| # taz.de -- Die Kunst der Woche: Körper in Ekstase | |
| > Bei 1-06 Berlin trifft alter Glanz auf alte Bekannte, das Ergebnis ist | |
| > von magischer Opulenz. Benita Suchodrev ehrt die Berliner Clubs in | |
| > Schwarz-Weiß. | |
| Bild: 1-06 Berlin bespielt leerstehende Gebäude, diesmal ein ehemaliges Kultur… | |
| Es gibt sie noch in Berlin, die guten alten Fabrik-, Büro- oder | |
| Lagergebäude aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die immer noch | |
| unsaniert vor sich hin rotten und sich doch wunderbar für (sub-)kulturelle | |
| und kreative Unternehmungen eignen – wie die von [1][1-06 Berlin]. Die | |
| Kunstplattform bespielt derzeit die Wilhelminenhofstr. 66-68 in | |
| Oberschöneweide, ursprünglich eine Batteriefabrik, die nach dem Krieg zum | |
| DDR Kulturhaus wurde. Dort trifft man Leute, die dort noch geheiratet und | |
| im 500 Quadratmeter großen und sieben Meter hohen Festsaal gefeiert haben. | |
| Ältere Leute aus der Nachbarschaft, die neugierig sind, was dort passiert – | |
| denn es passiert viel, naturgemäß für jüngere Leute. | |
| Eine erste Ausstellung ist „Act I: In-Between-Spaces“, kuratiert von den | |
| [2][1-06 Berlin]-Gründer:innen Anja Bien und Stefan Damnig sowie von Ernst | |
| Burkel, der in den 1990er Jahren den Projektraum Shift in der | |
| Friedrichstraße 122/123 betrieb. Nun zeigt Burkel in Oberschöneweide alte | |
| Bekannte aus Shift-Zeiten wie Christine Fenzl mit Porträts, die sie mit | |
| einer aufmerksamen Beiläufigkeit aufgenommen hat, wie sie nur im vertrauten | |
| alltäglichen Miteinander entstehen kann. | |
| Auch Marjolaine Boonstras „Monologue intérieur“ war 1996 schon einmal bei | |
| Shift zu sehen, was die Wiederbegegnung umso spannender macht. Die farbigen | |
| Großformate, stellt man fest, sind nicht gealtert. Die Mehrfachbelichtungen | |
| eines prachtvollen Theatervorhangs bei vorhandenem Licht oder die einer | |
| leeren Rolltreppe, die auf eine Wand zufährt, an der eine großformatige | |
| Fotografie hängt, von der man vermuten muss, dass sie von Marjolaine | |
| Boonstras stammt – sie haben in ihrer magischen Opulenz noch immer großen | |
| melancholischen Reiz. | |
| Auf dem Weg durch die Räume und die Etagen begegnet man Michael Sellmann, | |
| der sich mit seiner „Decay Final Note“ in das Gebäude bohrt und die Rüsch… | |
| beschriftet, die der Putz bildet, wenn er sich von der Wand löst. Man | |
| trifft auf Videos von Monty Richthofen und Yasmina Dexter, auf Arbeiten von | |
| Ernst Burkel selbst; man steht im Raum mit der Diashow von Tom Neubauers | |
| sensiblen Männerporträts; und dann zeigt Martin Eberle seine berühmten | |
| [3][Fotografien aus dem berlintokyo]. Zeigt die Ausgelassenheit beim | |
| Auftritt der Stuttgarter Punk-Combo Midget, deren Sänger einen Handstand | |
| breakdanced, zeigt Bilder von der Love Parade 1994 und dem leeren E-Werk, | |
| dem leeren Tresor und dem leeren Maria. | |
| Und schließlich bleibt man bei den Sexszenen hängen, die die 1979 in | |
| Vilnius geborene Fotografin Julija Goyd mit Freunden in deren Räumen | |
| aufgenommen hat. Bemerkenswert sind zum einen genau diese extravaganten | |
| Räume, die man kaum für möglich hält, verlassene Autowerkstätten, | |
| romantische Dachböden ohne Heizung und fließendes Wasser, und bemerkenswert | |
| sind zum anderen die nackten Körper, die mit Stil und Entschlossenheit in | |
| mehr oder weniger exzeptionelle, interessant anzuschauende Stellungen | |
| gebracht werden. | |
| ## Berliner Clubs der Nachwende | |
| Körper in Ekstase, schweißnass, geschminkt, herausgeputzt, verkleidet und | |
| in Ketten gelegt, sind auch das Thema von „Le bal infernal“, der | |
| Ausstellung von Benita Suchodrev im [4][Fotografiska] im ehemaligen | |
| Tacheles. Als die Fotografin, die aus Russland in die USA immigrierte und | |
| dort Liberal Arts und Englische Literatur studierte, 2008 nach Berlin kam | |
| und für ihre ersten Aufträge in die Clubs geschickt wurde, dürfte das Bild, | |
| das sie dort sah, ein ungewohntes gewesen sein. Was die Aufmerksamkeit nur | |
| umso mehr weckte und den Blick weitete. Denn die Fotografin erkannte eine | |
| Szene, die das Fotografieren einfach herausforderte, und ganz grundsätzlich | |
| ihre Fähigkeiten – obwohl und gerade weil die Kamera dort nicht wohl | |
| gelitten ist. | |
| Aber es gelang der Fotografin sich mit den Leuten zu verständigen. Und die | |
| fühlten sich dann auch zu Recht nicht gestört, denn Benita Suchodrev blieb | |
| trotz großer und größter Nähe zu ihren Protagonisten auf Distanz. Sie | |
| tauchte nicht ein, blieb die Fotografin der absolut großartigsten | |
| Schwarzweißaufnahmen, die sich die Szene erhoffen konnte; Autorin von | |
| Fotos, die in der Geschichte des Nachwende-Berlins und seiner Clubszene | |
| schmerzlich vermisst würden, hingen sie nicht an den Stellwänden des | |
| Fotografiska. | |
| Und dort ist nun zu sehen, dass sich Suchodrev ganz auf die Clubgänger und | |
| Clubgängerinnen konzentriert und die Umgebung weitgehend ausblendet. In | |
| ihren kontrastreichen Aufnahmen ist der Hintergrund meist schwarz, nur in | |
| den seltenen Farbaufnahmen ist manchmal ein Bühnenvorhang zu sehen. | |
| Wo die undatierten Fotografien aus der Zeit von 2008 bis heute aufgenommen | |
| wurden, ist also nie zu erkennen. Suchodrev porträtiert die Menschen im | |
| Club, manchmal wie in einer richtigen Porträtsitzung, etwa bei der | |
| Schwarzen Frau im roten Kleid vor dem roten Vorhang, öfter aber in einer | |
| Momentaufnahme, und dann schaut auch schon mal der Junge mit der | |
| Schweinsmaske direkt ins Objektiv. | |
| Benita Suchodrev schießt gerne aus der Hüfte und dank der kaum | |
| wahrnehmbaren Kamera kann sie Gesten und Bewegungen einfangen, in denen die | |
| Schönheit und Freiheit deutlich wird, die in Ausschweifung und | |
| vermeintlicher Lasterhaftigkeit liegen. Überhaupt scheint Freiheit das | |
| Motiv des Nachtlebens zu sein, wo sich Leute treffen, die sich sonst nie | |
| begegnen würden, wo keine Form von Spiel und des Sex undenkbar ist. Und wo | |
| die Menschen deshalb immer schön sind. So wie die junge nackte Gitarristin. | |
| 31 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
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