| # taz.de -- Häusliche Gewalt: Wenig Vertrauen in weiße Kittel | |
| > Für Opfer häuslicher Gewalt sind Kliniken häufig der erste Zufluchtsort. | |
| > Gewaltschutzkonzepte sollen Pflegende befähigen, die Fälle früh zu | |
| > erkennen. | |
| Bild: Nicht unbedingt das Umfeld, in dem Betroffene von Gewalterfahrungen beric… | |
| Berlin taz | Sie ist die „berühmt-berüchtigte Kellertreppe“ runtergefalle… | |
| Fünf Jahre lang wurde Alice Westphal von ihrem Partner und dem Vater ihres | |
| Sohns „in Grund und Boden geprügelt“, wie sie im Rückblick sagt. Immer | |
| wieder landete sie im Frauenhaus, verließ es, suchte Unterschlupf bei | |
| Freundinnen, die sie irgendwann nicht mehr aufnahmen. Als sie eines Morgens | |
| im Park überfallen und vergewaltigt wurde, verließ sie schließlich die | |
| Stadt. | |
| „Mein Schweigen habe ich erst vor sechs Jahren gebrochen“, erzählt Westphal | |
| am Montag. Sie sagt es im Jüdischen Krankenhaus Berlin (JKB) bei einem | |
| Aktionstag zum Thema „Gewalt stoppen! Gesundheit stärken!“ Westphal ist | |
| heute Gewaltschutz-Aktivistin. Die 69-Jährige ist Initiatorin der Kampagne | |
| #ichbinjededritteFrau und Gründungsmitglied der Koordinierungsstelle Signal | |
| e. V., dem Träger der Geschäftsstelle von Runder Tisch Berlin (RTB) – | |
| Gesundheitsversorgung bei häuslicher und sexualisierter Gewalt. Den Runden | |
| Tisch hat die Senatsverwaltung für Gesundheit 2019 eingerichtet. Er umfasst | |
| 31 Organisationen aus dem Gesundheitswesen sowie Vertreter*innen von | |
| Polizei, Hilfesystem, Kinderschutz und Forschung. | |
| Ziel des Aktionstags ist es, auf die Bedeutung von Krankenhäusern, | |
| Ärzt*innen und Krankenschwestern bei der Unterstützung bei häuslicher | |
| Gewalt aufmerksam zu machen. Denn: [1][In der Versorgung von Betroffenen | |
| von häuslicher Gewalt nimmt die Gesundheitsversorgung eine Schlüsselrolle | |
| ein]. Während sich etwa 11 Prozent an die Polizei und 6 Prozent an ein | |
| Frauenhaus wenden, suchen 29 Prozent ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis | |
| auf. Vielerorts mangelt es jedoch an rund um die Uhr erreichbaren Angeboten | |
| zur medizinischen Versorgung sowie dem sensiblen Umgang mit Betroffenen. | |
| Auch Westphal berichtet: „Ich wurde in den Erstaufnahmestationen in | |
| Krankenhäusern nie angemessen behandelt.“ Ihre Ausrede, sie sei die Treppe | |
| runtergefallen, hätten Ärzt*innen oder Pfleger*innen ohne eine | |
| Rückfrage hingenommen. Sie hätte sich gewünscht, dass sie traumasensibel | |
| und mutig gefragt worden wäre, sagt Westphal. „Dann hätte ich mich | |
| vielleicht getraut, etwas zu sagen.“ Ihre Gewalterfahrungen sind schon über | |
| 40 Jahre her, „aber seitdem hat sich nicht allzu viel getan“, meint sie. | |
| ## Häusliche Gewalt gegen Frauen steigt | |
| Bundesweit berichtet jede 4. Frau von körperlicher oder sexueller Gewalt. | |
| [2][Die Berliner Polizei erfasste 2011 noch 9.836 Gewalttaten im | |
| partnerschaftlichen Kontext. 2023 waren es 12.682.] In Berlin gab es in | |
| diesem Jahr bereits 29 mutmaßliche Femizide. Erst am Sonntag hatte ein Mann | |
| in Marzahn seine Frau und zwei Kinder ermordet. | |
| Seit 2016 fordert der Krankenhausplan des Landes Berlin von Kliniken der | |
| Notfallversorgung Konzepte zur Versorgung von Erwachsenen und Kindern nach | |
| häuslicher und sexualisierter Gewalt. Der Senat hat den Plan 2020 | |
| konkretisiert. 37 Krankenhäuser in Berlin verfügen über eine Zentrale | |
| Notaufnahme/Rettungsstelle. Einige haben „Gewaltschutzteams“ für die | |
| interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie zur Koordination und Steuerung der | |
| Versorgung eingerichtet. | |
| Auch das Jüdische Krankenhaus Berlin (JKB) hat 2020 mithilfe der | |
| Koordinierungsstelle Signal e. V. ein Gewaltschutzteam eingeführt, das | |
| Ärzt*innen und Pflegepersonal bei Verdacht auf häusliche Gewalt | |
| sensibilisiert. Wie diese Schulungen aussehen, zeigen Jörg Reuter, | |
| Ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme und Leiter des | |
| Gewaltschutzteams am JKB, und Dorothea Sautter von Signal am Montagmorgen | |
| vor Journalist*innen. | |
| 10 Stationssekretär*innen, Pflegedienstkräfte und Ärzt*innen der Station | |
| für Innere Medizin nehmen an der Schulung zum Thema „Traumainformierte | |
