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# taz.de -- Weltuntergang als Geschäftsmodell: Gegen das tägliche Gift
> Weltuntergänge und Dystopie-Erzählungen sind die erfolgreichste Art der
> Profitmaximierung. Dabei sollten vielmehr positive Utopien verkauft
> werden.
Bild: Ein Ort positiver Versionen: der Spreepark
Suchen Sie doch mal auf Youtube nach „Disaster Movie Spectacular 38“. Ihnen
wird schlecht werden. Nein, das stimmt nicht. Ihnen wird angesichts dieses
Zusammenschnitts von Katastrophen und Weltuntergängen aus dem populären
Kino der letzten Zeit leider nicht schlecht werden, wahrscheinlich haben
Sie sich an derartige Bilder bereits gewöhnt, denn inzwischen wird die
Apokalypse per Abo gestreamt.
Weltuntergänge sind die erfolgreichste Art der Profitmaximierung. Was nach
einer plumpen Kritik am neoliberalen Kapitalismus klingt, ist in
Wirklichkeit eine präzise Beschreibung der Hollywood-Wirtschaft, wie der
umtriebige Journalist Daniel Parris neulich ausgerechnet hat. Mit Horror
und Dystopie lässt sich nachweislich gut Geld verdienen: [1][„Hollywoods
Greatest Investment“]. Filme dieser Art erspielen im Durchschnitt 173
Prozent Kapitalrendite. Im Vergleich: Globale Aktien erzielten in den
letzten 20 Jahren eine durchschnittliche Rendite von jährlich 8 Prozent,
Staatsanleihen in diesem Zeitraum eine durchschnittliche Rendite von 3
Prozent im Jahr.
Die besten Anleihen-Exchange-Traded-Funds erreichten 2024 Rendite von knapp
5 bis 6,55 Prozent, die Bruttomietrendite liegt in der Regel zwischen 2 und
5 Prozent. Womit der Refrain unseres Klagelieds feststeht: „Keine Rendite
ist so gut wie die dystopische Rendite.“ Weswegen es auf beiden Seiten des
Atlantiks von Pessimismusgewinnlern und Verzweiflungspornografen nur so
wimmelt.
Aber warum gehen die kulturellen Trends alle in diese Abwärtsrichtung? Was
sagt dieser Aspekt der populären Kultur über uns und unseren Zeitgeist aus?
Wie wir wissen, sind Algorithmen auf das Negative geeicht. Sie verstärken
und verbreiten Schlimmes, Übles, Gehässiges. Medial ist dies klar zu
erkennen. Neulich berichteten Journalistinnen bei einem Workshop über
positiven, konstruktiven Journalismus, organisiert von der taz Panter
Stiftung, wie schwierig es ist, positive Reportagen in den Redaktionen
durchzusetzen. Stattdessen wird eine perverse Anhäufung von oft sehr
ähnlich gelagerten Momentaufnahmen von Krisen veröffentlicht, nicht selten
in der Rhetorik hysterisch aufgeladen.
## Wälzen im Sumpf der Ängste
[2][Ständig droht etwas unterzugehen], die Demokratie oder der Wohlstand,
der Standort Deutschland oder gar der ganze Planet. Wir leben in der
reichsten Gesellschaft, die es je zwischen Borkum und Mainau gegeben hat,
wir beuten die halbe Menschheit und die gesamte Natur aus – und doch wälzen
wir uns im [3][Sumpf unserer Ängste] und massieren uns mit dem warmen Öl
des Selbstmitleids. Das ist erbärmlich.
Ein Journalismus, der reale Geschichten des Gelingens, des Erkämpfens und
Verteidigens erzählt, wäre eine wichtige Impfung gegen diese [4][Pandemie
der Katastrophenbilder]. Denn das tägliche Gift, das uns in die Ohren und
Augen geträufelt wird, zersetzt die Vernunft und das Vertrauen auf Fakten.
