| # taz.de -- Hörspiel wird Theaterstück: Das zerlegte Universalgenie | |
| > 70er-Jahre-Frisuren inklusive: Aus George Perecs respektlosem Hörspiel | |
| > „Maschine“ wird in Hamburg ein vor allem auf Lacher angelegter Abend. | |
| Bild: Machen die erhabene Großdichtung wieder zu reinem Material: Perecs Masch… | |
| Hamburg taz | Es ist ohne Weiteres möglich, sich einfach gut unterhalten zu | |
| lassen. Vielleicht nicht die ganzen 90 Minuten lang, die diese Inszenierung | |
| ziemlich exakt dauert – aber halt doch einen ganzen Theaterabend. Denn auf | |
| komödiantische Effekte ist diese erste Regiearbeit angelegt, die Anita | |
| Vulesica am Deutschen Schauspielhaus besorgt hat. Sie ist wiederum [1][eine | |
| Art Fachfrau fürs Inszenieren dieses Autors] – überhaupt, das sei schon mal | |
| in die Lochkartenpappe gestanzt, erweisen Stoff und Ausführende sich hier | |
| als bestens passend zueinander. | |
| Das teils reichlich aufgetragene Komödiantische also beginnt mit dem | |
| retrofuturistischen Charme blassgrüner Uniformen und den | |
| 70er-Jahre-Schlagerstar-Frisuren, die von vier der fünf Männerköpfe | |
| wuchern, die wir im Lauf des Stücks sehen werden: Soll damit die | |
| Entstehungszeit der Vorlage markiert sein, das so symbolträchtige Jahr | |
| 1968? Was hatten sie damals aber auch für kuriose Technik, so klobig und | |
| komische Geräusche machend. Ja, da feixt der spätestens zum Schlussvorhang | |
| unverzüglich das iPhone zückende Besucher. | |
| Womit aber auch ein Problem benannt wäre: Hö hö hö. Schau mal, wie skurril | |
| das damals alles war! Natürlich führt auch das zu Lachern, aber es ist | |
| keine Analyse irgendeines technischen Stands der Dinge. Darum geht es hier | |
| aber ganz maßgeblich: um Technik einerseits und um deutsches | |
| Dichterfürstentum andererseits. Beider Aufeinandertreffen lädt bis heute zu | |
| Irritation ein, das hat die Rezensentin einer namhaften Hamburger | |
| Tageszeitung [2][gerade wieder vorgemacht]. Oder war einfach keine Zeit, | |
| sich für den Stoff zu interessieren? | |
| Denn, Rolle rückwärts: „Die Maschine“, so hieß das Hörspiel, das Georges | |
| Perec 1968 für den Saarländischen Rundfunk verfertigte. Sein erstes | |
| überhaupt, und maßgeblich beteiligt am Zusammenkommen des jungen Autors und | |
| der aufgeschlossenen Sendeanstalt (respektive Hörspielredaktion) war Eugen | |
| Helmlé, weit mehr als [3][später mal eben DER Übersetzer Perecs]. | |
| Eingespeist in eine damals noch weit jenseits des Machbaren imaginierte | |
| Maschine wird im Stück nun ausgerechnet waldromantisch deutschtümelndster | |
| Kanon-Stoff, nämlich Großdichter Goethens [4][„Wandrers Nachtlied“], | |
| genauer: das zweite der beiden darunter gefassten Gedichte, „Über allen | |
| Gipfeln“, entstanden 1780 und zuallererst auf die Wand einer [5][Thüringer] | |
| Wanderhütte notiert. | |
| Was sind das für Zutaten: Der Sohn polnischstämmiger Juden, 1936 in Paris | |
| geboren und als Kind dann Zeuge der deutschen Besatzung; der Vater Icek als | |
| französischer Soldat 1940 „gefallen“, die Mutter Cyrla 1943 [6][ins KZ | |
| verschleppt und dort wohl ermorde]t – wie kann, wie soll sich so jemand nun | |
| ausgerechnet einem Gedicht Goethes annähern, das nicht einfach eines unter | |
| vielen war? Denn als Keim eines nie zum Blühen gebrachten, also: | |
| realisierten Romans sind die acht Zeilen betrachtet worden, als ganze | |
| Goethe’sche Kosmologie, bloß halt extrem komprimiert. | |
| Respekt also wäre bei dieser Konstellation überraschend, gar die andächtige | |
