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# taz.de -- Augsburger Wohnprojekt: Schritt für Schritt ins Paradies
> 18 Menschen, eine Idee: Sie wollen zusammen ein Haus kaufen und auf Dauer
> bezahlbar wohnen. Doch wie macht man das? Man braucht Gönner:innen,
> Gemeinsinn – und viel Geduld.
Bild: Haben einen Traum vom gemeinsamen Haus: Maximilian Schorer, Franziska Fal…
Augsburg taz | Die Tür steht offen im „Pa*radieschen“. Ein Sonntag im Mär…
es ist kalt. Die Heizungen funktionieren nicht. Gießkannen stehen vor den
Toiletten, denn es fließt noch kein Wasser. Fast alle Räume stehen leer. Es
ist ein großes Haus im bürgerlichen Stadtteil Pfersee [1][in Augsburg],
erbaut 1900. Die Fliesen im Treppenhaus bröckeln von der Wand, die
Blumentapeten in den Zimmern erinnern an eine andere Zeit. Eine in die
Jahre gekommene Bruchbude, könnte man sagen. Oder?
Die junge Frau, die durch das Haus führt, heißt Franziska Falterer. Die
28-Jährige trägt einen kurzen Pony, Piercings, lächelt herzlich. Es ist
Besucher:innen-Tag im Wohnprojekt. Im Wohnzimmer soll es ein Konzert geben,
gerade werden dort die Mikrofone überprüft. Sieben Wohnungen hat das Haus
und insgesamt 27 Zimmer. Mit zehn anderen Mitstreiter:innen hat
Falterer das Gebäude gekauft, um abseits des überlasteten Wohnungsmarktes
etwas Neues zu schaffen, etwas Bezahlbares, etwas Gemeinschaftliches.
„Pa*radieschen“ nennen sie es.
Was klingt wie eine Utopie, ist ein Projekt, das schon vielfach umgesetzt
wurde. Über 190 autonome Hausprojekte gibt es deutschlandweit in dem
Verbund des [2][Mietshäuser Syndikats], einer 1992 in Freiburg gegründeten
Organisation, die den gemeinschaftlichen Kauf von Häusern ermöglicht und
unterstützt. Doch der Weg zu jedem einzelnen davon ist gepflastert mit
finanziellen, bürokratischen und zwischenmenschlichen Hürden: Ein Haus
kaufen ohne Eigenkapital? Auflagen erfüllen, um ein ökologisches
Effizienzhaus zu werden? Und wie gestaltet man einen jahrelangen
Aushandlungsprozess unter Gleichgesinnten, der wohl eines der
persönlichsten aller Themen – das Wohnen – betrifft?
Nicht alle Projekte können am Ende umgesetzt werden, sie scheitern
unterwegs, hinterlassen enttäuschte Visionär:innen und weiter
unbewohnte Immobilien. Das Pa*radieschen aber ist auf einem guten Weg,
dass der Traum Wirklichkeit wird. Wie haben die künftigen
Bewohner:innen es so weit geschafft und was steht ihnen noch bevor?
Falterer setzt sich nach der kurzen Führung auf einen Baumstumpf im
verwilderten Garten, nimmt einen Schluck aus ihrer Club Mate, legt ihre
Schiebermütze zur Seite und beginnt zu erzählen.
Schon 2017 hatten sich einige Augsburger:innen zusammengefunden, die an
einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt interessiert waren. Doch erst fünf
Jahre später wurde von einem Teil der heutigen Gruppe ein Verein gegründet,
das „Pa*radieschen“. Menschen aus dem links-grünen Spektrum bilden den
Hausverein, darunter eine dreiköpfige Familie mit Kleinkind,
Hobby-Musiker:innen mit Punkband und Falterer, die Stadtforschung studiert
hat und nun als Selbstständige Bildungsarbeit anbietet.