Erst neulich wies mich ein gewitzter Herr nach einer Veranstaltung darauf
hin, dass unter den Meldungen [5][bei jedem Flugzeugabsturz] die
Information stehen sollte, seit dem letzten Absturz seien 771.000 Flüge
sicher gelandet. Solche Korrekturen erscheinen vielleicht unbedeutend, aber
diese Kaskade an negativen Nachrichten knebelt unsere politische Fantasie
und verstärkt eine der Pathologien unserer Zeit – die Alternativlosigkeit.
Wenn es keine Alternative zum globalisierten, neoliberalen Kapitalismus
gibt und dieser, wie jeder Blinde sehen kann, in sozioökologische
Katastrophen führt, dann gibt es keine andere Wahl, als sich diesen
Untergang auszumalen. Ein Teufelskreislauf und die erfolgreichste Erfindung
des bösen Geistes.
Wie wirkmächtig das Gegenteil, das Tagträumen in eine andere Zukunft
hinein, sein kann, zeigte neulich ein großartiges Projekt der Neuköllner
Oper in Berlin. Am letzten sonnigen Wochenende des Jahres legte ein Schiff
vom Kai am „Uber Platz“ ab, um achtzig Menschen auf eine Insel der Utopien
zu führen, genauer gesagt vorbei an Liebesinsel und Kratzbruch zum
Spreepark. Auffällig an der Übung, beseelende und beglückende
Zukunftshoffnungen zu formulieren, war der Effekt auf die Menschen, die
sich auf dieses Experiment einließen. Schon das Aufschreiben – ohne Grenzen
und Sachzwänge – überwand Denkblockaden.
## Positive Visionen werden wenig goutiert
Noch interessanter war die Spirale an Erträumtem, das meistens von einer
aktuellen Frustration (keine sozialen Räume in der Hauptstadt, gehässiges
Gegeneinander anstatt kooperatives Miteinander) ausgingen, sich jedoch ins
Grundsätzliche hochschraubten und in Kapitalismuskritik endeten. Vielleicht
werden positive Visionen deswegen so wenig goutiert – sie können zu einem
grundsätzlichen Zweifel am Status quo führen.
Anstatt sich [6][in der Dystopie einzurichten] wie die Made im Speck,
könnte gerade die Literatur unsere utopische Imagination stärken. „Es
kommen schwere Zeiten auf uns zu, wenn die Stimmen von Schriftstellerinnen
und Schriftstellern nötig sind, um uns Alternativen zu unserer Art des
Lebens aufzuzeigen, um unsere angstgeplagte Gesellschaft mit ihren
übergriffigen Technologien zu durchschauen und andere Möglichkeiten des
Daseins zu erkennen.“ Das sagte vor zehn Jahren die große Ursula K. Le Guin
in ihrer Dankesrede bei der Verleihung des National Book Award für ihr
Lebenswerk. Le Guin betonte ein Leben lang die Bedeutung von literarischen
Entwürfen, die Alternativen zur gegenwärtigen Denk- und Lebensweise
aufzeigen können.
Weil die Vorstellung anderer Daseinsformen Sinn stiftet. Schreibende
sollten sich – so die Vorstellung von Le Guin – als „Realisten einer
höheren Realität“ verstehen und nie die Bedeutung von Kunst, insbesondere
von Literatur, als Mittel des Widerstands und der Transformation aus den
Augen verlieren. In schwierigen Zeiten benötigen wir dringend positive und
utopische Erzählungen, um Hoffnung zu geben und alternative Perspektiven
aufzuzeigen. Es braucht nur etwas Mut dazu, und schon ist der Aufstieg aus
den Niederungen der dystopischen Rendite vollbracht.
23 Oct 2024
## LINKS
[1] https://www.statsignificant.com/p/why-horror-films-are-hollywoods-best?utm_…
[2] /Krise-als-Ansichtssache/!6031864
[3] /Atomkraft-fuer-die-Kuenstliche-Intelligenz/!6041039
[4] /Ozeanwasser-leckt-am-Doomsday-Gletscher/!6012964
[5] /Fingerschnipsen-gegen-Flugangst/!6038138
[6] /Krise-der-sozialen-Infrastruktur/!6024580
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Dystopie
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