# taz.de -- Unsinnige Wahlprognosen: Wetten, dass …? | |
> Wahlprognosen, wie aktuell zur US-Wahl, sind mindestens so verbreitet wie | |
> Sportwetten. Dabei fangen sie keine Stimmung ein, sondern machen selbst | |
> welche. | |
Bild: Es wird knapp, lautet die Prognose für die US-Wahl | |
Mit Wahlprognosen verhält es sich wie mit der Zeitumstellung: niemand | |
braucht sie, jeder redet drüber und sie sind eine Plage für Körper, Geist | |
und Gesellschaft. [1][Umfragen und Wahlprognosen] finden mittlerweile schon | |
am ersten Tag nach Regierungsbildung statt: „Naaaaaaaaaa!“, fragen die | |
Wahlforscher total unbefangen, wertfrei und ohne jeden Unterton „Wie lang | |
glauben Sie, wird diese Regierung halten?“ | |
Nicht immer, aber immer häufiger sind diese Umfragen so seriös wie die | |
Frage der Zeugen Jehovas: „Das Weltende ist nah. Haben Sie schon eine | |
Versicherung dafür abgeschlossen? Wir hätten da für alle Fälle eine | |
wirklich kostengünstige, mit der Sie wieder ruhig schlafen können.“ | |
Die Ergebnisse dieser Umfragen werden in Talkshows, Nachrichtensendungen | |
und Zeitungen präsentiert und genutzt, als seien sie unkorrumpierbare | |
Daten. Die Umfragewerte samt Kommastellen suggerieren, dass das | |
Wahlverhalten präzise wie eine Feinwaage gemessen werden könnte. | |
Dabei sind sie so pädagogisch wertvoll wie der Preis von 18,99 Euro auf der | |
Speisekarte eines Restaurants. Als hätte man den Befragten Blut abgenommen | |
und würde nun die Zahlen aus dem großen Blutbild referieren. Dabei sind | |
auch Blutwerte erst dann aussagekräftig sind, wenn Menschen vom Fach sie | |
richtig interpretieren. | |
## Eine Art Fake News | |
Diese Stimmungsbarometer behandeln die Gesellschaft, als wäre sie eine | |
Patient*in, der man jeden Morgen ein Fieberthermometer in den Po steckt, um | |
festzustellen, wie es ihr geht. | |
Statt aber dem Wohlergehen der Gesellschaft zu dienen, dienen Umfragen nur | |
noch als Nachrichtenersatz. Aber sind sie wirklich eine Nachricht wert? | |
Wahlprognosen Jahre und Monate vor einer Wahl sind eher ein Scherz. Sie | |
sind kein Abbild von Stimmungen, sie machen Stimmung. | |
In gewisser Weise könnten diese Wahlumfragen weit vor einer Wahl sogar als | |
eine Art Fake News gelten. Nicht, weil sie alle so wahnsinnig falsch lägen | |
– sogar die viel gescholtenen Ergebnisse der Umfragen vor dem Brexit und | |
der US-Wahl 2016 lagen so falsch gar nicht. Aber eben nur die, die kurz vor | |
den Wahlen die Stimmung der Wahlberechtigten abfragten. | |
## Unter der Masse droht der Kollaps | |
Fake News ähnlich sind diese Umfragen oft, weil sie suggerieren, dass es | |
News gibt, wo es eigentlich nur Nichts gibt. Allein diese Sonntagsfrage. | |
„Wenn am Sonntag Wahl wäre …“ | |
Am Sonntag ist aber keine Wahl, es ist also völlig egal, was Menschen auf | |
diesen Quatsch antworten. Sie würden in einer Woche vielleicht schon wieder | |
was ganz anderes antworten und erst recht in ein, zwei oder drei Jahren. | |
Mit den Wahlprognosen verhält es sich wie mit dem Overtourism: Unter der | |
Masse droht der Kollaps. Das Ergebnis, das wirklich nah an der Wirklichkeit | |
ist, geht völlig unter. Dazu kommt, die Zeiten, in denen man sein Leben | |
lang CDU wählte, weil es schon der Großvater immer so gehandhabt hat, sind | |
vorbei. | |
## Es wird knapp. Und jetzt? | |
Ein einziges Ereignis – ein Lachen zum falschen Zeitpunkt – kann dazu | |
führen, dass man sein Kreuz woanders macht. | |
Es wird knapp, lautet die Prognose für die US-Wahl. Yo. Und? Dass es knapp | |
wird, sagten auch die Prognosen für die Landtagswahl in Thüringen. Trotzdem | |
wirkten die Parteien so, als seien sie von dem Ergebnis und der | |
Sabotage-Aufführung bei der konstituierenden Sitzung völlig überrascht. Was | |
also bringen diese ewigen Umfragen? | |
In den vergangenen Tagen wurde die [2][vom Trump-Anhänger Peter Thiel] | |
finanzierte Wettplattform Polymarket heftig dafür kritisiert, dass sie | |
Wetten auf den möglichen Sieger der US-Wahl anbietet und damit falsche | |
Tatsachen vortäusche: Trump liegt dort mit einigem Abstand vorne. [3][Elon | |
Musk wird nicht müde zu betonen, dass die Wetten ein realistischeres Abbild | |
seien] als die Umfragen. US-Bürger*innen ist es allerdings verboten, auf | |
dieser Plattform Wetten abzuschließen. Die Aussage, dass Trump hier vorne | |
liegt, ist also in der Tat buchstäblich Spekulation. | |
## Suggestiv? Aber nicht doch | |
Dass auch Nachrichten in deutschen Sendeanstalten nichts als absurde | |
Spekulationsspiele sein können, zeigte [4][Dunja Hayali] am Donnerstagabend | |
im heute-journal: Sie präsentierte eine Umfrage, nach der „nur noch“ 45 | |
Prozent der Deutschen glaubten, dass Kamala Harris die US-Wahlen am | |
Dienstag gewinnt. Vor zwei Wochen seien es noch 72 Prozent gewesen. Aha. | |
Und? Was ist daran weniger absurd, als Wetten über den Wahlausgang | |
abzuschließen? | |
Sollen die Deutschen nun ihre Verwandten in Ohio und L. A. anrufen und | |
Bescheid geben, dass Trump wieder Präsident wird? | |
Ein paar Minuten später am selben Donnerstag zeigte Maybrit Illner in | |
ihrer Talkshow eine andere Umfrage: 85 Prozent hätten dem Forsa-Institut zu | |
Protokoll gegeben, dass die Bundesregierung keine durchdachten Konzepte zur | |
Bewältigung aktueller Krisen hat. | |
Suggestiv? Aber nicht doch. Einfach nur eine völlig wertfreie Umfrage, die | |
man in Umlauf bringen kann und trotzdem glaubt, dass man damit etwas ganz | |
anderes macht, als es die Wettspiele von Figuren wie Peter Thiel und Elon | |
Musk tun. | |
2 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /AfD-Trump-und-Co/!5994513 | |
[2] /Tech-Investor-Peter-Thiel/!6041339 | |
[3] /US-Wahlkampf/!6046394 | |
[4] /ARD-verlaengert-Politshow-Vertraege/!5705405 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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gefallen. Vielleicht wäre besser, Umfragen weniger Bedeutung beizumessen. |