Auch die alleinerziehende Mutter Alexandra Zagler und ihr 9-jähriger Sohn
werden künftig Bewohner:innen sein. „Ich wollte nicht mehr alleine
wohnen und habe mich über Mehrgenerationenhäuser informiert. Dann bin ich
bei einer Infoveranstaltung von Pa*radieschen gelandet“, erzählt sie. Ihr
gehe es darum, dass ihr Sohn andere erwachsene Bezugspersonen bekommt:
„Zusammen spielen, zusammen kochen – und das nicht nur immer mit der
langweiligen Mama.“ Hilfe beim Einkaufen, ein offenes Ohr in
Krankheitsphasen oder endlich abends mal wieder ausgehen, wenn das Kind in
guter Gesellschaft zu Hause bleiben kann: Es sind die einfachen Dinge, die
Zagler vermisst. „Und ich denke auch an die Zukunft“, sagt die 36-Jährige,
„im Pa*radieschen kann ich alt werden.“
Alle verbindet ein Ziel: bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Der Gegner: der
Augsburger Immobilienmarkt. Ein bisschen David gegen Goliath, meint
Falterer und lächelt. Augsburg, eine der ärmsten Städte Bayerns und kleine
Schwester Münchens, spürt die Mietsteigerungen in den vergangenen Jahren
besonders deutlich. Vielen ist München zu teuer geworden, einige von ihnen
ziehen ins 60 Kilometer entfernte Augsburg. Das treibt auch da die
Mietpreise nach oben. Aktuell mieten die Augsburger:innen den
Quadratmeter Wohnfläche durchschnittlich für 12 Euro – ein Anstieg um etwa
5 Prozent zum Vorjahr, es ist kein Ende in Sicht. Zum Vergleich: In München
bezahlt man um die 19 Euro.
Ein Teil der Pa*radieschen-Gruppe wurde vor einigen Jahren entmietet. 30
junge Menschen mussten aus ihren Wohnungen raus, an der Stelle ihres
Mietshauses soll ein Luxusbau entstehen. Es war also Zeit, aktiv zu werden
– gegen die hohen Mietpreise der Stadt, gegen die Angst vor willkürlichen
Vermieter:innen. „Sollte Wohnen nicht ein Grundrecht sein?“, fragt
Falterer. Sie stoßen auf das Mietshäuser Syndikat.
Die Initiative zum Mietshäuser Syndikat entsteht in den achtziger und
neunziger Jahren in der Hausbesetzerszene in Freiburg. Ein Areal rund um
[3][die ehemalige Grether-Fabrik] wurde damals dort besetzt und
selbstständig saniert. Nach Zwangsräumungsdrohungen und jahrelanger
Auseinandersetzung kaufte die Grether-Baukooperative der Stadt das
Grundstück ab. Viele Sympathisant:innen unterstützen die
Hausbesetzer:innen mit Privatkrediten. Wohnungen entstanden, ein
Szenetreff namens Strandcafé und eine kleine links-autonome Radiostation.
## Kaltmieten bleiben konstant
Wie aber kann man den Bestand sichern und einen Verkauf auf lange Zeit
verhindern?, fragten sich die damaligen Pioniere. Ihre Lösung: Man brauche
eine Art Wächter, einen übergeordneten Verbund für Hausprojekte, der den
Verlockungen des Immobilienmarkts widersteht. Dies ist die Funktion des
Mietshäuser Syndikats.
Beim Augsburger Wohnprojekt ist die neue Hauseigentümerin die eigens
geschaffene Paradieschen Haus GmbH, die aus zwei Gesellschaftern besteht:
dem Pa*radieschen Hausverein und eben dem Mietshäuser Syndikat, der
übergeordneten Organisation dieser Rechtsform. Der Clou an der Sache: Die
Immobilie kann nicht verkauft werden und auch die Kaltmieten bleiben
konstant. Wenn also Bewohner:innen eines Wohnprojekts das Haus
verkaufen wollen, verhindert das Syndikat mit seiner Vetostimme als
gleichberechtigter Gesellschafter an dem Haus den Verkauf. Ein Haus vom
Mietshäuser Syndikat bleibt somit immer im Gemeineigentum –
Reprivatisierung ausgeschlossen.
Abgesehen davon sollen die Hausprojekte maximal autonom agieren. Alle
praktischen Entscheidungen, die in das Leben der Bewohner:innen
eingreifen, werden von den jeweiligen Hausprojekten selbst organisiert.
