# taz.de -- Vertrauensfrage: 394-mal Nein zu Olaf Scholz | |
> Nach der verlorenen Abstimmung im Bundestag blicken drei Abgeordnete | |
> zurück: zornig – aber auch nachdenklich. | |
Bild: Szenen am Rand: Kanzler Olaf Scholz läuft an Friedrich Merz und Christia… | |
BERLIN taz | Katharina Beck muss sich beeilen. Noch 15 Minuten, dann stellt | |
Olaf Scholz an diesem Montag im Bundestag die Vertrauensfrage. Damit | |
beginnt das letzte Kapitel der von ihm geführten Ampelregierung. Seitdem | |
die FDP die Koalition verlassen hat, besteht sie nur noch aus SPD und | |
Grünen. Eine Rumpfkoalition ohne parlamentarische Mehrheit. Die | |
Vertrauensfrage soll den Weg zu Neuwahlen frei machen. Beck, | |
finanzpolitische Sprecherin der Grünen, wird sich enthalten. Zum ersten | |
Mal, seit sie im Bundestag sitzt. Eine „Enthaltung mit Haltung“, findet | |
sie. | |
[1][Am 8. Dezember 2021 wurde Olaf Scholz zum Kanzler gewählt]. Damals hat | |
die taz sie sowie Lars Klingbeil (SPD) und Ria Schröder (FDP) begleitet. | |
395 Abgeordnete stimmten damals für Scholz. Auch Katharina Beck. Damals | |
sagte sie der taz: „Jetzt beginnt eine neue Ära.“ | |
Es wurde eine kurze Ära. An diesem Montag, fast genau drei Jahre später, | |
geht Beck mit gemischten Gefühlen in die Sitzung, die den letzten Akt der | |
Ex-Ampel-Regierung einläutet. „Ich habe mir viel von dieser Koalition | |
versprochen.“ Doch die fehlende Konstruktivität der FDP und ihre mangelnde | |
Verlässlichkeit seien oft unerträglich gewesen. [2][Scholz hat am 6. | |
November Lindner hart angegriffen.] Das, so Beck, „stimmte leider zu 100 | |
Prozent“. | |
Ihre persönliche Bilanz: ebenfalls gemischt. „Die letzten drei Jahre waren | |
einfach krass.“ Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die nach | |
oben schnellenden Energiepreise, die einsetzende Wirtschaftskrise – die | |
Koalition sei im ersten Jahr nur damit beschäftigt, die Kriegsfolgen | |
abzumildern. „Mit dem, was wir nach vorne gestalten wollten, konnten wir | |
erst ein Jahr später anfangen.“ Und da könne sich einiges sehen lassen. | |
Beck findet, dass die Ampel auf ihrem Gebiet, Steuer- und Finanzpolitik, | |
eine ganze Menge erreicht habe. Etwa beim Thema Mietwohnungsbau, der nun | |
finanziell attraktiv sei für Bauherrinnen, die sich an soziale und | |
ökologische Standards halten. Oder dass private Kinderbetreuungskosten | |
steuerlich besser absetzbar seien. Bei Verteilungsgerechtigkeit wurde zwar | |
nur wenig erreicht. Trotzdem bedauert Beck das Ampel-Ende. „Da steckte viel | |
Potenzial drin.“ | |
## Karlsruher Todesstoß | |
Warum ist die Ampel kaputtgegangen? Ria Schröder, FDP-Bildungspolitikerin, | |
sieht neben der Wirtschaftspolitik zwei Schlüsselmomente. „Habecks | |
Heizungsgesetz hat die Ampel in der Bevölkerung viel Vertrauen gekostet.“ | |
Und: „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023 zum | |
Klimatransformationsfonds war der Todesstoß.“ Danach fehlten 60 Milliarden | |
Euro. Sie will das Karlsruher Urteil inhaltlich nicht kritisieren. Aber | |
Tatsache war: „Das hat uns den Teppich unter den Füßen weggezogen.“ Damals | |
wäre, so Schröders selbstkritische Anmerkung, „eigentlich ein neuer | |
Koalitionsvertrag nötig gewesen“. Die FDP hätte das „stärker einfordern | |
müssen“. Vielleicht hätte man so ein Jahr Dauerzoff um den Haushalt | |
verhindern können, der allen schadete. Verschüttete Milch. | |
