen nach Deutschland ziehen. | |
| ## Härte und Druck | |
| Für das Kind ist kein Platz, kein Geld, keine Kinderbetreuung in der Fremde | |
| zu erwarten. Das ist der Druck, dem wiederum ihre Mutter ausgesetzt ist. | |
| Lefèvre verleiht der Großmutterfigur in einem Kurzauftritt die gleiche | |
| Härte, die sie auch als Aylin in ihrer Auseinandersetzung mit der eigenen | |
| Mutter hat. | |
| Der Kampf der Frauen aus drei Generationen miteinander und gegeneinander, | |
| in den sie verkeilt sind, obwohl sie jeweils nur das Beste wollen, gerade | |
| auch füreinander, erweist sich wegen der Präsenz der beiden Darstellerinnen | |
| als tragende Säule des Abends. Terziyan hat dabei die größte Bandbreite. | |
| Sie porträtiert eine Frau, die nach dem Leben greift, erst scheu, später | |
| resolut. Nach vielen Enttäuschungen geht der Griff nicht mehr zum Leben, | |
| sondern zu Flaschen mit einem blauen Etikett und dem Markennamen „Jelzin“. | |
| Hakan Savaş Mican hat diese Familiengeschichte in den Kunstraum einer rot | |
| ausgeleuchteten Bar transportiert. Das macht sie zur Parabel, zu einer | |
| Geschichte, die bewältigt ist, die sogar in Songs erzählt werden kann, mit | |
| denen die Interpreten gewisse Berühmtheit erlangen. | |
| Damit wird auch demonstriert, dass Geschichten vom migrantischen Aufwachsen | |
| nicht nur – endlich – Platz finden in der Öffentlichkeit, sondern dass sie | |
| Massenappeal haben und Erfolgsfaktoren sein können. Die Genese von | |
| „Vatermal“ spricht dafür. Ardas Lebensgeschichte kam vor sieben Jahren als | |
| „get deutsch or die tryin’“ auf der Studiobühne des Gorki heraus. | |
| Später machte Gorki-Dramaturg Öziri den Roman daraus, der diverse | |
| Literaturpreise abräumte. Die Romanbearbeitung wiederum kann sich auf der | |
| großen Bühne entfalten. Dort dann vor allem als Show der Frauen, was ein | |
| weiterer emanzipatorischer Dreh ist. | |
| 22 Dec 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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