Das Syndikat, das seine Zentrale immer noch in Freiburg hat, berät neue
Hausprojekte in allen möglichen Fragen wie Finanzierung, Umsetzbarkeit und
Abstimmungsprozessen in den Hausgruppen. Denn wenn Wohnprojekte scheitern,
liege es fast immer an internen Konflikten. Teils gebe es eine
Anschubfinanzierung durch einen Solidarfonds. Darin sammelt sich Geld von
langjährigen Hausprojekten, die ihre Kredite bereits abbezahlt haben.
Für die allgemeine Finanzierung sammeln die Hausprojekte sogenannte
Direktkredite, das sind private Kredite von Unterstützer:innen. Dieses Geld
gilt als Eigenkapital und damit als Sicherheit für Banken, die ebenfalls
Kredite beisteuern.
Manchmal kaufen Mieter:innen das Haus, in dem sie bereits wohnen,
manchmal werden damit Neubauprojekte umgesetzt und manchmal – wie im
Augsburger Fall – werden Bestandshäuser erworben. Über Mieten werden im
Syndikatsystem die privaten Kredite allmählich wieder zurückgezahlt.
Menschen, die in Häusern des Syndikats wohnen, sind ihre eigenen
Vermieter:innen.
Im Pa*radieschen wird ein WG-Zimmer rund 350 Euro warm kosten, eine
Dreizimmerwohnung 1.000 Euro. Mit 12,50 Euro pro Quadratmeter liegen die
Quadratmeterpreise leicht über dem Augsburger Mietendurchschnitt. Dafür
aber beziehen die Bewohner:innen dereinst ein frisch saniertes Haus.
Das Wohnen im Pa*radieschen macht sich auf lange Sicht bezahlt: „Unsere
Miete wird nicht steigen. Wir können also dauerhaft bezahlbare Mieten
garantieren“, sagt Falterer.
## Bärlauch am Gartenzaun
Jahrelang haben sie alle möglichen Immobilienportale nach geeigneten
Objekten durchkämmt. Ein großes Haus für gemeinschaftliches Wohnen in der
Stadt zu kaufen schien fast unmöglich. Im Jahr 2022 war es dann so weit:
Sie fanden ein altes Pfarrhaus an der Kahnfahrt in Augsburg. Gute
Innenstadtlage, perfekte Räumlichkeiten. Wenn Falterer heute von dem
Pfarrhaus erzählt, leuchten ihre Augen. Ein Münchner „Immobilienhai“ habe
ihnen vor Vertragsunterzeichnung Druck gemacht. Schnell hätten sie das
nötige Geld zusammenbekommen müssen. Rund 2 Millionen Euro konnten sie
aufbringen, der Kauf schien perfekt. Dann, am Tag der
Vertragsunterzeichnung, verkauft der Makler an jemanden, der plötzlich mehr
bietet. „Es wurde mit uns spekuliert! Durch unsere massive
Öffentlichkeitsarbeit haben wir dazu beigetragen, das Objekt bekannt zu
machen und den Preis hochzutreiben“, sagt Falterer. Ein Rückschlag. Ohne
Haus kein Hausprojekt.
Im Oktober 2023 fanden sie auf einer Immobilienseite das Haus, vor dem
Falterer nun sitzt und erzählt. Sie mussten einfach zuschlagen, kauften es
für rund 900.000 Euro. „Der Ort hier hat sich gut angefühlt“, sagt
Falterer.
Während sie erzählt, kommen immer mehr Menschen zum Besuchstag. Ein Musiker
trägt seinen Kontrabass die Treppen hoch, eine ältere Frau schwärmt vom
Bärlauch, der am Gartenzaun wächst. Pa*radieschen will es anders machen
als Projekte, die sich nur mit sich selbst beschäftigen. Begegnungsräume
für das Quartier sollen im Keller entstehen, mit Extra-Eingang.