| Versorgung bei häuslicher Gewalt“ teil. [3][Das Thema sei scham- und | |
| schuldbehaftet], sagt Sautter. Das führe dazu, dass Opfer nicht über ihre | |
| Gewalterfahrungen sprechen. „Die Betroffenen suchen häufig die Schuld bei | |
| sich selbst“, berichtet Reuter. „Das darf man nie bekräftigen. Gewalt ist | |
| nie okay.“ Umso wichtiger sei es daher, dass es in der | |
| Gesundheitsversorgung aktiv angesprochen wird. Auch Westphal fordert: „Das | |
| Thema muss aus der Tabuzone geholt werden.“ | |
| ## Warnsignale frühzeitig erkennen | |
| Anschließend wird das Pflegepersonal darin geschult, Warnhinweise, | |
| sogenannte „red flags“, zu erkennen. Dazu gehören: übermäßige Angst, | |
| Abwehrverletzungen wie blaue Flecken oder schlecht verheilte Brüche, | |
| Erklärungen, die mit den Verletzungen nicht übereinstimmen, Substanzkonsum | |
| oder übermäßig fürsorgliche Partner, die Frauen nicht aus den Augen lassen. | |
| Bei Verdacht auf mögliche Gewalterfahrungen rät Dorothea Sautter von Signal | |
| dem Pflegepersonal: „Seien Sie mutig!“. Auch Alice Westphal, die Workshops | |
| an Krankenpflegeschulen der Ärztekammer gibt, sagt zur taz: „Wir können | |
| intervenieren, indem wir hinsehen, aktiv, traumasensibel und mutig | |
| ansprechen.“ Dem Pflegepersonal raten sie, Betroffene aktiv anzusprechen, | |
| Unterstützungsbedürfnisse und Gefährdungen zu erfragen sowie Verletzungen | |
| zu dokumentieren. | |
| Wichtige Rahmenbedingungen sind dabei ein geschützter Rahmen, ein Gespräch | |
| unter vier Augen sowie Respekt und Akzeptanz gegenüber den Entscheidungen | |
| der Betroffenen. Schließlich wird das Personal gebrieft, wie sie | |
| Betroffenen Wege ins spezialisierte Hilfenetz bahnen. Weitergeleitet werden | |
| sie an Fachberatungsstellen, mit denen das JKB einen Kooperationsvertrag | |
| hat, wie der BIG- Hotline, der TIN*-Antigewaltberatung oder Frauenhäuser. | |
| Im JKB bewährt sich das Konzept: „Seit der Einführung des | |
| Gewaltschutzkonzepts haben wir dreimal so viele Fälle erfasst wie davor“, | |
| berichtet Reuter. Doch das Angebot besteht nicht flächendeckend. Das JKB | |
| sei das Erste von vier Krankenhäusern, in denen er in Berlin gearbeitet | |
| hat, das ein Gewaltschutzteam hat, so Reuter. Die Einführung des Angebots | |
| scheitert häufig an mangelndem Wissen über die Thematik sowie Ressourcen: | |
| „Es braucht Zeit. Wir müssen Zusatzbögen ausfüllen und eine | |
| Fotodokumentation machen“, sagt Reuter – und benennt damit ein weiteres | |
| Kernproblem: die mangelnde gerichtsverwertbare Dokumentation von | |
| Verletzungen. | |
| ## Verletzungen müssen gerichtsfest dokumentiert werden | |
| Betroffene von sexualisierter und/oder häuslicher Gewalt stehen häufig | |
| unter Schock oder können aus Angst und Scham nicht sofort entscheiden, ob | |
| sie Anzeige erstatten und damit ein Strafverfahren in Gang setzen wollen. | |
| Daher sind gerichtsfeste Beweise ihrer Verletzungen essenziell für eine | |
| potenziell erfolgreiche Strafanzeige. Es fehlt jedoch häufig an | |
| medizinischem Personal, das gerichtsverwertbare Dokumentation von | |
| Verletzungen oder anonyme Spurensicherung durchführt. Abgesehen von dem JKB | |
| ist die gerichtsfeste Dokumentation von Verletzungen bei Betroffenen von | |
| häuslicher Gewalt nur in 8 Notaufnahmen von Berliner Krankenhäusern | |
| möglich. | |
| Seit der Reform des Landeskrankenhausplans 2020 haben Betroffene zudem das | |
| Recht auf vertrauliche DNA-Spurensicherung. Damit können sie ihre Spuren | |
| vertraulich und anonym sichern lassen, ohne sofort Anzeige bei der Polizei | |
| zu erstatten. So besteht die Möglichkeit, in Ruhe zu überlegen, ob eine | |
| Anzeige erstattet werden soll oder nicht. Diese Möglichkeit besteht nur in | |
| der Charité. | |
| Alice Westphal fordert daher: Es braucht fachlich geschulte | |
| Mediziner*innen und Pflegekräfte, die die Fotodokumentation | |
| durchführen können. Zudem fordert sie rechtsverbindliche Dokumentations- | |
| und Anamnesebögen, auf denen Gewalterfahrungen abgefragt werden. „Ich hätte | |
| auch nicht beim ersten Mal zugegeben, dass ich Gewalt erfahren habe“, sagt | |
| sie. „Aber es geht darum, Frauen wenigstens die Chance zu geben, darüber zu | |
| sprechen.“ | |
| 4 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lilly Schröder | |
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