| # taz.de -- Russland nach der Offensive in Kursk: War was? | |
| > Putin spielt den ukrainischen Vorstoß in der Region Kursk herunter. Und | |
| > auch die meisten Russ*innen zeigen sich gleichgültig. | |
| Bild: Menschen vor einem Wohnhaus in Kursk, das von einer urkrainischen Drohne … | |
| Moskau taz | Moskau tanzt, Moskau trinkt, Moskau leuchtet wie eh und je. | |
| Die Partys sind laut, die Cafés sind voll. Die Touristenorte quer durchs | |
| Land überfüllt. War was? Der ukrainische Vorstoß in der Region Kursk vor | |
| etwa einer Woche? Krieg auf eigenem Territorium? Tod von Verwandten? | |
| Sanktionen? Viele Russ*innen leben in diesem Sommer, als hätte es das | |
| alles nicht gegeben. | |
| Oder aber: als gäbe es kein Morgen. Im Verständnis der meisten Menschen im | |
| Land gibt es ein solches Morgen auch nicht. Die Ungewissheiten, die | |
| Unplanbarkeit, ein Bild von einer wie auch immer gearteten Zukunft, all das | |
| existiert seit Februar 2022 nicht mehr, weil Russlands Präsident Wladimir | |
| Putin seinen Marschbefehl zum Überfall der Ukraine gab. Und doch: In | |
| Ungewissheiten sind viele Menschen im postsowjetischen Russland geradezu | |
| geübt. So geübt, dass sie einfach alles ertragen. Dass sie jegliches | |
| Ungemach hinnehmen, darüber hinwegsehen. „Prisposabliwatsja“, nennen sie | |
| es. Sich anpassen. | |
| Derweil heulen in Kursk die Sirenen, Raketen schlagen nicht weit von der | |
| Stadt ein. Die Regierung hat vor wenigen Tagen in drei Grenzregionen eine | |
| „Antiterroroperation“ ausgerufen, die Geheimdienste haben nun noch mehr | |
| Macht dort. | |
| Die Menschen haben sich an den Krieg angepasst, egal, wie sie letztlich im | |
| Einzelnen darüber denken. Sie erdulden es, politisch nichts bewegen zu | |
| können, und setzen auf ihre Selbstwirksamkeit im Privaten, wenigstens das. | |
| Bei allem, was darüber hinausgeht, schweigen sie. Sie wissen, was ihnen | |
| droht, wenn sie reden, kennen die Gesetzeslage. Sie akzeptieren sie, um zu | |
| überleben. In Sankt Petersburg genießen die Tourist*innen die Brise der | |
| Newa und tanzen in der Abendsonne. In Moskau sitzen sie an der Moskwa und | |
| verscheuchen die Fragen nach der Kriegsgefahr wie lästige Fliegen. | |
| Dass nur 500 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt [1][die | |
| ukrainische Armee russisches Territorium erobert hat], dass mehr als | |
| Hunderttausend Landsleute ihre Häuser verlassen mussten, um ihr Leben zu | |
| retten und nur mit dem, was sie anhatten, in der Regionalhauptstadt Kursk | |
| für ein paar Kissen und etwas Brot Schlange stehen, das interessiert | |
| außerhalb der beschossenen Region kaum jemand. | |
| ## Der Alarmismus ist weg | |
| Die vergangenen zweieinhalb Jahre seit Putin seine „militärische | |
| Spezialoperation“ in der Ukraine ausgerufen hat – in russischer Abkürzung | |
| „SWO“ – haben den meisten Menschen im Land den Alarmismus genommen. Viele | |
| Russ*innen reagieren dabei genauso gleichgültig wie bereits am Anfang der | |
| Katastrophe. Sie tun das aus dem Gefühl heraus, nichts dagegen ausrichten | |
| zu können. „Von mir hängt nichts ab“, lernen sie bereits als Kind. Doch d… | |
| Desaster, das jeder Krieg auslöst, ist nicht weg. In der Ukraine schon gar | |
| nicht. Und auch in Russland nicht. | |
| Es ist, als hätte sich eine Betonplatte übers Land gelegt. Darunter gedeiht | |
| ein Leben – mit gutem Gehalt, viel Konsum, neuen Hypotheken. „Der Schock | |
| von 2022 ist überwunden, die Krise ist vorbei“, sagt die | |
| Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch, die an der Moskauer | |
| Staatsuniversität lehrt. | |
| Nach der russischen Invasion in der Ukraine sah sie ihr Land spätestens im | |
| Herbst 2022 in großen wirtschaftlichen Turbulenzen. „Da habe ich mich | |
| vollkommen geirrt“, gibt sie heute in mehreren Interviews mit exilierten | |
| russischen Journalist*innen unumwunden zu. „Die russische Wirtschaft | |
| hat sich 2023 erholt. Das Einkommen wächst, die Kredite wachsen auch, die | |
| Investitionen haben nie abgenommen.“ Woran das liege? „Am fetten russischen | |
| Staat.“ | |
| Lange vor dem Krieg setzte Russland auf Sparsamkeit und den Abbau der | |
| Auslandsschulden. Das finanzielle Polster – den staatlichen Wohlfahrtsfonds | |
| und die niedrige Staatsverschuldung – nutzt es nun für seine | |
| Staatsausgaben: die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine. | |
| Das Regime gibt immer mehr Geld aus, um die Menschen an die Waffen zu | |
| bringen. Waren früher vor allem in der Provinz Plakate zu sehen, die offen | |
| mit Geldprämien für den Dienst in der Armee oder als Freiwillige warben, | |
