# taz.de -- Theaterstück über Mutterschaft: Amnesie als Rettung | |
> Anna Gschnitzer sucht in ihrem neuen Stück nach einer Neudefinition der | |
> Mutterrolle. „Die Entführung der Amygdala“ läuft an der Berliner | |
> Schaubühne. | |
Bild: Die Mutter begreift sich nicht mehr als Mutter: Ruth Rosenfeld in „Die … | |
Imaginärer Kartoffelbrei fliegt durch das Studio der [1][Berliner | |
Schaubühne] und landet auf imaginärer Kinderhaut. Ruth Rosenfeld spielt | |
eine Mutter, die keinen Namen hat und ihren ersten wirklich glücklichen | |
Moment mit ihren Töchtern erlebt, als sie beide mit Kartoffelbrei bewirft. | |
Um dahin zu kommen, braucht es einen Fahrradunfall mit Nahtoderfahrung. Und | |
als Folge die Amnesie. | |
Die Mutter begreift sich nicht länger als Mutter. Sie definiert sich als | |
Alien, legt alle ihr zugeschriebenen Rollen ab, setzt sich mit den Kindern | |
unter den Tisch, der als Raumschiff fungiert, und ist bereit für den | |
Abflug. Rückkehr ins alte Leben ist für sie keine Option. Die Amnesie ist | |
ihre Rettung. | |
Anna Gschnitzer verhandelt in ihrem neuen Stück „Die Entführung der | |
Amygdala“ [2][die Mehrfachbelastung einer berufstätigen Mutter in einer | |
heterosexuellen Beziehung], in der immer noch die Frau den Großteil der | |
Sorge-Arbeit übernimmt. Der Südtiroler Autorin geht es um das Selbstbild | |
der Figur und so steht (sitzt, liegt, klettert und springt) Ruth Rosenfeld | |
neunzig Minuten lang alleine auf der Bühne. | |
Der Text beginnt ziemlich konventionell mit einer langen Schimpftirade auf | |
die Zustände, splittet sich dann auf in [3][einen Dialog zwischen Figur und | |
Amygdala], einer Stimme aus ihrem Gehirn (Amygdala ist die | |
Gehirnverbindung, die für Angstzustände verantwortlich ist), und wird im | |
letzten Teil extrem spannend, weil sich Gschnitzer ihrer Figur im Zustand | |
der Amnesie annähert und deren Verhalten als „erinnerungsloses Wesen“ | |
beschreibt. | |
Das wiederum führt sprachlich zu Satz-Kreationen wie „Das Gesicht ist | |
undicht“, wenn jemand weint. Der Text der 38-jährigen Dramatikerin endet | |
mit der radikalen Negierung der tradierten Mutterrolle. Zu sehen ist das | |
als [4][Ausgangspunkt für eine Neudefinition der Rolle] mit einem Fokus auf | |
der Befreiung von Verantwortungslast. | |
Mix unterschiedlicher Regie-Elemente | |
Anika Stauch setzt in ihrer ersten Regiearbeit an der Schaubühne auf ein | |
Mix aus unterschiedlichen Regie-Elementen. Die 31-Jährige kombiniert | |
großformatige Fotos mit digitalen Farblandschaften, verwandelt Ruth | |
Rosenfeld in eine bizarre Schattentheaterfigur und gibt ihr einen zweiten | |
Körper in Form einer Großpuppe ohne Kopf. Rosenfeld agiert lange in einem | |
extrem reduzierten Kraftfeld, das von zwei spitz aufeinander zulaufenden | |
Stellwänden gebildet wird. | |
Als „Wesen ohne Erinnerung“ kann sie sich aus dieser erzwungenen | |
Beschränkung befreien, stößt die Stellwände zur Seite und öffnet so den | |
Raum bis zur Hinterbühne (Bühne: Felix Remme). Darin das Negativ eines | |
Hauses, markiert durch dreidimensionalen Konturen, und in diesem sitzt Ruth | |
Rosenfeld an einem Tisch, wirft mit imaginärem Kartoffelbrei um sich und | |
wird dabei von zwei Windmaschinen mit weißen Kunstfedern zugewirbelt. | |
Später liefert sich die Schauspielerin ein euphorisch-verbales Duell mit | |
musikalischen Zitaten aus Wagners „Ring“. Ihre Figur hat zu diesem | |
Zeitpunkt die Pfade der konventionellen Patriarchatskritik längst | |
verlassen. Sie muss keine Rolle mehr spielen und ist nur noch für sich | |
selbst verantwortlich. | |
Rosenfelds Spiel wird jetzt intimer. Die neue Gefühlslage ihrer | |
Protagonistin erreicht sie durch einen Mix aus Verwunderung, Verspieltheit | |
und Distanzierung. „Ich habe so dafür gekämpft, dass mir die Nähe, die | |
Zärtlichkeit, die Liebe nicht all meine Kraft aus dem Körper presst“, sagt | |
die Figur. „Wie soll ich eurer Zärtlichkeit begegnen, wenn ich dafür jemand | |
sein muss, der ich nicht bin?“ Ruth Rosenfeld legt ein letztes | |
E-Gitarren-Solo hin, dann geht es weiter zur nächsten Galaxie. | |
16 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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