# taz.de -- Späte Rückgabe: Die Taschenuhr aus dem KZ | |
> Mehr als 80 Jahre nach dem Diebstahl durch die SS erhält die Enkelin | |
> eines griechischen KZ-Insassen das Eigentum ihres Großvaters zurück. | |
Bild: Jetzt ist die Uhr, die die Nazis vor 80 Jahren Vasilios Kontogeorgiou rau… | |
BERLIN taz | Angeliki Nikou Kontogeorgiou hält die Taschenuhr in der Hand. | |
Ihre Finger drehen den silberfarbenen Zeitmesser mit seinem weißen | |
Ziffernblatt nach oben und wieder nach unten, sie streichen über den | |
Deckel, umschmeicheln das Gehäuse. Dabei fehlt die Kette zum Tragen der | |
Uhr. Aber das ist unwichtig. | |
Es ist die Taschenuhr, die die SS ihrem Großvater gestohlen hatte, damals | |
bei seiner Einlieferung in das [1][Konzentrationslager Neuengamme] im Mai | |
1944. 80 Jahre und einen Monat später hält die Enkelin Kontogeorgiou das | |
Stück in der Hand. „Es ist unglaublich“, sagt die 38-jährige Griechin. Sie | |
wirkt überwältigt. | |
Die Übergabe der Taschenuhr von Vasilios Kontogeorgiou findet am | |
vergangenen Donnerstag im Rahmen einer Feierstunde in der Berliner | |
Botschaft von Griechenland statt. Botschafterin Maria Marinaki spricht, | |
dazu Direktorin Floriane Azoulay von den Arolsen Archives, auch Vertreter | |
der Bundesrepublik sind gekommen und der Leiter der KZ-Gedenkstätte | |
Neuengamme. | |
Alles wegen einer ollen Taschenuhr, könnte man meinen. Richtiger aber ist: | |
weil das Eigentum eines KZ-Häftlings endlich wieder in die Hände der | |
Familie zurückkehrt. | |
## Im Widerstand gegen die Nazis | |
Vasilios Kontogeorgiou muss ein besonderer Mensch gewesen sein. Enkelin | |
Angeliki erinnert sich an ihn. Er starb 1997, als sie elf Jahre alt war. | |
Der Großvater habe immer freimütig von seiner Zeit im KZ berichtet und | |
nichts verschwiegen. | |
Kontogeorgiou, bei der [2][Besatzung Griechenlands durch deutsche Truppen] | |
ein junger Staatsanwalt im nordgriechischen Volos, hatte zusammen mit | |
einigen Freunden eine kleine Widerstandsgruppe namens ELASOM gegründet. Sie | |
wollten sich nicht abfinden mit dem [3][Terror von SS und Wehrmacht]. | |
Doch die Gruppe flog bald auf. Die vier Freunde wurden nach Deutschland | |
deportiert. Kontogeorgiou kam zunächst nach Neuengamme, dann in das | |
KZ-Außenlager Salzgitter-Watenstedt und schließlich nach Ravensbrück. Er | |
überlebte als einziger seiner Gruppe. Ganze 38 Kilogramm habe er bei seiner | |
Befreiung gewogen, berichtet die Enkelin. Bald darauf kehrte er in seine | |
Heimat zurück. | |
Für Floriane Azoulay könnte die Zeremonie in der griechischen Botschaft | |
fast schon Routine sein. Ist sie aber nicht, sagt sie. Jede Übergabe eines | |
Erinnerungsstücks sei ein „ganz besonderes Ereignis“, sagt sie. „Die Enk… | |
und Urenkel wollen heute wissen, was damals geschehen ist.“ | |
Als Azoulay vor acht Jahren zur Direktorin des Archivs in Arolsen ernannt | |
wurden, lagerten dort nicht nur 30 Millionen Dokumente über etwa 17,5 | |
Millionen Verfolgte der Nazis. In den Beständen befanden sich auch Tausende | |
Umschläge, darin die Asservate von KZ-Häftlingen. Ein großer Teil der | |
„Effekte“, wie die Nazis die Gegenstände der KZ-Häftlinge nannten, stammte | |
aus Neuengamme, einem Stadtteil von Hamburg. | |
## Von britischen Soldaten entdeckt, seit Jahrzehnten im Archiv | |
Als es mit den Nazis zu Ende ging, versuchten diese die Beweisstücke für | |
ihre Gräueltaten beiseite zu schaffen. Im KZ Neuengamme fand | |
SS-Unterscharführer Franz Wulf auf Befehl seines Vorgesetzten einen | |
geheimen Lagerplatz für die Tausenden Umschläge mit den Asservaten der | |
KZ-Häftlinge, die bei ihrer Ankunft ihren persönlichen Besitz hatten | |
abgeben müssen: Sie wurden in der Kegelbahn einer Gaststätte in Lunden | |
verborgen, dem Heimatort von Wulf an der Nordsee. | |
Dort wurden sie bald darauf von britischen Soldaten entdeckt. Über Umwege | |
landeten die Umschläge mit dem Eigentum der KZ-Häftlinge schließlich 1963 | |
beim Internationalen Suchdienst des Roten Kreuz in Arolsen, den späteren | |
Arolsen Archives. | |
Hier beschloss Floriane Azoulay, dass die Uhren, Brillen, Brieftaschen und | |
Eheringe nicht im Archiv bleiben sollten, sondern zurückgegeben werden | |
müssten – an die Erben der Verfolgten. „Diese Umschläge gehören nicht den | |
Arolsen Archives, sie gehören den Nachfahren“, sagt Azoulay in der | |
griechischen Botschaft. | |
„[4][#StolenMemory]“, gestohlene Erinnerung, nennt sich die Initiative, die | |
mithilfe von Freiwilligen recherchiert, was aus den Familien geworden ist. | |
Oft sind nur die Namen der Verfolgten bekannt, und diese hat die SS | |
bisweilen falsch geschrieben. Im Fall von Vasilios Kontogeorgiou war die | |
Transkription vom Griechischen ins Deutsche fehlerhaft. Es fehlen häufig | |
weitere Informationen wie die Heimatorte. | |
Mehr als 900 Gegenstände gingen seit 2016 aus dem Archiv an die Familien | |
zurück. Aber 2.000 Asservate suchen noch ihre früheren Besitzer. Fast wie | |
auf Fahndungsplakaten wird gesucht, auch in Griechenland. Wer weiß etwas | |
über den Schmied Dimitris Waliadis, geboren 1919? Seine Taschenuhr, ein | |
Ring und seine Geldbörse liegen im hessischen Arolsen. Wer kennt Evangelis | |
Kerassotis, geboren 1925, der im Juni 1944 zusammen mit 850 weiteren | |
Menschen in das KZ Neuengamme eingeliefert wurde? Eine Armbanduhr mit | |
Lederband wartet auf die Nachfahren. | |
Der Fall von Vasilios Kontogeorgiou ist der erste aus Griechenland, der | |
jetzt aufgeklärt werden konnte. Seine Taschenuhr kommt in gute Hände. | |
Angeliki Nikou Kontogeorgiou wird sie wie ihren Augapfel hüten. Insgesamt | |
sieben Fälle aus Hellas sind noch offen. | |
23 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /KZ-Gedenkstaette-Neuengamme/!5960316 | |
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[3] /Deutsches-Massaker-in-Griechenland/!5015660 | |
[4] https://www.stolenmemory.org/ | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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