| # taz.de -- Ärzteschaft in Deutschland: Die Götter in Weiß und ihre Lobby | |
| > Warum gibt es eigentlich so wenig Kritik an Ärztelobbys? Zwei Beispiele, | |
| > die zu denken geben. | |
| Bild: Kasse oder privat? Warten auf Behandlung | |
| Berlin taz | Lobbyvertreter der Ärzteschaft stoßen in den Medien selten auf | |
| Widerspruch, wenn sie vermeintliche Missstände anprangern. Das Bild der | |
| „Götter in Weiß“ scheint doch sehr wirkmächtig zu sein. Ein Beispiel aus | |
| der jüngsten Vergangenheit war die Forderung nach Ausfallhonoraren, wenn | |
| Termine von Patientinnen und Patienten nicht wahrgenommen werden. | |
| Es sei mehr als ärgerlich, wenn Patienten Termine einfach verstreichen | |
| lassen würden, kritisierte die Kassenärztliche Bundesvereinigung [1][(KBV)] | |
| Mitte September. Deren Termine würden dann für andere nicht mehr zur | |
| Verfügung stehen. Der KBV-Vorsitzende Andreas Gassen forderte dann recht | |
| medienwirksam eine „von den Kassen zu entrichtende Ausfallgebühr“. | |
| Was dabei in den Hintergrund rückte: Auf welcher dünnen Basis diese | |
| Forderung entstand. Bezug genommen wird dabei auf eine Umfrage der | |
| Organisation vom Sommer 2023 zu nicht abgesagten Terminen, die über acht | |
| Tage lief: 2.218 Personen nahmen teil und beantworteten zwei Fragen: „Haben | |
| Sie in Ihrer Praxis Probleme mit unabgesagten Terminen?“, was ungefähr 68 | |
| Prozent mit „Ja“ beantworteten. Bei „Falls ja, wie viel Prozent der Termi… | |
| betrifft dies?“, gaben nur 16 Prozent der Antwortenden einen Bereich von 10 | |
| bis 20 Prozent aller Termine an, während eine geringe Minderheit von rund 3 | |
| Prozent behauptete, dass mehr als 20 Prozent aller Termine betroffen seien. | |
| ## Wie aussagekräftig ist die Umfrage? | |
| Dazu noch eine Kennzahl: 168.285 Ärztinnen und Ärzte mit rund 330.000 | |
| Fachangestellten waren 2023 tätig. Es ist fraglich, wie aussagekräftig | |
| solch eine Onlineumfrage sein kann. | |
| Eine der wichtigsten Aufgaben der Kassenärztlichen Vereinigung ist es, sich | |
| mit den Krankenkassen auf die Vergütung der vertragsärztlichen Leistungen | |
| zu einigen. Sie teilt auch die Vergütungen, die von den Krankenkassen | |
| direkt an die Kassenärztliche Vereinigung gezahlt werden, je nach | |
| erbrachter Leistung auf die einzelnen Ärztinnen, Ärzte, | |
| Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auf. Nach eigenen Angaben kämpft | |
| sie dafür, den Arztberuf „wieder attraktiver zu gestalten“: „Keine andere | |
| Ärzteorganisation kann einen solchen unmittelbaren Einfluss auf Politik und | |
| Gesetzgebung geltend machen.“ Und das tut sie auch. | |
| „Die Ärzteschaft versteht es, ihre eigenen Interessen so zu überhöhen, als | |
| ob diese Interessen auch im Interesse der Gesellschaft sein würden“, | |
| kritisiert Nadja Rakowitz, Sprecherin des [2][Vereins demokratischer | |
| Ärzt*innen], der sich vehement gegen die Ökonomisierung des | |
| Medizinbetriebs wendet. Ärztelobbys wie Hartmannbund oder Kassenärztliche | |
| Vereinigungen seien aber ökonomische Interessenverbände von | |
| Kleinunternehmern, weniger medizinische. Sie nutzten die Reputation ihrer | |
| Berufsgruppe aus, um ihre privaten, betriebswirtschaftlichen Interessen zu | |
| verschleiern und sie zu allgemein menschlichen zu überhöhen. Dies diene | |
| laut Rakowitz selten dem Wohl der Patient*innen. | |
| ## Forderung nach Ausfallhonoraren | |
| Auch die Forderung nach Ausfallhonoraren kann sie nicht nachvollziehen. Um | |
| einen Facharzttermin zu erhalten, müsse man monatelang warten. „Und nimmt | |
| man ihn dann wahr, hat man in der Praxis immer noch Wartezeiten von zwei | |
| Stunden oder mehr“, sagt Rakowitz. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das | |
| zu größeren Verwerfungen führt, wenn jemand dann mal nicht kommt.“ | |
| Dennoch wurde die entsprechende Pressemitteilung in den meisten Medien ohne | |
| kritische Betrachtung übernommen, genau wie eine Meldung über die | |
| gestiegene Gewalt in Arztpraxen. Das war bereits Mitte August. Auch dort | |
| war die Datenbasis dünn. Erst im Nachhinein machte die KBV eine | |
| Onlineumfrage, um diese Aussage mit Zahlen zu belegen. | |
| Natürlich ist Gewalt gegen wen auch immer unakzeptabel. Aber die | |
| Botschaften aus der letzten Zeit, die von den einschlägigen | |
| Lobbyorganisationen gestreut wurden, prägen die Ansichten von | |
| gesellschaftlicher Realität. Es wurde der Eindruck erweckt, dass in den | |
| Arztpraxen ein wild gewordener, gewalttätiger Mob zum Alltag geworden ist. | |
| Und dass das Blaumachen ebenfalls an der Tagesordnung ist. | |
| ## Keine gute Versorgung | |
| Mögliche Ursachen dafür – sollten die Beschreibungen zutreffend sein – | |
| fehlten aber ganz. „Angesichts der Zustände wird auch die steigende | |
| Gereiztheit der Betroffenen sicherlich eine Rolle spielen“, vermutet | |
| Rakowitz. Letztlich würden Patient*innen in ihrer Ganzheit | |
| diskreditiert: „Aber alle merken, dass keine gute medizinische Versorgung | |
| im ambulanten Bereich mehr gegeben ist.“ Dabei sind es die gesetzlich | |
| Versicherten, die etwa im Jahr 2023 mit ihren Beiträgen von rund 290 | |
| Milliarden Euro maßgeblich zur Finanzierung des Gesundheitssystems | |
| beitrugen, sich aber immer mehr als Bittsteller oder Almosenempfänger | |
| behandelt fühlen. | |
| „Vor 30 Jahren war es noch undenkbar, dass heute etwa solch eine | |
| Ungleichheit zwischen gesetzlich und Privatversicherten besteht“, sagt die | |
| Sprecherin der demokratischen Ärzt*innen, es sei „eigentlich | |
| berufsrechtlich verboten, dass jemand früher einen Termin bekommt, weil man | |
| an ihm mehr Geld verdient“. | |
| Heute ist es auf Apps, mit denen Termine online gebucht werden können, für | |
| jeden durch einen Selbstversuch offensichtlich, dass Privatpatienten | |
| bevorzugt werden. Es sei auch Aufgabe der Medien, die Verlautbarungen der | |
| ärztlichen Lobbygruppen kritisch zu durchleuchten, merkt Rakowitz an. | |
| 26 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wilfried Urbe | |
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