| # taz.de -- Verfolgung von Naziverbrechen: NS-Prozesse vor dem Ende | |
| > Die Verurteilung der KZ-Sekretärin Furchner könnte der letzte Fall seiner | |
| > Art sein. Warum die Justiz zu spät gegen Tausende mutmaßliche Täter | |
| > vorging. | |
| Bild: Der frühere KZ-Wachmann John Demjanjuk am 21. Dezember 2009 während sei… | |
| Berlin taz | Thomas Walther ist sich sicher: „Dies ist das letzte Mal, dass | |
| ein deutsches Gericht über die Verbrechen der Nazis zu urteilen hatte“, | |
| sagte er am Dienstag der taz. Der Rechtsanwalt Walther war es, der bald | |
| nach der Jahrtausendwende den Prozess gegen [1][John Demjanjuk] in Gang | |
| brachte, einen ukrainischen Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor. Das | |
| Verfahren vor dem Münchner Landgericht endete 2011 mit der Verurteilung des | |
| Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen zu fünf | |
| Jahren Haft. | |
| 13 Jahre später scheint die juristische Auseinandersetzung mit den | |
| NS-Verbrechern abgeschlossen zu sein. Thomas Will, Leiter der Zentralen | |
| Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, mag nicht | |
| ausschließen, dass es vielleicht doch noch zu einem Prozess kommen könnte. | |
| Doch er gibt zu bedenken, dass die wenigen Personen, gegen die noch | |
| ermittelt wird, ein Alter zwischen 99 und 101 Jahren erreicht haben. Erst | |
| im Juni ließ das Landgericht Hanau das [2][Verfahren gegen einen | |
| 99-Jährigen] fallen. Dem ehemaligen SS-Mann wurde Verhandlungsunfähigkeit | |
| attestiert. | |
| Mit dem Demjanjuk-Verfahren begann 2009 die Spätphase der bundesdeutschen | |
| NS-Prozesse. Zuvor waren jährlich immer weniger Nazi-Täter von der Justiz | |
| abgeurteilt worden. Dies geschah vor allem deshalb, weil der | |
| Bundesgerichtshof 1969 verlangte, dass für eine Verurteilung wegen Beihilfe | |
| zum Mord in einem KZ ein individueller Mordvorwurf notwendig sei. | |
| Tatsächlich sahen sich nur die allerwenigsten Überlebenden in der Lage, | |
| einen solchen Mörder zu identifizieren, und die mutmaßlichen Täter | |
| leugneten jede Schuld. So kamen wohl Tausende von Nazis davon. | |
| Thomas Walther, der sich später als Vertreter von Überlebenden als | |
| Nebenkläger in diversen Verfahren einen Namen machte, zweifelte genau diese | |
| Logik an – und gewann. Demjanjuk wurde verurteilt, obwohl es an einem | |
| individuellen Mordvorwurf mangelte. Das Gericht entschied vielmehr, dass | |
| allein die Tatsache seiner Tätigkeit als Wachmann in einem Lager, das | |
| einzig zum Massenmord an Juden diente, als Grund für eine Verurteilung | |
| wegen Beihilfe zu Mord ausreichte. Nur Mordvorwürfe konnten überhaupt noch | |
| geahndet werden, weil alle anderen Straftaten verjährt waren und sind. | |
| ## Lawine der Ermittlungen | |
| Das Demjanjuk-Urteil löste eine kleine Lawine neuer Vorermittlungen gegen | |
| mutmaßliche NS-Straftäter aus. Alleine der damalige Leiter der Zentralen | |
| Stelle, Kurt Schrimm, brachte Recherchen zu 49 früheren | |
| Auschwitz-Wachmännern in Gang. Dazu verglichen die Nazi-Ermittler Listen | |
| von KZ-Bediensteten mit den Daten von noch lebenden Sozialversicherten. Von | |
| den 49 blieben schließlich 30 Verdächtige übrig, deren Daten an die | |
| zuständigen Staatsanwaltschaften in der ganzen Bundesrepublik gingen. | |
| Doch nur zwei von ihnen wurden auch verurteilt – [3][Oskar Gröning] 2015 in | |
| Lüneburg zu vier Jahren und [4][Reinhold Hanning] 2016 in Detmold zu fünf | |
| Jahren Haft. Im Falles Grönings segnete der Bundesgerichtshof die Praxis | |
| der Verurteilung ohne einen konkreten Mordvorwurf ab. Sie gewann damit | |
| Rechtskraft. Insgesamt kam es bis 2022 zu sechs Verurteilungen. Die anderen | |
| Täter hatten in den KZ Stutthof und Sachsenhausen Dienst getan. Der letzte | |
| Prozess endete am 20. Dezember 2022 vor dem Landgericht Itzehoe. Irmgard | |
| Furchner erhielt eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung nach | |
| dem Jugendstrafrecht. | |
| Dutzende weitere Verfahren blieben dagegen schon in ihren Anfängen stecken. | |
| Jetzt rächte sich, dass die Justiz die Wachmänner und andere Täter so lange | |
| milde behandelt hatte. Häufig waren Beschuldigte kürzlich verstorben, noch | |
| häufiger stellten Gutachter die Verhandlungsunfähigkeit der früher so | |
| schneidigen SS-Männer fest. Selbst laufende Verfahren mussten eingestellt | |
| werden, so im Falle von [5][Johann R.] im westfälischen Münster 2019. Zur | |
| Farce geriet die juristische Auseinandersetzung in Neubrandenburg, wo ein | |
| unwilliger Richter den Prozess verschleppte und einen Vertreter der | |
| Nebenklage beschimpfte, bis der Mann abgelöst werden musste. Der | |
| Angeklagte, ein Auschwitz-Sanitäter, erkrankte zwischenzeitlich an Demenz, | |
| womit das Verfahren beendet war. | |
| Rechtsanwalt Thomas Walther ist heute 81 Jahre alt. Über die juristische | |
| Auseinandersetzung mit den NS-Tätern urteilt er: „Das ist alles kein | |
| Ruhmesblatt für die deutsche Justiz.“ | |
| 20 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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