| # taz.de -- Kurioses Fußballjahr 2024: Begeisterung ohne Grenzen | |
| > Was für ein Jahr: die große Fifa-Klatsche, ein neuer deutscher Meister, | |
| > Liebling Jürgen Klopp heuert beim verhassten Brausekonzern an und vieles | |
| > mehr. | |
| Bild: Ein Wunder war die Meisterschaft also nicht. Schön war’s trotzdem | |
| ## Saudi-Sause | |
| Zum Jahresende war die größte Klatsche des Weltfußballs zu bestaunen. Es | |
| haben tatsächlich fast alle der 211 Verbandsrepäsentanten vor ihren | |
| Bildschirmen auch für die WM 2034 in Saudi-Arabien applaudiert. | |
| [1][Präsident Gianni Infantino hatte auf der Fifa-Online-Konferenz] seiner | |
| großen Herde aus einem Studio in Zürich zuvor erklärt, wie er sich das | |
| genau gedacht hatte, und siehe da, es klappte. Mit dem Zusammenführen ihrer | |
| Hände votierten die Fußballfunktionäre zudem für die Vergabe der WM 2030 an | |
| sechs Länder und drei Kontinente, ein Megakonstrukt, das Saudi-Arabien erst | |
| den Weg ebnete. | |
| Und sie klatschten bestimmt ebenso für die weltweite Abschaffung von | |
| Kriegen, Gewalt und Ausbeutung. All das ist ohne den Fußball sowieso nicht | |
| möglich. Auch Bernd Neuendorf, dem Präsidenten des Deutschen | |
| Fußball-Bundes, leuchtete es ein, dass für eine Verbesserung der | |
| Menschenrechtslage in Saudi-Arabien eine Fußball-WM hilfreicher ist als | |
| moralische Fundamentalopposition. Hat denn niemand die Stimme erhoben? | |
| Nur die Regie in Zürich hätte online die Mikrofone freigeben können. Das | |
| war aber nicht vorgesehen. Der norwegische Verband musste eine Protestnote | |
| einreichen, die Fifa-Generalsekretär Mattias Grafström vorlas. Sie war so | |
| knapp formuliert, als ob sie Grafström aus reiner Sorge um das Zeitbudget | |
| eigenhändig gekürzt hätte. | |
| ## Wunder Werkself | |
| Konrad Adenauer hat es 14 Jahre lang getan. Bei Helmut Kohl und Angela | |
| Merkel waren es 16 Jahre. Und Erich Honecker war satte 18 Jahre lang am | |
| Ruder. So lange wäre der FC Bayern München bestimmt auch gerne durchgehend | |
| an der Regierung geblieben. Aber nach 11 Jahren war Schluss. [2][Bayer | |
| Leverkusen stürzte die Münchner] mit konstruktivem Angriffsfußball, holte | |
| Meisterschale und Pokal in die Unstadt am Chemiewerk. Nichts war mehr, wie | |
| man es in Fußballland gewohnt war. | |
| Und erst der Trainer! Als ganz Europa die Taktik mit dem ausgeklügelten | |
| Flügelspiel bewunderte, die er der Mannschaft verordnet hatte, hatten nicht | |
| wenige damit gerechnet, dass Xabi Alonso, der Fußballweltbürger aus | |
| Spanien, zu einem der europäischen Großklubs wechselt. Doch er verkündete | |
| prompt, erst mal in Leverkusen bleiben zu wollen. In Leverkusen! | |
| Nein, es ist wirklich schier unfassbar, was in diesem Fußballjahr geschehen | |
| ist. Ein Wunder? Kann jetzt wieder jeder Klub, der halbwegs gut arbeitet, | |
| Meister werden? Nicht wirklich. Leverkusen ist nicht unbedingt der Klub, in | |
| dessen Bettwäsche Fußballromantiker schlafen. Die Werkself ist schließlich | |
| alles andere als ein Betriebssportverein, sie ist eine Abteilung des | |
| Mutterkonzerns und so ein Stück weit befreit vom echten Wettbewerb auf dem | |
| Markt. Ein Wunder war die Meisterschaft also nicht. Schön war’s trotzdem. | |
