| # taz.de -- Durch den kolumbianischen Dschungel: Der vergessene Marktplatz der … | |
| > Auf dem Weg zur „verlorenen Stadt“ Ciudad Perdida sollen TouristInnen | |
| > nicht nur staunen. Sie sollen die Geschichte einer geschundenen Region | |
| > begreifen. | |
| Bild: Die ovalen Terrassen der Ciudad perdida. Der Ort war Marktplatz, religös… | |
| Die Cocablätter schmecken muffig, nach alter Wäsche. Gekauft haben wir sie | |
| in einem indigenen Dorf, das nur aus ein paar Strohhütten besteht. Nach | |
| wenigen Minuten wird die Wange taub, wie beim Zahnarzt. Aber die Blätter | |
| helfen gegen die Müdigkeit, die schweren Beine, das Ziehen im Rücken, das | |
| Mattsein. Als würde man alle paar Minuten einen Espresso trinken. | |
| Wir laufen seit acht Stunden durch den Dschungel im Norden [1][Kolumbiens], | |
| auf dem Weg zu einer alten indigenen Stadt, der Ciudad Perdida. Sie liegt | |
| 1.200 Meter hoch. Knapp 60 Kilometer hin und zurück in dreieinhalb Tagen. | |
| Dies ist der zweite Tag. Es geht steil bergauf und bergab, heute 18 | |
| Kilometer über enge, schlammige Wege. Wir überqueren Bäche, Flüsse, laufen | |
| über Baumwurzeln, Geröll, Matsch. Oktober ist Regenzeit. Man muss | |
| aufpassen, dass man nicht fällt oder mit den Wanderschuhen im Schlamm | |
| stecken bleibt. | |
| Manchmal kommen uns Indigene, Kogi, entgegen, in ihrer trotz des Schlamms | |
| meist blütenweißen Tracht. Oft führen sie bepackte Esel. Wir stützen uns | |
| auf unsere Wanderstöcke und steigen achtsam auf spitze Steine, versuchen | |
| Schlammlöcher und leuchtend grüne Haufen von Eselscheiße zu umgehen. | |
| Derweil hüpfen Kogi-Kinder elegant tänzelnd und barfuß an uns vorbei. Sie | |
| beachten uns nicht. | |
| Der Weg, auf dem wir uns befinden, ist der einzige zur Ciudad Perdida, der | |
| verlorenen Stadt, jahrhundertelang verborgen im dichten Dschungel in der | |
| Sierra Nevada. Erst vor 50 Jahren wurde sie entdeckt, als ein Erdrutsch | |
| ihre Mauern freilegte. Das lockte zunächst Grabräuber an. | |
| Die Tairona, eine indigene Hochkultur, hatten die Stadt 700 nach Christus | |
| erbaut. Sie gaben sie nach einem jahrzehntelangen Guerillakampf gegen die | |
| Spanier im 17. Jahrhundert auf. Dann zogen sie tiefer in den Wald – wegen | |
| der von Spaniern eingeschleppten Krankheiten. | |
| ## Beeindruckendes Monument präkolumbianischer Kultur | |
| Die Ciudad Perdida gilt neben [2][Machu Picchu] in Peru als eines der | |
| beeindruckendsten Monumente präkolumbianischer Kultur in Lateinamerika. | |
| Aber sie ist eben nur zu Fuß zu erreichen. Und mit Führern. Die Indigenen | |
| wollen keine Wanderer, die durch ihre kleinen Dörfer und Gärten laufen. | |
| Der Weg durch den Dschungel ist spektakulär. Von den Höhen der Sierra | |
| Nevada stürzt der Buritaca-Fluss ein paar tausend Meter tief in die | |
| Karibik. Am Fluss kann man hoch oben die weißen Gipfel des Pico Colón und | |
| des Pico Bolívar sehen, sie liegen auf fast 5.800 Metern, die einzigen | |
| Gletscher in den Tropen. Bei klarem Wetter scheinen sie zum Greifen nah. | |
| Straßen von Blattschneiderameisen, die eher wie Käfer aussehen, kreuzen | |
| unseren Weg, die Schmetterlinge sind groß wie Vögel. Leise ist es nie. | |
| Irgendwo sind immer krachende Wasserfälle, Donnergrollen, zirpende Grillen | |
| oder eine herannahende Regenfront zu hören. In der Ferne brüllen Affen oder | |
| es kreischt, auch das, eine Motorsäge. Der Dschungel ist nicht | |
| menschenleer. Er ist dünn besiedelt mit kleinen Dörfern, in denen Hunde, | |
| Katzen, kleine Schweine und Ziegen durch die Gegend laufen. | |
| ## Dann wird es stockdunkel im Urwald | |
| Jeden Morgen um 5 Uhr werden wir geweckt, um 6 geht es los. Spätestens um | |