| Ehrfurcht, die mindestens Teile deutschen Bürgertums befällt bei diesem | |
| Poem und seinem Schöpfer an sich. Wie nun aber so ein Gedicht unangetastet | |
| lassen – nach Auschwitz? | |
| Ganz sicher nicht, als wäre nichts gewesen. Perec, der seinerzeit schlecht | |
| bezahlt in einem Pariser Institutsarchiv mit früher Computertechnik | |
| umzugehen hatte, holt es also herab von allen weihevollen Wipfeln deutscher | |
| Gemütsgebirge und heraus aus dem thüringischen Immergrün. | |
| [7][Er lässt die Maschine den Text verarbeiten], und das in wirklich jeder | |
| erdenklichen Hinsicht: auf inhaltliche, grammatische, phonetische und | |
| weißgottnochwelche Weise wird analysiert, permutiert, gegen den hehren Sinn | |
| gebürstet, werden Worte ersetzt durch im Wörterbuch benachbarte, Verben zu | |
| Substantiven und umgekehrt … | |
| Kurz: Perec führt die hohe Dichtkunst auf das zurück, was sie eben immer | |
| auch ist: ein Umgehen mit sprachlichem Material. Bis am Ende Schweigen ist. | |
| Das Wort in mehreren Sprachen, irgendwann nur noch Phonem, und dann | |
| wirklich: gar nichts mehr. | |
| Wie in der Hörspielvorlage besteht die Maschine auch auf Henrike Engels | |
| Bühne aus mehreren Menschen. Ganz rechts und ganz oben vor einer Wand aus | |
| silbernen Rohren sitzt eine interessanterweise weibliche „Kontrolle“ | |
| (Sandra Gerling). Sie gibt den Ton an, beziehungsweise Kommandos an die | |
| drei absteigend aufgereihten „Speicher“ (Christoph Jöde, Moritz Grove und | |
| Daniel Hoevels). Noch weiter unten sitzt noch so ein Technik-Mann (Camill | |
| Jammal), der hier tatsächlich allerlei (Klang-)Technisches erledigt: | |
| Samples bereithält, Musik, solche Sachen. | |
| Auffälliger ist die andere Weiterung des Personals. Immer mal wieder tritt | |
| nämlich Georges Perec (Yorck Dippe) selbst auf, oft stumm, aber auch mal | |
| Bibel-Evergreens eine entfernt ähnlichen Permutationskur unterziehend: Da | |
| spricht dann „Gram“, es solle „Lid“ werden. Auch im Original der Genesis | |
| geht es ja um Sprache und das Schöpferische. Und was das Hörspiel nicht zu | |
| transportieren vermag, hier geht es nun; eine Art der Verarbeitung des | |
| Gedichts ist, es auf der Bühne zu tanzen. | |
| Auf Textebene gibt es ein paar Weiterungen und Aktualisierungen. Immerhin | |
| ist der Theaterabend doppelt so lang wie damals das Hörspiel. Wo es 1968 | |
| darum gegangen sein muss, aufs Maschinenhaft-Gleichförmige anzuspielen, | |
| dürfen die Darstellenden nun die Stimmen farbenfroher einsetzen. | |
| Manches Zotige aber – was, wenn wir aus den „Vögeln“ ein Verb machen?–… | |
| jetzt so besonders gut ankommt, ist schon bei Perec angelegt, wird aber | |
| potenziert durch dieses durchweg enorm präzise Spiel. Allemal wichtiger als | |
| alle [8][Dieter-Thomas-Kuhn-Anspielungen] ist und bleibt fürs Gelingen der | |
| Komödie ja das Timing – und das, wie so vieles andere, stimmt hier einfach. | |
| 16 Oct 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.nachtkritik.de/nachtkritiken/deutschland/berlin-brandenburg/ber… | |
| [2] https://www.abendblatt.de/hamburg/kultur/article407449055/die-maschine-im-d… | |
| [3] https://webdoku.sr.de/georges-perec-de.html | |
| [4] https://de.wikisource.org/wiki/Wandrers_Nachtlied | |
| [5] /Thueringen/!t5672364 | |
| [6] /Konzentrationslager/!t5008908 | |
| [7] /OuLiPo/!1689269/ | |
| [8] /Nachruf-Schlagersaenger-Juergen-Marcus/!5509549 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Diehl | |
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