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# taz.de -- "Le Sacre du Printemps": Die Bewegungen von damals
> Das Theater Osnabrück holt ein Stück Tanzgeschichte aus der Versenkung:
> eine beinahe 60 Jahre alte Fassung des Balletts "Le Sacre du Printemps".
Bild: Ein bisschen 21. Jahrhundert: Hsiao Ting-Liao von der Dance Company des T…
OSNABRÜCK taz | Letztes Feilen an den Bewegungen: die Arme gerade zur Seite
gestreckt, die Unterarme im rechten Winkel nach oben, die Hände geöffnet.
In dieser Haltung dreht sich Vasna Felicia Aguilar mehrmals um die eigene
Achse, perfektioniert ihre Bewegungen. In der Choreografie von „Le Sacre du
Printemps“ gibt die Tänzerin das Opfer. Erst dadurch, dass ein junges
Mädchen stirbt, kann der Boden fruchtbar werden, der Frühling beginnen.
Das war die Idee, als Igor Strawinskis Balletmusik vor 100 Jahren
uraufgeführt wurde – und einen Skandal auslöste: wegen der neumodischen
Musik, aber auch wegen der Choregrafie von Vaslav Nijinsky. Und das war
auch die Idee bei der Ausdruckstanz-Pionierin Mary Wigman, die 1957 eine
eigene Choreografie zu Strawinskis Musik erarbeitete.
In Osnabrück ist nun eine [1][Rekonstruktion] von Wigmans Stück zu sehen.
Eingebaut hatte die 1973 gestorbene Choreografin viele chorische Elemente
und ritualhafte Bewegungen, wie sie von den Tanzbühnen des 21. Jahrhunderts
verschwunden sind. Die Osnabrücker Rekonstruktion übernimmt diese Elemente
– aber erinnert die Choreografie wirklich an die der berühmten
Tanzpionierin?
Während auf der Bühne das Ensemble aus 25 Tänzern probt, sind aus dem
Orchestergraben Strawinskys wechselhafte Rhythmen zu hören, die Dissonanzen
seiner Musik. Im Parkett sitzen zwei ältere Frauen und schauen konzentriert
zu. Brigitta Herrmann hat damals selbst mitgetanzt bei Wigmans „Sacre“,
Katharina Sehnert machte zur selben Zeit eine Ausbildung bei der
Choreografin. Erkennen sie das Stück nun wieder? Herrmann hält sich zurück:
„Ich habe das damals ja nicht von außen gesehen“, sagt sie. Den Blick der
Zuschauerin nimmt sie erst jetzt ein, 56 Jahre später.
Und die Rolle der Zeitgenossin: Herrmann und Sehnert gehören zum
Rekonstruktionsteam, haben in ihrem Körpergedächtnis nach den Bewegungen
von damals geforscht. Filmaufnahmen von Wigmans Fassung gibt es keine, und
so war es Puzzlearbeit, die Choreografie wieder auf die Bühne zu holen.
Neben Erinnerungen von Beteiligten dienten dazu Wigmans Skizzen, ihre
Aufzeichnungen, Klavierauszüge und alte Fotos. Außerdem mitgearbeitet haben
an der Rekonstruktion die Wigman-Tänzerin Emma Lewis Thomas, Henrietta Horn
als hauptverantwortliche Choreografin der Neuinszenierung, und die
Choreografin Susan Barnett.
Die Idee zur Neuinszenierung hatte Patricia Stöckemann, seit 2012
Dramaturgin und Managerin der Dance Company des [2][Theaters Osnabrück].
Sie hat in einem der weißen Ledersessel im Theaterfoyer Platz genommen.
„Toll“, antwortet die 55-Jährige auf die Frage, wie sie das Ergebnis des
monatelangen Prozesses denn nun findet, „faszinierend!“ Und lächelt. Sie
ist sicher: „Es ist richtig, dass wir das gemacht haben.“ Mit Mary Wigman
hat sich die studierte Musik- und Theaterwissenschaftlerin schon viel
früher befasst: Stöckemann war Vorstandsmitglied und Programmleiterin der
Mary-Wigman-Gesellschaft, die sich vor zwei Jahren auflöste und in die
Mary-Wigman-Stiftung im Deutschen Tanzarchiv Köln überging. Wigmans
„Sacre“-Skizzen sah Stöckemann Anfang der 90er-Jahre zum ersten Mal.
