# taz.de -- Marina Otero aus Argentinien im HAU: Vom Wahnsinn in uns allen | |
> Performancekünstlerin Marina Otero beendet ihre ergreifende Trilogie über | |
> Alltag und Psyche. Mit „Kill Me“ ist sie am Berliner Hebbel am Ufer zu | |
> Gast. | |
Bild: In der Performance „Kill me“ von Marina Otero machen sich die Darstel… | |
Fünf Gestalten schreiten auf die von Spots beleuchtete Bühne, im | |
Gleichklang und zu Mireille Mathieus „Une femme amoureuse“. Ihre | |
Silhouetten sind schemenhaft, deutlich erkennbar ist nur ein Flügel am | |
linken Bühnenrand. Erst auf Höhe des Tasteninstruments, auf dem später eine | |
von ihnen spielen wird, treten sie aus den Schatten, die sie gerade noch | |
schützten. | |
Nackt, nur mit weißen Stiefeletten, Knieschonern und rotblonden Perücken | |
bekleidet, schreiten die fünf Frauen den Bühnenraum ab. Ihre Hände stecken | |
in schwarzen Handschuhen, die Rechte, ans Herz geführt, hält einen | |
Gegenstand. | |
„Ich denke viel über Suizid nach“, sagt eine von ihnen später, nachdem si… | |
die nackten Körper bereits eine Weile auf der Bühne verausgabt, getanzt und | |
gekämpft, mit ihren Pistolen – den Gegenständen in ihren Händen – um sich | |
und aufeinander geschossen haben. Es ist die argentinische | |
Performancekünstlerin Marina Otero, die nun auf dem Boden liegt, erschossen | |
von ihren Alter Egos und doch noch nicht tot, weil all das Teil ihrer | |
neuesten Performance ist. | |
„Kill Me“ ist der letzte Part einer Trilogie, die nach „Fuck Me“ und �… | |
Me“ nun zu einem Ende kommt und gleichzeitig nur eines von vielen Projekten | |
ist, die Otero unter „Recordar para vivir“ (zu Dt.: sich erinnern, zu | |
leben) als Aufgabe auf Lebenszeit sieht. „Das Projekt läuft, bis ich | |
sterbe“, sagt Otero im Gespräch mit der taz. | |
## Banalität des Alltags und wirtschaftliche Krisen | |
Dass sie manchmal daran denke, dieses Sterben selbst in die Hand zu nehmen, | |
sei nicht per se ungewöhnlich, davon ist Otero überzeugt. [1][Viele | |
Menschen würden diese Leere kennen], die in Momenten der Einsamkeit über | |
einen hereinbreche und einem das Leben sinnlos erscheinen ließe. | |
„Ich lebte dafür, aufzustehen, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, die Miete | |
zu bezahlen, mit meinem Partner zu Mittag zu essen, zu streiten, mich zu | |
versöhnen, wieder aufzustehen, wieder mit dem Auto zu fahren, ins Bett zu | |
gehen, wieder einzuschlafen und wieder von vorne zu beginnen“, sagt Otero | |
auf der Bühne und bringt damit die repetitive Banalität des Alltags auf den | |
Punkt. | |
1984 in Buenos Aires geboren, war Otero dort jahrelang Teil der freien | |
Theater- und Tanzszene. Von ihrer künstlerischen Arbeit leben konnte sie im | |
stets von wirtschaftlichen Krisen gebeutelten Argentinien nicht, hielt sich | |
stattdessen mit Workshops und Tanzunterricht über Wasser. | |
„Ich bin eurozentrisch aufgewacht und wollte einen Kredit aufnehmen“, sagt | |
sie auf der Bühne, kritisiert damit einen neoliberalen Lebensstil, der | |
längst auch das Leben in Lateinamerika bestimmt, in Argentinien vom | |
aktuellen Präsidenten und selbsternannten [2][Hyperkapitalisten Javier | |
Milei auf die Spitze getrieben wird.] | |