| ## Finger weg vom FC Bayern | |
| Die vermeintlich nur zwölftbeste Lösung kann die beste sein. Das ist mit | |
| Sicherheit die verblüffendste Lektion, die das Jahr 2024 dem ehrpusseligen | |
| FC Bayern München erteilte. Denn eigentlich kommt für den Rekordmeister | |
| immer nur das infrage, was man für das Beste vom Besten hält. Gefragt haben | |
| die Kluboberen danach lange vergeblich. Bekommen haben sie dafür, was man | |
| beim FC Bayern so gar nicht haben will: Mitleid. | |
| [3][Eine Absage folgte der nächsten] bei der Trainersuche. Xabi Alonso, | |
| Ralf Rangnick, Roberto De Zerbi, Roger Schmidt und Oliver Glasner waren | |
| nicht zu haben. Selbst Julian Nagelsmann und Thomas Tuchel, die der FC | |
| Bayern in der Praxis schon für untauglich befunden hatte, wurden wieder zu | |
| heißen Kandidaten, ehe man sich notgedrungen irgendwann für Vincent Kompany | |
| vom Premier-League-Absteiger FC Burnley entschied. | |
| Weil er sich noch keine Meriten als Trainer verdient hatte, hob man bei der | |
| Verpflichtung umso mehr seine große Spielerkarriere hervor. Weil der FC | |
| Bayern so ideenlos war, konnten die Verantwortlichen schlecht behaupten, | |
| die besondere Spielidee von Kompany sei ausschlaggebend gewesen. Doch mit | |
| dieser wurde er zum Glücksgriff für seinen neuen Klub. Mit seinem mutigen | |
| flexiblen Positionsspiel können sich die Spieler bestens identifizieren. | |
| Die Auftritte des Teams haben wieder einen positiven Wiedererkennungswert. | |
| Und was für neutrale Beobachter besonders angenehm ist: Kompany ist ein | |
| Sympathikus. Er nimmt jeden und jede ernst. Ihm fehlt der Dünkel, den seine | |
| Vorgänger häufig vor sich hertrugen. Es ist wirklich erstaunlich, was alles | |
| passieren kann, wenn der FC Bayern nicht bekommt, was er möchte. | |
| ## Flüchtige Heim-EM | |
| Am Ende seiner Reise durch die Euro 2024 hielt Julian Nagelsmann noch | |
| [4][eine Rede zur Lage der Nation.] „Wir haben es geschafft, die Menschen | |
| zu einen“, sagte er nach dem Viertelfinal-Aus der deutschen Edelkicker | |
| gegen den späteren Turniersieger Spanien. Drei ostdeutsche Landtagswahlen | |
| später weiß das Land, dass Nagelsmann vielleicht doch nicht ganz recht | |
| hatte. | |
| Aber vielleicht stimmte ja seine Analyse zumindest für einen kleinen | |
| Moment. „United by Football“, lautete das Motto der EM und als sie noch | |
| lief, wirkte das Land ja tatsächlich so offen und freundlich wie lange | |
| nicht. Man freute sich über saufende Schotten, schunkelnde Niederländer und | |
| sogar über Rumänen, die ja sonst eher nicht so hoch angesehen sind. Nur | |
| über die türkischen Fans galt es sich aufzuregen. Der faschistische | |
| Wolfsgruß wurde entschieden zu häufig gezeigt. Aber was wäre ein großes | |
| Fußballturnier ohne echtes Politikum? | |
| Eine Schiedsrichterentscheidung, über die sich das ganze Land aufregte, gab | |
| es auch. Wieso pfiff die Pfeife nicht, als dieser Spanier mit den vielen | |
| Haaren kurz vor Schluss Jamal Musialas Ball mit dem Arm aufhielt? Hätte es | |
| Elfer gegeben, wären die Deutschen, die in diesem Spiel ihren stärksten | |
| Auftritt seit zehn Jahren hingelegt hatten, am Ende gar Turniersieger | |
| geworden, man würde vielleicht heute noch über die EM sprechen. Aber so? | |