Ob so ein Nachbarschaftsprojekt auf lange Sicht gelingen wird, bleibt
offen. Das Mietshäuser Syndikat schreibt auf seiner Website, dass
etablierte Hausprojekte die „Tendenz zu Stagnation und Selbstbezogenheit“
haben. An diesem Sonntagmittag aber begegnen sich Familien, Musiker, eine
ältere Dame und Punks mit Irokesen. „Die Bubble ist gar nicht so
abgeschlossen, wie man immer denkt“, meint Falterer. Jedes Projekt des
Mietshäuser Syndikats hat einen eigenen Stil. Der Pa*radieschen-Stil soll
„bunt, offen, einladend“ sein, sagt Falterer.
Warum gibt es nicht mehr „paradiesische“ Projekte? Ein Hinderungsgrund: Für
die Umsetzung braucht man Zeit. Und davon ziemlich viel. Falterer ist seit
über zwei Jahren bei Pa*radieschen e.V. aktiv. Zwischen 10 und 20 Stunden
wöchentlich für das Projekt aufzubringen sei normal. „Wir sind extrem
privilegiert, dass wir überhaupt so viel Zeit investieren können. Andere
können das nicht“, sagt sie.
Damit ein Privat- beziehungsweise Direktkredit zustande kommt, müssen die
potenziellen Geldgeber:innen Vertrauen schöpfen – in die Sinnhaftigkeit
des Projekts, in die Glaubwürdigkeit der Personen. Garantien können sie
nämlich nicht geben. Aber der Erfolg der vielen anderen Hausprojekte unter
dem Dach des Mietshäuser Syndikats soll ihnen die Sicherheit geben, dass
eine Zahlungsunfähigkeit unwahrscheinlich ist.
Die Mindesteinlage liegt bei 1.000 Euro, der Zinssatz ist frei wählbar
zwischen 0 und 1 Prozent. Die Stiftung Warentest schreibt zum Anlagemodell
in Projekte des Mietshäuser Syndikats: „Mehr gute Tat als Geldanlage.“ Wer
das Projekt unterstützt, mache es nicht aus Profitinteresse, sagt Falterer.
Der niedrige Zinssatz sei der große Hebel, nur so könne das Projekt
finanzierbar bleiben – auch auf lange Sicht. Es gehe allen
Unterstützer:innen um das Projekt, die Idee. Ein Mitspracherecht haben
sie durch ihre Direktkredite aber de facto nicht.
Über 260 Menschen haben Pa*radieschen bereits mit Direktkrediten
unterstützt, eine Summe von fast 1,4 Millionen Euro ist so
zusammengekommen. Bei jedem Stadtteilfest, bei jedem Hofflohmarkt sind sie
mit ihrem Stand vertreten, um für ihr Anliegen zu werben.
Es ist ein Job, der um die Schaffung des eigenen Wohnraums kämpft, und
einer, der die Idee von alternativem Wohnen bekannt machen will. Doch
Falterer stellen sich immer wieder Fragen: „Habe ich versagt, wenn wir
nicht genug Geld zusammenbekommen? Ist der Kreis an Menschen, die ein
solches Projekt unterstützen wollen und können, endlich?“
Das Pa*radieschen hat auch die Stadtverwaltung und
Lokalpolitiker:innen um Unterstützung gebeten. Parteiübergreifend
gebe es Zuspruch für das Projekt, aber über ein „Macht weiter so, Geld
haben wir aber keins“ gehe es nicht hinaus. Mal sei das Wohnprojekt mit den
sieben Wohneinheiten zu klein, mal heißt es, WGs seien nicht förderfähig
oder das Konzept der Direktkredite als Eigenkapital sei nicht anerkannt.
## Engagieren und dadurch sozialisiert
In Leipzig und Tübingen sei das zum Beispiel anders, sagt Falterer, da
werde auch mit städtischen Krediten unterstützt. Ihre Forderung: zumindest
eine zentrale Stelle in jeder Stadt, die Beratung für gemeinschaftliches
Wohnen anbietet. Lediglich für die Sanierung zum ressourcensparenden Haus
werden sie – wie andere Privatpersonen oder Unternehmen auch – einen
KfW-Kredit erhalten. Andere Förderungen gibt es nicht.