| 17 Uhr müssen wir das nächste Lager erreicht haben. Dann wird es | |
| stockdunkel im Urwald. Ein Führer erzählt amüsiert von einem deutschen | |
| Ehepaar. Nach fünf Stunden Wanderung in extremer Hitze zum ersten Camp | |
| sagten sie: „Wir haben eine Million Pesos“ – das sind etwa 350 Euro – �… | |
| diese Tour bezahlt. Wir zahlen jedem zwei Millionen, der uns sofort wieder | |
| hier rausbringt.“ | |
| Abends im Lager prasseln Sturzbäche auf das Wellblechdach des Camps. | |
| Urwaldregen. Es gibt eiskalte Duschen, Etagenbetten mit durchgelegenen | |
| Matratzen und Moskitonetze. Die Führer haben für unsere Gruppe – ein | |
| Dutzend EuropäerInnen, ein paar KolumbianerInnen – Fisch und Reis gekocht. | |
| ## Das ist der Spirit dieser Tour | |
| Alle sind müde, aber ein Programmpunkt steht uns noch bevor: Treffen mit | |
| einem Kogi. Das ist der Spirit dieser Tour. Wir sollen nicht nur staunen, | |
| sondern etwas begreifen über die Region, die Geschichte, ihre | |
| BewohnerInnen. | |
| Fermín, ein hagerer Kogi-Anführer, sagt, für die Indigenen sei Ciudad | |
| Perdida der falsche Name. Bei ihnen heiße die Stadt Teyuna: Wiege der | |
| Völker der Erde. Nur die „jüngeren Geschwister“ hätten den Ort vergessen. | |
| So nennen die Kogi alle, die nicht wie sie von den Tairona abstammen. | |
| Die Kogi, die „älteren Geschwister“, so Fermín, sorgten seit jeher für d… | |
| Gleichgewicht der Welt, zum Beispiel an heiligen Stätten wie Teyuna. Die | |
| Gletscher des Pico Colón und des Pico Bolívar schmelzen langsam. Die | |
| Klimakrise ist für die Priester, die Mamos, ein Zeichen dafür, dass die | |
| Welt aus dem Gleichgewicht geraten ist. Fermín hat eine Botschaft für uns, | |
| die „jüngeren Geschwister“: Beutet die Natur nicht aus. | |
| ## Mit Kokain hat das nichts zu tun | |
| Währenddessen zerreibt er in einem kleinen hohlen Kürbis Muscheln mit einem | |
| Stab, den er ab und zu in den Mund nimmt. Das Kalkpulver verstärkt die | |
| Wirkung der Cocablätter, die er ohne Unterlass kaut. Es löst die Stoffe aus | |
| den Blättern. Mit Kokain aber hat das nichts zu tun. Indigene in der Sierra | |
| Nevada streifen schon seit mehr als tausend Jahren mit Cocablättern und dem | |
| Poporo, dem ausgehöhlten Kürbis, durch den Dschungel. Der Gebrauch von Coca | |
| ist streng geregelt. Nur Männer dürfen die Blätter kauen, die Frauen | |
| pflanzen und ernten. | |
| Der Dschungel der Sierra Nevada ist kein unberührtes Land, im Gegenteil. Es | |
| ist eine geschundene Region. Nach den Grabräubern in den siebziger Jahren | |
| beherrschten Paramilitärs und die [3][Farc-Guerilla] die Gegend. Damals | |
| wurde im großen Stil Marihuana und Coca für die Kokainproduktion angebaut. | |
| Die USA setzten beim Krieg gegen die Drogen Entlaubungsgifte gegen | |
| Cocaplantagen ein und ruinierten ganze Landstriche. Die Schäden konnte man | |
| in dem feucht-dampfenden Dschungel noch Jahre später sehen. | |
| Pedro Fernández ist 43 Jahre alt und arbeitet als Führer. Wandergruppen | |
| leiten darf nur, wer wie er aus der Sierra Nevada stammt. Fernández sagt: | |
| „Manche Freunde von mir haben sich früher bewaffneten Gruppen | |
| angeschlossen. Einige sind drogenabhängig geworden. Manche sind tot.“ | |
| Folgt man seinen Erzählungen, war es eine Mischung aus Zufall, Glück und | |
| Willen, dass er einen anderen Weg fand. Seine Familie wurde in der Zeit | |
| „der Gewalt“, dem brutalen Bürgerkrieg in den fünfziger Jahren, wie | |
| Hunderttausende von ihrem Land vertrieben. Sie floh in die Sierra Nevada. | |
| Als Fernández vier Jahre alt war, wurde sein Vater, ein Bauer, von den Farc | |
| getötet. Mit zehn verließ er seine Mutter, die eine neue Familie gegründet | |
| hatte, und musste arbeiten, um zu überleben. „Es ist schwer, ohne Vater | |