| ## Energische Liebe | |
| Was haben sie geweint in Liverpool, als Jürgen Klopp im März verkündete, | |
| dass er nicht länger Trainer sein will beim legendären Premier-League-Klub, | |
| den er zur Meisterschaft und zum Sieg in der Champions League geführt | |
| hatte. Auch in Deutschland ist kräftig mitgeheult worden über die | |
| emotionalen Abschiedsworte, mit denen Deutschlands immer strahlender | |
| Lieblingsfußballmensch zum Ausdruck brachte, dass ihm die Energie | |
| auszugehen droht. | |
| Dass ihm ausgerechnet ein Energy Drink aus dem Loch heraushelfen würde, | |
| damit dürften auch die nicht gerechnet haben, die aufzählen konnten, an | |
| welche Konzerne Klopp sein Gesicht zu Werbezwecken schon verkauft hat. | |
| [5][Head of Global Soccer bei Red Bull ist der weißgebissige Trainer ab | |
| Januar.] Der dämliche Titel ist für viele Fans des traditionellen | |
| Kicksports dabei gewiss das geringste Problem. In Deutschland ist das | |
| Konstrukt, das sich Rasenballsport Leipzig nennt, weil es die Regularien | |
| nicht erlauben, einen Klub nach einer Firma zu benennen, nicht nur bei | |
| Fußballromantikern besonders verhasst. | |
| Während der einzige Zweck der Aktiengesellschaften von Bayern München und | |
| Borussia Dortmund darin besteht, erfolgreiche Fußballteams zu betreiben, | |
| ist RB Leipzig nicht mehr als ein Marketinginstrument zur Ankurbelung des | |
| Limonadenverkaufs von Red Bull. Was Jürgen Klopp selbst dazu sagt? „Nichts | |
| könnte mich mehr begeistern.“ Noch Fragen? | |
| ## Und Tschüss … | |
| Keine Kopfballkunst mehr [6][von Alexandra Popp im Nationalteam]. Horst | |
| Hrubesch, der alte weise Menschenfreund, ebenfalls mit | |
| Kopfballkunsthintergrund, will auch nicht mehr für Trainerjobs gefragt | |
| werden. Keine Gemeinschaftskunde mehr auf hochalemannisch mit Christian | |
| Streich, keine millimetergenauen Diagonalpässe mehr von Tempo- und | |
| Rhythmusgeber Toni Kroos. Der deutsche Fußball musste sich in diesem Jahr | |
| von reichlich Liebgewonnenem verabschieden. | |
| Mit dem Popp-Fußball (Flanke, Kopfball, Tor) hatten die deutschen | |
| Fußballerinnen über Jahre etliche Defizite im Nationalteam übertünchen | |
| können. Und die Medien hatten ihre erste große weibliche Lichtgestalt auf | |
| dem Fußballplatz, die nachwachsenden Generationen als Vorbild diente. Wie | |
| stark Gelassenheit und eine angenehme Atmosphäre untereinander gute | |
| Leistungen befördern, konnten sich junge Ehrgeizlinge auf der Trainerbank | |
| von Horst Hrubesch abschauen. Den Drang von Streich, klare politische | |
| Haltung zu zeigen, die weit über die in dieser Branche üblichen wolkigen | |
| Bekenntnisse gegen Rassismus hinausging, finden indes nicht alle toll. | |
| Insbesondere AfD-Wähler sollen das kritisch sehen. Sie stören sich an dem | |
| Solitär in der Fußballbranche. | |
| Einigkeit herrscht dagegen mittlerweile darüber, welch [7][fantastischen | |
| Weltklassefußballer] Deutschland mit Toni Kroos verloren hat, wenn man mal | |
| sicherheitshalber von einzelnen Ehrenamtlern beim FC Bayern und ihrer | |
| verqueren Perspektive absieht. | |
| 31 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johannes Kopp | |
| Andreas Rüttenauer | |
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