## Stigma: Armut und psychiatrische Diagnosen | |
Im Gespräch räumt Otero ein, dass sie, bevor sie 2022 nach Madrid zog, um | |
endlich von ihrer Kunst leben zu können, eine gewisse Ignoranz gegenüber | |
Europa empfand, wo alles besser zu funktionieren, die Menschen glücklicher | |
zu sein schienen. Dass dem nicht so ist, hier auch Unzufriedenheit und | |
Armut herrschen, beides ansteige und immer mehr Menschen auch psychisch | |
erkrankten, sei ausschlaggebend für die Performance „Kill Me“ gewesen. | |
An deren Anfang stand Oteros eigene psychiatrische Diagnose – eine | |
sogenannte Borderline-Persönlichkeitsstörung. 2019 erschütterte ein | |
Bandscheibenvorfall Oteros Karriere, in den ersten beiden Parts ihrer | |
Trilogie tanzte sie deshalb nicht selbst, arbeitete mit Videomaterial von | |
den Proben und dirigierte Tänzer*innen, die ihre Parts übernahmen. | |
Wenn der Körper, mit dem man arbeitet, nicht mehr funktioniert, ist das | |
beängstigend, weiß Otero inzwischen und achtet seitdem penibel auf ihre | |
physische Gesundheit. Dass auch die Psyche erkranken und einen | |
arbeitsunfähig zurücklassen kann, schwingt dafür in „Kill Me“ mit, wo | |
Oteros Körper neben dem anderer (unter anderem Ana Cotoré, Josefina | |
Gorostiza, Myriam Henne-Adda und Natalia Lopéz Godoy) wieder selbst | |
performt. | |
Sie fühle sich „sehr exponiert“, wenn sie öffentlich über ihre Diagnose | |
spreche, sagt Otero. Nicht verwunderlich, schließlich gelten psychische | |
Erkrankungen nach wie vor als Stigma. Dem wollte sie künstlerisch etwas | |
entgegensetzen; tanzend, singend, schreiend. Die Nacktheit, die | |
Performances wie „Andrea“ und „Fuck Me“ bestimmten, hat in „Kill Me�… | |
sexuelle Konnotation mehr. Nackt habe sie sich durch ihre Diagnose gefühlt, | |
deren Fremdetikettierung ihr aber auch den Mut zu einer extremen Offenheit | |
bescherte. | |
Eine Mischung aus Fiktion und Realität ist das Ergebnis von „Kill me“, das | |
bereits in Spanien und Frankreich uraufgeführt und dort mit Standing | |
Ovations belohnt wurde. Anfang Oktober kommt das Stück an zwei Tagen auch | |
in [3][Berlin am Hebbel am Ufer (HAU) auf die Bühne.] | |
Neben die fünf Tänzerinnen, die zunächst als Klone von Oteros Alter Ego | |
Sarah Connor dienen – nicht der deutschen Sängerin nachempfunden, sondern | |
einer Figur aus der „Teminator“-Filmreihe –, gesellt sich mittendrin der | |
argentinische Schauspieler Tomás Pozzi. Als eine Art trauriger Clown | |
inszeniert, verkörpert er den [4][polnisch-russischen Balletttänzer Vaslav | |
Nijinsky] oder viel mehr dessen durch eine Schizophrenie ausgelösten | |
Wahnsinn. | |
Irgendwann fallen auch die letzten Hüllen auf der Bühne, setzen die | |
Darstellenden ihre Perücken ab, erzählen mit Worten, Gesang, aber vor allem | |
mit ihren Körpern von dem Wahnsinn, der sich in uns allen verbirgt. Ihr | |
Ziel sei es gewesen, diesen Wahnsinn aufzudecken, damit sich die Menschen | |
damit identifizieren können, sagt Otero. „Denn wer habe keine schwierigen | |
Zeiten, schlafe schlecht, nehme Medikamente oder kompensiere auf andere | |
Art, um mit dem Leben zurechtzukommen?“ | |
2 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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