Das Wohnzimmerkonzert fängt gleich an. Falterer schwelgt in Erinnerungen
und erzählt von ihrer Kindheit und dem Aufwachsen in einem kleinen Dorf bei
München. Immer habe sie erlebt, dass man am Garten vorbeiläuft und sich
grüßt, im Austausch steht mit den Menschen um sich herum. „In der Stadt
geht das total verloren. Mit unserem Projekt kämpfen wir auch gegen die
Anonymität der Stadt und die Vereinsamung der Gesellschaft.
Individualisierung kann nicht alles sein.“
Welche gesamtgesellschaftliche Wirkung aber können alternative Wohnprojekte
wie die des Mietshäuser Syndikats haben? Anruf bei Frank Eckardt, Professor
für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus Universität
Weimar. Er sagt: „Die Errichtung und Aufrechterhaltung von Wohnprojekten
des Mietshäuser Syndikats sind ein sehr öffentlicher Prozess, in der Regel
mit einem großen Netzwerk. Durch das Aufzeigen der Alternative kann ein
positives Schneeballsystem angestoßen werden.“ Das bedeute, dass mehr
Menschen sich engagieren und dadurch sozialisiert werden. Auch Menschen,
die persönlich mit alternativen Wohnformen nichts anfangen können,
verstünden sie damit besser. „Mittel- und langfristig findet eine
Normalisierung statt, alternative Wohnformen kommen raus aus der
linksradikalen Ecke“, meint Eckardt. Das sei sehr verdienstvoll. Das große
Wohnproblem werde man dadurch aber nicht lösen können.
Die normalisierte Wohnform drückt sich in etwas aus, das landauf und landab
Dörfer und Städte prägt: [4][das Einfamilienhaus]. Etwa ein Viertel der
Bevölkerung Deutschlands lebt in einem Einfamilienhaus. Drei Viertel würden
sich das wünschen. Auch die Zahl der Einpersonenhaushalte ist mehr als
doppelt so hoch wie 1950. Die Bildung von individualisiertem Wohneigentum
war jahrzehntelang ein gesellschaftliches Ideal und ist es auch heute noch,
staatlich gewünscht und gefördert. Gemeinschaftliche Hausprojekte, wie das
Augsburger Pa*radieschen, wollen dieses Narrativ durchbrechen. Darüber
hinaus wollen sie zeigen, dass Wohnraum nicht gewinnbringend genutzt werden
muss. Und nachhaltig wohnen bedeutet für sie auch, dass nun viele Menschen
auf engem Raum leben. 18 Personen, wo einst nur eine ältere Frau zu Hause
war. Genügsames, funktionales Wohnen, dafür die Gemeinschaft im Zentrum.
Aus dem Haus schallen die ersten, mitunter schrägen Töne. Die
Lokalmatadoren Jesus Jackson und die Grenzlandreiter spielen ihren Song
„Acid Kommunismus“. Es wird geklatscht, gelacht und um weitere
Direktkredite geworben. Bis zum Start der Sanierung im Sommer fehlen noch
knapp 50.000 Euro.
Mitte Juni. Ein weiterer Besuch beim Augsburger Wohnprojekt steht an. Ein
Mann mit Vollbart und Pferdeschwanz hält einen Schlagbohrer und grüßt. Es
ist der 29-jährige Student Maximilian Schorer, ein weiteres Mitglied des
Vereins. Seine heutige Mission: Wandfliesen entfernen. Seit Wochen
renovieren sie in Eigenregie das Haus, zumindest das, was selbst gemacht
werden kann. Und bei einem alten Haus gibt es da so einiges, wie zum
Beispiel Lampen, Armaturen und Teppichböden entfernen.
Das Pa*radieschen will auch [5][in Sachen Nachhaltigkeit] neue Wege
einschlagen. Schorer wischt sich den Staub aus dem Gesicht und meint: „Wir
versuchen auf den Kauf von Werkzeug zu verzichten und unser Netzwerk zu
aktivieren, falls wir etwas brauchen – und sei es nur Spachtelzeug.“ Auch
wenn das Haus einmal bezogen ist, wollen sie Ressourcen teilen, zum
Beispiel Autos. Und gemeinsam vegan und vegetarisch kochen.