Dass 20 Jahre später nun etwas daraus entsteht, liege auch daran, „dass die
Quellenlage so toll war“, erzählt sie. Und dann jährt sich 2013 eben auch
die Uraufführung des Balletts: 100 Jahre „Sacre du Printemps“, das hat
sicher dazu beigetragen, dass der „Tanzfonds Erbe“ der Kulturstiftung des
Bundes das Osnabrücker Projekt finanziell fördert.
„Mit der Rekonstruktion machen wir Geschichte wieder lebendig“, sagt
Patricia Stöckemann. Das ist ihr wichtig. Schließlich steht Mary Wigman für
die Tradition, an die das Tanztheater des 21. Jahrhunderts anknüpft. Das
sieht auch Henrietta Horn so. Die Choreografin hat nach dem Durchlauf ihr
Regiepult verlassen, tauscht sich mit dem musikalischen Leiter Daniel Inbal
aus und gibt den Tänzern ein paar Anweisungen. Dann verlassen alle den
Bühnenraum: Pause. Horn kehrt für einen Moment hinter ihr Pult zurück. „Ich
wollte das hier erst gar nicht machen“, sagt sie. Irgendwann sei sie
neugierig geworden. „Und jetzt finde ich es schön.“
Die Arbeit allerdings ist eine ganz andere als sonst: Normalerweise
entwickelt eine Choreografin eigene Stücke und lässt die Ideen der
Tanzenden mit einfließen. „Die Tänzer sind es nicht gewohnt, dass es heißt:
Das geht so und so“, sagt Horn. Eben das aber ist bei der Rekonstruktion
der Fall. Und überhaupt ist es etwas anderes, nach Wigmans Vorgaben zu
tanzen. Können TänzerInnen sonst viel durch ihre eigenen Bewegungen
verdecken, müssen sie hier besonders präzise sein, und immer vollständig
präsent. Auch dann, wenn der Fokus etwa eigentlich auf der Solotänzerin
liegt. „Das ist selten so auffällig“, sagt Horn.
Exakt so wie 1957 wird „Le Sacre du Printemps“ aber auch nicht wieder sein.
Was zum Teil ganz pragmatische Gründe hat: Es weiß schlicht niemand, ob die
ellipsenförmige Bühne damals auch nach hinten leicht angestiegen ist.
Vielleicht, sagt Patricia Stöckemann, sei die Bühne auch eben gewesen. Dass
die MacherInnen sich nun so entschieden haben, liegt auch daran, dass die
Rekonstruktion nicht nur im Osnabrücker Theater zu sehen sein wird, sondern
auch im Theater Bielefeld sowie bei der Tagung „Tanz über Gräben. 100 Jahre
Le Sacre du Printemps“. Und im Juni kommenden Jahres wird außerdem das
Bayrische Staatsballett in München sie aufführen.
Auch was da getanzt wird, ist nicht exakt dasselbe wie bei Mary Wigman,
schon weil im Theater keine Aufführung völlig ist wie die andere. An
einigen Stellen hat Henrietta Horn aber auch gezielt eingegriffen – immer
dort, wo sie feststellte: „Das geht so nicht.“
Es steckt also ein bisschen 21. Jahrhundert in der Wiederaufnahme nach fast
sechs Jahrzehnten. Womit sich nicht zuletzt etwas bewahrheitet, von dem
Mary Wigman überzeugt war: Tanztheater ist etwas absolut Gegenwärtiges. Was
sie ebenfalls glaubte: dass alles „unter der Haut, unter der Oberfläche
gewissermaßen, andere Menschen anregend und befruchtend“ weiterlebt, weiter
wirkt – und zur richtigen Zeit wieder aus der Versenkung auftaucht. Es
scheint, als sei dieser richtige Moment, was „Le Sacre du Printemps“
angeht, nun da.
Tanzabend mit Uraufführung von „Fiat Lux“ (Mauro de Candia), „Rauschen“
(Gregor Zöllig) und der Rekonstruktion von „Le Sacre du Printemps“.
Premiere: Samstag, 9. 11., 19.30 Uhr, Osnabrück, Theater im Domhof; nächste
Vorstellungen: 19. + 27. November
9 Nov 2013
## LINKS
[1] http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?=&stid=…
[2] http://www.theater-osnabrueck.de
## AUTOREN
Anne Reinert
## TAGS
Kunst
Tanztheater
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