# taz.de -- Ein Urlaub mit dem Vater vor 24 Jahren: Die erste Reise nach Rom | |
> Öffentliche Plätze sind voll mit allen, die dort einmal waren, sagt | |
> Georges Perec. Kann man Erinnerungen wiederbeleben, wenn man diese | |
> abläuft? | |
Bild: Der Venusbrunnen im Park der römischen Villa Borghese | |
Vor Kurzem bin ich durch Zufall auf ein Bild meines allerersten Rombesuchs | |
gestoßen. Es war vor etwa vierundzwanzig Jahren. Eine Reise mit meinem | |
Vater. Auf besagtem Bild sitzen wir am Rand der Fontana della Barcaccia, | |
dem schiffsförmigen Bernini-Brunnen unterhalb der Spanischen Treppe. Mein | |
Vater ist damals um die sechzig Jahre alt. Er trägt ein gelbes Polohemd, | |
hat dichtes blondes Haar, dicke Augenbrauen und ein strahlendes Lächeln. Er | |
befindet sich in der sogenannten Blüte seines Lebens. Ich wiederum bewege | |
mich mit meinen zwölf Jahren auf jene Jahre zu, in denen man sich nicht nur | |
komisch und unfertig fühlt, sondern meistens auch so aussieht: Ich schwimme | |
in einem zu großen schwarz-roten Sweater, dessen Ärmel ich über meine Hände | |
ziehe, mein Lächeln wird von einer Zahnspange verziert. Wir stehen an zwei | |
sehr unterschiedlichen Punkten des Lebens, aber wir freuen uns beide: Wir | |
sind in Rom! | |
Diese Reise war eine von vielen, die wir zusammen unternehmen würden, nur | |
blieb sie uns irgendwie immer als besonders in Erinnerung. Wegen der | |
Sehenswürdigkeiten, klar, aber vor allem, weil der Ausflug mit einer | |
amüsanten Anekdote begann: Wir waren noch keine halbe Stunde in der Stadt, | |
als mein Vater meinte, wir müssten nun sofort zum Petersdom pilgern. Für | |
ihn war und blieb es die erste Station, dass er von der Kirche gar nichts | |
hielt tat dabei wenig zur Sache. Wir stiegen also in die U-Bahn, irgendwo | |
nahe der Piazza Bologna, standen gequetscht zwischen Leuten in der feuchten | |
Hitze, fuhren vorbei am Kolosseum und dem Circo Massimo bis wir „San | |
Pietro“ erreichten. | |
Bis hierhin war alles gut. Wir schlenderten über den mitten in den | |
Ostervorbereitungen stehenden Platz, kommentierten – Wie bombastisch! Wie | |
imposant! Wie beeindruckend! Wie schön! –, als er nervös in seiner | |
Jackentasche zu kramen begann. Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, | |
drehte seine Taschen fünfmal nach innen und außen um, durchsuchte seinen | |
Rucksack und stieß schließlich ein lautes und dem Ort so überhaupt nicht | |
entsprechendes „Scheiße!“ aus. Sein Handy, dieses damals noch flaschengro�… | |
und im Grunde nur zum Angeben brauchbare Gerät war ihm in der U-Bahn | |
geklaut worden. Wir rannten zum erstbesten Carabiniere, erklärten ihm mit | |
Händen und Füßen die Sachlage und verbrachten die kommende Stunde auf einer | |
Polizeistation. Komischer Start. Gute Geschichte. Wir erzählten sie gerne | |
und oft. Ich glaube, wir haben bei der Gelegenheit den Ausdruck „che cazzo“ | |
gelernt. | |
Geschichtete Erinnerungen | |
Als mein Vater nun vor fast zwei Wochen starb, entschloss ich mich dazu, | |
nicht sofort dort hinzufahren, wo er gelebt hat und ich aufgewachsen bin, | |
sondern ihn hier zu suchen. In den Straßen von Rom. Ich hatte den Eindruck, | |
wir würden uns hier anders begegnen, besser vielleicht. Georges Perec sagt, | |
glaube ich, irgendwo in einem seiner Bücher, dass [1][öffentliche Plätze] | |
voll sind mit allen, die mal da gewesen sind. Sie triefen vor Erinnerungen, | |
alles ist dort geschichtet, existiert zeitgleich zur Gegenwart weiter und | |
wartet nur darauf, von denen, die davon wissen, beleuchtet und zurück ins | |
Leben gezogen zu werden. | |
Ich habe versucht, das zu tun. Gemeinsame Momente aus dem Staub zu heben | |
und lebendig werden zu lassen. Ich bin die Plätze abgelaufen, an denen wir | |
zusammen waren. Jene, an denen ich als Teenager neben ihm hergelaufen war, | |
während er mir die Welt erklärte und jene, zu denen ich ihn in den letzten | |
Jahren geschleppt hatte (manchmal mit mäßigem Erfolg). Ich war bei | |
Giolitti, wo wir noch [2][mitten in der Nacht Schokoladeneis verspeisten] | |
und einstimmig befanden, das Leben hier sei wirklich gut, bin am Ponte | |
Milvio vorbeigefahren, den seiner Meinung nach jeder, der etwas auf sich | |
hält, direkt nach dem Petersdom aufsuchen sollte und stand am Gianicolo, wo | |
wir über die Stadt schauten und mit ausgestrecktem Finger versuchten die | |
Kuppeln zuzuordnen: Pantheon, Villa Medici, Piazza Venezia. | |
Ich war in der Villa Borghese, durch die wir zig Mal mit dem Rad gefahren | |
waren („Wie viele Parks willst du mir eigentlich noch zeigen?“) und | |
natürlich war ich am Petersplatz. An einem Sonntag um acht Uhr morgens. Es | |
war relativ leer, schon sehr heiß, die Kathedrale sah aus der Nähe zehn Mal | |
größer aus als aus der Ferne, aus der ich sie sonst immer beim Vorbeifahren | |
sehe, Möwen saßen davor in einer Reihe, als würden sie gleich etwas | |
verkünden. | |
Ich glaube, ich habe gehofft, dass dort irgendetwas passieren würde. | |
Irgendetwas Nennenswertes. Doch es passierte nichts. Es gab keine | |
Eingebung, kein Zeichen von irgendwas, mein Handy wurde mir nicht geraubt, | |
ich sprach mit keinem Carabiniere. Ich lief einfach nur über den Platz, in | |
meinem Kopfhörern lief Giorgio Poi: „Giorni Felici“. Glückliche Tage. | |
Immerhin, als ich ihn „Amore Goodbye“ singen hörte, musste ich lächeln, | |
diesmal ohne Zahnspange, und dachte: Wie schön! | |
11 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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