Im Raum „Kommandozentrale“ sind schon fast alle Wände mit Plänen vom
Architekten tapeziert. Keiner hier habe so richtig Ahnung davon, wie man
ein Haus saniert, meint Schorer. Sie müssten sich eben „reinfuchsen“. In
die Arbeit, in die Bürokratie. Buchhaltung lernen, sich mit
Sanierungsfragen beschäftigen.
## Immer wieder neue Kosten
Nach der Sanierung soll das Haus ein sogenanntes Effizienzhaus 55 sein.
Dazu braucht es eine Wärmepumpe und eine gute Dämmung. Seit dem vorherigen
Besuch im März ist das Gebäude zu einer echten Baustelle geworden. Im
Keller soll mal ein Waschraum entstehen. Mit ein oder zwei Waschmaschinen,
da nicht jede Wohnung eine eigene braucht. Bis da aber Kleidung trocknen
kann, muss erst mal der Raum trockengelegt werden. Das ist teuer. Allgemein
treten immer wieder Kosten auf, die nur schwer kalkulierbar sind. An einer
Tür steht: Achtung, Asbest! „Da müssen wir die Schadstoffprüfung noch
abwarten“, sagt Schorer. In einem weiteren Raum liegen Kronleuchter und
Klobrillen. Schorer zeigt auf eine Klobrille: „Wir würden die eigentlich
nehmen, aber dann wird es zu kompliziert und teurer, als wenn wir die
gesamte Toiletten neu kaufen.“ Nachhaltigkeit sei ein Kostenfaktor, den man
sich leisten können muss, sagt Schorer. Trotzdem sollen es die teureren
Holzfenster werden und nicht die günstigere Kunststoffalternative.
Wieder drei Monate später, es ist Herbst geworden. Das Pa*radieschen
lädt zum Gesamtplenum. Acht Personen sitzen am großen Wohnzimmertisch in
Alexandra Zaglers bisheriger Wohnung, nicht alle konnten kommen. Auf dem
Tisch sind Karotten und Gurken verteilt, warme Kartoffelsuppe wird
herumgereicht. Ein zweijähriges Kind macht mit Geschrei auf sich
aufmerksam. Alle hatten einen langen Arbeitstag, dennoch sitzen sie
zusammen und diskutieren.
Die Pa*radieschen-Plena folgen einer klaren Struktur. Einchecken, Berichte
aus den Arbeitsgruppen, Auschecken. Los geht’s. Punkt eins: das
„Einchecken“, gewissermaßen ein Einblick in den aktuellen Gemütszustand.
Wie geht es mir heute? Wie geht es mir gerade in der Gruppe? Zagler, die
als Pädagogin arbeitet, hat heute mit circa 70 Kindern zu tun gehabt.
Zusammengefasst: Es war ein anstrengender Tag, sie ist müde. Jedes der acht
Pa*radieschen-Mitglieder kommt der Reihe nach dran. Es wird über die
Arbeitsbelastung gesprochen, die nicht für alle gleich ist.
Dazu gehört auch das Thema Rollenverteilung. Jemand muss das Plenum
moderieren, eine oder einer soll Protokoll schreiben. Darüber wird
diskutiert. Die Plena laufen nach sogenannten soziokratischen
Gesprächsregeln ab, das heißt, alles muss gemeinsam entschieden werden.
Jedes Mitglied hat ein Vetorecht – es soll ja solidarisch zugehen.
Dann folgt Punkt zwei, die Berichte aus den Arbeitsgruppen, in die der
Hausverein aufgeteilt ist. Die AG Bau verkündet, die Baukostenkalkulierung
verlaufe schwierig, die Baupreise sind teils unvorhersehbar. „Vonseiten der
Bauleiter fehlt das Verständnis, dass wir als Gruppe Zeit brauchen für
Abstimmungen“, sagt eine Person. Es ist eine besondere Herausforderung, mit
vielen Eigentümer:innen eine Haussanierung zu koordinieren. Bald
können aber die Handwerker:innen kommen. Trotzdem fehle Geld, rund
40.000 Euro. Sonst steht der KfW-Kredit auf der Kippe. Die Frist ist Ende
Oktober.