| aufzuwachsen. Du hast niemanden, der dich unterstützt. Die Vaterfiguren, | |
| die ich fand, wollten mich misshandeln, unterdrücken, demütigen.“ | |
| ## 1.200 Stufen führen auf das Plateau | |
| In den achtziger Jahren bekriegten sich zwei Familien beim Kampf um die | |
| Beute der Grabräuberei. Ein Mann namens Frankie Rey, ebenfalls Grabräuber, | |
| schlug sich auf die Seite der Behörden, half, den Kampf zu beenden und | |
| wurde zur Anlauffigur für die Archäologen, die die Ciudad Perdida | |
| freilegten. | |
| „Frankie Rey hat mich gerettet“, sagt Pedro Fernández. Er wurde ihm zum | |
| Ersatzvater, zum Vorbild. Rey hatte eine Geschäftsidee, die weniger | |
| gefährlich schien als Grabräuberei: Tourismus. In gewisser Weise „leben wir | |
| heute in dieser Zone von diesem Tourismus“, sagt Fernández. Die | |
| Wandergruppen ernähren nicht nur Führer wie ihn. Es gibt Übersetzer, | |
| KöchInnen, Helfer, die die drei Camps im Dschungel in Schuss halten, | |
| Lebensmittel transportieren und Rucksäcke fußmüder Wanderer durch den | |
| Schlamm tragen. | |
| Die Reiseagenturen geben einen – wenn auch kleinen – Beitrag an die | |
| indigenen Communitys weiter. Dieser Tourismus ist das Beste, was der Gegend | |
| passieren konnte. Auch wenn seit Corona nur noch halb so viele kommen wie | |
| vorher. Pedro Fernández und seine Frau haben beschlossen, wieder Reis und | |
| Bohnen anzubauen. | |
| Am dritten Tag geht es frühmorgens endlich hinauf zur Ciudad Perdida. 1.200 | |
| Stufen führen auf das Plateau. Die glitschige, schräge, mitunter extrem | |
| steile Steintreppe ist eine Herausforderung – vor allem beim Abstieg. Aber | |
| es regnet nicht, immerhin. Die Ciudad Perdida ist heute eine Reihe von | |
| majestätischen ovalen Terrassen mitten im Dschungel. Der Himmel ist um neun | |
| Uhr morgens weit, der Blick von hier oben auf die Baumkronen überwältigend. | |
| Pedro Fernández lehnt sich auf seinen Wanderstab und zeigt auf einen | |
| gewaltigen, etwa 1,50 Meter großen Stein. Der Stein zeigt ein konfus | |
| wirkendes Gewirr von Einkerbungen. „Dieser Stein ist eine Landkarte des | |
| Dschungels“, sagt er. Die Einkerbungen markieren Hunderte von Bächen, | |
| Wasserfällen, Tümpeln, Flüssen. | |
| ## Ein indigenes Forum Romanum | |
| Die Älteren, erzählt Fernández, erklärten Jüngeren die Topografie anhand | |
| solcher Steine, die auch Siedlungen und Kultstätten verzeichneten. | |
| Wegweiser, wie man sich im Dschungel zurechtfindet. Die Tairona kannten | |
| keine Schrift. Teyuna war auch ein Ort der Wissensvermittlung. Es war | |
| Marktplatz, religiöse Kultstätte, politisches Forum. Bis zu 2.000 Tairona | |
| trafen sich hier jahrhundertelang. Ein indigenes Forum Romanum. | |
| Weiter oberhalb der Ciudad Perdida gibt es im Dschungel der Sierra Nevada | |
| noch mehr heilige Orte. Aber wir wollen nicht, sagt Fermín, dass diese Orte | |
| betreten werden, auch nicht von ArchäologInnen. Der Goldschmuck, die Jade- | |
| und Quarzsteine und die rituellen Masken, die es in Teyuna gab, sind in | |
| Museen in Bogotá und Berlin oder in Millionärsvillen in Los Angeles oder | |
| Shanghai gelandet. Das soll nicht noch mal passieren. | |
| Die Ciudad Perdida ist nicht nur ein Ziel für TouristInnen. Teyuna ist auch | |
| ein sakraler Ort. Im September sind die Terrassen für Wanderer gesperrt, | |
| weil sich die Indigenen, die hier noch immer halbnomadisch leben, wie in | |
| alten Zeiten versammeln. Um den Ort, wie Fermín sagt, von den schlechten | |
| Schwingungen zu reinigen, die wir, die „jüngeren Geschwister“, | |
| hinterlassen. | |
| 16 Feb 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| Karin Gabbert | |
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