Was bleibt? Auf der Habenseite sieht Schröder gesellschaftspolitische | |
Fortschritte wie [3][die Abschaffung des 219a] und das | |
Selbstbestimmungsgesetz. Stolz ist sie auf das Startchancen-Programm, das | |
jedes Jahr zwei Milliarden Euro von Bund und Ländern für die Schulen | |
bringt. Und sie lobt die Zusammenarbeit mit den BildungspolitikerInnen von | |
Grünen und SPD. Es war nicht alles schlecht. | |
Die 32-jährige Schröder ist seit drei Jahren im Bundestag. Für die FDP | |
kandidiert sie auf Platz eins der Landesliste in Hamburg. Wenn die FDP fünf | |
Prozent bekommt, wird sie auch im nächsten Bundestag sein. | |
Scholz sei ein „schwacher Kanzler“ gewesen, sagt sie. Sie wird ihm das | |
Vertrauen verweigern, natürlich. 2025 wünscht sie eine andere Koalition. | |
Aber grundsätzlich „sollte eine Regierung auch mit SPD oder Grünen wieder | |
möglich sein. Demokratinnen und Demokraten sollten in der Lage sein, | |
Kompromisse zu finden.“ Es klingt eher melancholisch als wütend. Dann muss | |
sie zur Fraktionssitzung vor der Vertrauensfrage. | |
## Bei Scholz' Rede halten die Grünen still | |
Eine Stunde vor der Abstimmung im Bundestag trifft sich die SPD-Fraktion | |
zur Sitzung. Lars Klingbeil ist etwas früher gekommen. Als die taz ihn vor | |
drei Jahren vor der Wahl Olaf Scholz zum Bundeskanzler traf, sagte er, dass | |
er auf diesen Tag eineinhalb Jahre hingearbeitet hatte. Er sei megastolz. | |
An diesem Montag, an dem Scholz das Vertrauen entzogen wird, klingt er | |
gedämpfter. „Das ist kein Tag, auf den ich mit Stolz gucke. Er beschwert | |
mich eher. Aber die Entscheidung von Olaf Scholz, heute die Vertrauensfrage | |
zu stellen, ist richtig.“ | |
Hätte man das Ende der Ampel verhindern können? Klingbeil hat viel darüber | |
nachgedacht. „Man hätte nach Kriegsausbruch oder nach dem Urteil des | |
Bundesverfassungsgerichts im November 2023 noch einmal neu priorisieren | |
müssen. Wir hätten die Kraft haben müssen, uns noch mal drei Tage | |
einzuschließen.“ Er klingt in diesem Punkt ähnlich wie FDP-Frau Schröder. | |
Ein Versäumnis. Auch weil der Koalition, so Klingbeil, ein strategisches | |
Zentrum fehlte.Olaf Scholz kommt vorbei, [4][seine Frau Britta Ernst] | |
begleitet ihn. Scholz nickt freundlich und reicht Klingbeil die Hand. | |
Klingbeil begrüßt ihn, eilt mit ihm weiter. Vor der Fraktionssitzung gibt’s | |
noch eine kurze Vorbesprechung im ersten Führungskreis. Klingbeil hat | |
keinen Zweifel, dass alle SPD-Abgeordneten Scholz das Vertrauen aussprechen | |
werden. „Da habe ich keine anderen Signale.“ | |
Um 13 Uhr ist es so weit. Olaf Scholz tritt ans Rednerpult. Es ist eine | |
klare Dramaturgie. Die SPD-Fraktion bejubelt den Kanzler, der endlich | |
wieder klingt wie ein Sozialdemokrat. Die Grünen, die sich bei der | |
Vertrauensfrage enthalten, tun nichts. Kein Applaus, keine Zwischenrufe. | |
Die Union protestiert laut. | |
Scholz knöpft sich nochmal die FDP vor. Die hätte wochenlang die eigene | |
Regierung sabotiert. Den Liberalen fehle „die nötige sittliche Reife“, um | |
zu regieren. Der Kanzler adressiert seine Rede nicht an das Parlament, | |
sondern eher an die WählerInnen und platziert die SPD als Stimme der | |
sozialen Mitte. Die Union wolle faktisch Renten kürzen, die SPD hingegen | |
den Mindestlohn auf 15 Euro anheben und die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel | |
senken. Nur die SPD sorgt dafür, so Scholz, dass Deutschland sich via | |
Reform der Schuldenbremse beides leisten kann: einerseits Geld für die | |
Ukraine und die Bundeswehr, anderseits Investitionen und soliden | |
Sozialstaat. Es ist der erwartbare Mix – von Attacken auf die sozial kalte | |
Union und die treulose FDP – und von Sicherheitsversprechen an die | |
WählerInnen. Es ist eine Rede, die man so ähnlich im Wahlkampf noch öfter | |
hören wird. | |
## Merz und die Froschschenkel | |
Nach Scholz reden Friedrich Merz und Robert Habeck. Alle drei | |
Kanzlerkandidaten haben dabei das Wahlvolk im Blick. Merz wirft dem Kanzler | |
Respektlosigkeit vor. Der Vorwurf, der FDP mangele es an sittlicher Reife, | |
sei eine „blanke Unverschämtheit“. Das ist kein Vorglühen auf den Wahlkam… | |
mehr – es ist Wahlkampf. Merz nimmt kein Blatt vor den Mund. | |
Wirtschaftsminister Habeck sei mit seinen „selbst inszenierten | |
Selbstzweifeln“ das Gesicht der Krise. In der EU agiere der Kanzler „zum | |
Fremdschämen“. Und die von ihm vorgeschlagene Mehrwertsteuersenkung, die | |
gelte ja auch für „Froschschenkel, Wachteleier und frische Trüffel.“ | |
Merz redet viel über andere, eher wenig über das eigene Programm. Er | |
fordert Steuersenkungen für Unternehmen, die Milliardäre, denen Habeck an | |
den Kragen wolle, seien allesamt Familienunternehmer, die für Arbeitsplätze | |
sorgten. Kein Wort aber dazu, wie die Union ihre Steuergeschenke an Reiche | |
finanzieren will, keine Silbe, wie die Union die Pariser Klimaziele | |
erreichen will. | |
Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck kontert, das wolkige Wahlprogramm der | |
Union müsse „zurück in die Werkstatt“. Die Zukunft erreiche man nicht im | |
Rückwärtsgang. Merz müsse „mal checken, dass sie den Wahlkampf nicht für | |
sich machen, sondern für dieses Land“. Da klatscht auch der | |
SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. Denn da sprach Habeck der | |
Vizekanzler, nicht der Scholz-Herausforderer. Christian Lindner sagt | |
Lindner-Sätze, FDP pur. SPD und Grüne wollten die Schuldenbremse nur | |
aufheben, „damit sie mehr verteilen können“. Neid auf Milliardäre schaffe | |
keine Arbeitsplätze. Und Aufstieg habe etwas mit Leistung zu tun. Daran | |
kann man leise Zweifel haben, angesichts der Tatsache, dass Lindner erneut | |
als Spitzenkandidat seiner Partei in den Wahlkampf zieht. | |
## Klingbeil will 69 Tage Vollgas geben | |
Die Sitzung endet um 16 Uhr 30. 207 Abgeordnete sprechen Scholz das | |
Vertrauen aus. 394 stimmen dagegen, 116 enthalten sich. Scholz macht sich | |
auf den Weg zum Bundespräsidenten, er bittet Frank-Walter Steinmeier, den | |
Bundestag aufzulösen. Am 23. Februar wird neu gewählt. | |
Klingbeil schaut nach vorn. „Ich habe meinen Urlaub abgesagt, ich werde | |
jetzt 69 Tage Vollgas geben und vorne wegrennen.“ Wird Olaf Scholz noch mal | |
Kanzler? „Ja“, sagt Klingbeil ohne Zögern. „Aber es wird harte Arbeit.“ | |
Scholz ist nun Chef einer gescheiterten Regierung. Die Grüne Katharina Beck | |
sagt, er habe in den letzten drei Jahren viel im Hintergrund moderiert. | |
Und: „Es hat eben nicht funktioniert mit dieser FDP.“ | |
16 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Bundestag-waehlt-Olaf-Scholz-zum-Kanzler/!5814660 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Stefan Reinecke | |
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werden. |