Ein erst kürzlich durchlaufener und emotionaler Prozess war die
Zimmeraufteilung, berichtet Franziska Falterer nun. Alle stimmen zu. Wie in
jeder Gruppe gäbe es Präferenzen: Mit wem möchte ich nicht nur zusammen ein
Wohnprojekt auf die Beine stellen, sondern zusammenziehen? Sie haben für
diese Entscheidung eine Art Puzzle gelegt, ausgedruckte Namen auf einem
Tisch hin- und hergeschoben, Wohnungsgrößen aufgelöst und bauliche
Anpassungen eingeplant. Dabei muss sich jeder und jede grundsätzliche
Fragen stellen, zum Beispiel, mit wie vielen Leuten man eine Wohnung teilen
will.
Für Entscheidungen nutzt die Gruppe die Methode der „systemischen
Konsensierung“. Jedes Mitglied gibt auf einer Skala von null bis zehn den
empfundenen Widerstand bei einer möglichen Option an. Eine Lösung wird bei
der Summe mit den wenigsten Widerständen gefunden. Es gehe um Konsent,
nicht Konsens. Viele Diskussionsschleifen seien daher nötig, bis die beste
Lösung gefunden werde. „Man muss dann auch Leuten ins Gesicht sagen – auch
wenn man sich menschlich gut versteht –, dass man sich nicht vorstellen
kann, mit jemandem zusammenzuwohnen“, sagt Falterer. Eine Schwere liege
dann in der Luft.
Eine Person habe beschlossen, nicht mit einzuziehen. Sie habe für sich
entschieden, dass sie in ihrer jetzigen WG bleiben will. Falterer: „Wir
haben da alle einen Erkenntnisprozess durchgemacht.“
Beim heutigen Plenum geht es um Einzelheiten im Keller. Wo kommt die Türe
hin, wo welches Fenster? Nur durch viele Abstimmungen werden die besten
Lösungen gefunden, sind sich hier alle sicher. So verhindert man, dass
später Streit aufflammt.
Eine Person aus der Runde fragt, wann sie und Falterer ein „Einzeldate“
haben. Die sogenannten Einzeldates in der Gruppe sollen dazu beitragen,
dass neben der ganzen Projektarbeit das persönliche Verhältnis zwischen den
Mitgliedern nicht zu kurz kommt, erklärt Falterer. Auch wollen sie
Grüppchenbildungen entgegenwirken.
Nach mehreren Stunden Plenumssitzung steht der letzte Punkt im Plan an –
das „Auschecken“. Alle Mitglieder bedanken sich bei den einzelnen
Arbeitsgruppen für die Vorbereitung der Vorträge. Sie planen schon die
nächsten Aktionen, den nächsten Infostand, um für ihr Anliegen zu werben.
Haben sie keine Sorgen, dass sie zu wenig Geld bekommen werden? Ein Blick
in die Runde, alle schauen sich zuversichtlich an. „Wir sind so weit
gekommen, da bremst uns nichts mehr“, sagt eine Person. Bei dem ersten
Hauskauf, der dann platzte, haben sie innerhalb von zwei Monaten 1,3
Millionen Euro einsammeln können, trotz Krisen und Inflation.
Ende Oktober, erneuter Anruf bei Franziska Falterer. Wie läuft es, wie viel
Geld fehlt? Die gute Nachricht sei, dass sie mittlerweile den KfW-Kredit
bekommen haben. Die schlechte, dass die erste Auszahlung erst genehmigt
wird, wenn die Bank einen Nachweis über die Sicherheiten hat. 20.000 Euro
an Direktkrediten fehlen ihnen, damit sie genügend Eigenkapital gegenüber
der Bank vorweisen können. Für Falterer und Zagler ist damit klar: Sie
müssen weiterhin Leute für ihr Projekt begeistern. Aber das sei gar nicht
so schlimm, meint Falterer und bedient sich an einem bekannten Spruch aus
den Kreisen des Mietshäuser Syndikats: „Lieber 1.000 Freund:innen im
Rücken als eine Bank im Nacken.“
Im Herbst 2025 soll es so weit sein. 14 Erwachsene, vier Kinder und ein
Hund wollen dann ihr kleines Paradies beziehen.
11 Dec 2024
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