| finden sich solche mittlerweile auch in Moskau und Sankt Petersburg. | |
| „2.500.000 Rubel (umgerechnet fast 25.000 Euro) sofort und einmalig für | |
| deinen Dienst am Vaterland“ steht auf den Werbetafeln. | |
| ## Erstarrung – die erste Reaktion auf Herausforderungen | |
| Nun aber, da die Souveränität Russlands – mit dieser rechtfertigt das | |
| russische Regime seine „SWO“ in der Ukraine – angegriffen wird, tut Putin | |
| so, als sei irgendwo ein Fluss über seine Ufer getreten. Die nächste | |
| Überschwemmung, irgendwo weit weg. Eine solche Zurückhaltung ist nicht neu. | |
| Die Erstarrung ist stets die erste Reaktion, die auf überraschende | |
| Herausforderungen folgt. Erst am Montag, eine Woche nach dem Einmarsch | |
| ukrainischer Truppen, zeigte das Staatsfernsehen Putins Treffen mit | |
| Gouverneuren der Grenzgebiete sowie den Verantwortlichen aus der Regierung | |
| und den Sicherheitsbehörden. Putin wirkte dabei genervt und unsicher, | |
| versuchte allerdings, Entschlossenheit zu demonstrieren: „Die aktuelle | |
| Aufgabe lautet jetzt: den Feind aus unserem Territorium zu verdrängen, ihn | |
| auszuschalten.“ Den Ukrainern drohte er mit einer „würdigen“ Antwort. Von | |
| etwaigen Friedensgesprächen nahm er Abstand. | |
| In Kursk rufen die Menschen: „Wo ist der Staat? Warum zeigt sich uns der | |
| Staat nicht? Warum sagt er nicht die Wahrheit?“ Putin ist nicht damit | |
| gemeint. Sein Rückhalt in der Bevölkerung scheint nicht zu erschüttern zu | |
| sein, selbst wenn die eigenen Verwandten im Kampf gefallen sind, wenn das | |
| eigene Haus zerbombt wird. Er wird als Wohltäter gesehen. | |
| ## Gebiete mit Waffenfabriken prosperieren | |
| Der staatliche Rüstungssektor läuft auf Hochtouren und macht mit 67 Prozent | |
| mehr als ein Drittel des russischen Wirtschaftswachstums aus. „Das ist eine | |
| Überhitzung der Wirtschaft“, sagt Subarewitsch. In manchen Betrieben | |
| arbeiten die Menschen in drei Schichten. Früher abgehängte Regionen wie | |
| Tula, Kirow, Ischewsk, Kurgan, alles Gebiete mit Waffenfabriken, | |
| prosperieren. Die Jungen ziehen nicht mehr weg, weil sie in ihrer | |
| Heimatregion gut bezahlte Jobs finden. | |
| Der Kampf um Arbeitskräfte ist voll entbrannt. Zudem hat die Migration aus | |
| Zentralasien abgenommen. Um Personal zu halten, zahlen Russlands Betriebe | |
| gute Gehälter. Nach den Staatsunternehmen ziehen auch die zivilen Branchen | |
| an, locken ebenfalls mit gutem Geld, sonst gingen ihnen die | |
| Arbeitskräfte aus. Lediglich die Holzverarbeitungsbranche leidet, weil | |
| sie das teure Holz nicht mehr nach Europa verkaufen kann. Indien und China | |
| wollen billiges Sperrholz. | |
| Die Umstellung vieler Branchen auf Asien funktioniert aber durchaus, nur | |
| die Logistik hinkt hinterher. So soll die Transsibirische Eisenbahn | |
| ausgebaut werden, dafür wurde nun auch Waldrodung erlaubt. Russland | |
| exportiert Mehl und Weizen, verkauft Schweinefleisch nach China, Huhn in | |
| die arabischen Länder. Auch die Öl- und Gasgeschäfte laufen, wenn auch mit | |
| Preisnachlass. „Die wirtschaftliche Entwicklung verlangsamt sich nun, kommt | |
| an eine gewisse Decke“, sagt Subarewitsch. | |
| 2023, so heißt es bei der staatlichen Statistikbehörde Rosstat, seien die | |
| Einkommen dennoch um 14 Prozent gestiegen, im ersten Quartal 2024 sogar um | |
| 19 Prozent. Das Geld kommt in Umlauf, auch der Staat hat etwas davon: die | |
| Steuereinnahmen. Die Menschen investieren in Essen, Urlaub, Autos, | |
| Wohnungen. Das sichtbarste Zeichen [2][der westlichen Sanktionen in | |
| Russland] sind chinesische Autos. Im Vergleich zu 2022 stieg der Verkauf | |
| all der Geely-, Chery-, Haval-, Zeekr-, Li-Modelle im Jahr 2023 um 540 | |
| Prozent. | |
| Doch auch westliche Luxusware rollt über die Straßen russischer Großstädte. | |
| Über Drittländer gelangen Maybachs, Audis und BMWs wie auch Turnschuhe, | |
| Kaffeekapseln, Ikea-Möbel oder H&M-Kleider ins Land. Es ist nur eine Frage | |
| der Zeit – und des Geldes. Ein 5er-BMW kostet in Russland schon einmal das | |
| Doppelte desselben Modells in Deutschland. Manch ein russischer Milliardär | |
| lässt sich gleich zwei Maybachs liefern: einen als Ersatzteillager. „Die | |
| Reichen müssen für ihren Lebensstil mehr zahlen, die Armen kommen überhaupt | |
| erst ans Geld und kaufen Wohnungen für ihre Kinder. Die, die leiden, sind | |
| die KMU, die Bankrotte häufen sich“, sagt Natalja Subarewitsch. | |
| ## Fragen nach Moral und Krieg sind selten | |
| Die bessere finanzielle Lage vieler Menschen führt selten dazu, dass sie | |
| sich Fragen nach Moral stellen und den Krieg in der Ukraine hinterfragen. | |
| Es ist eher das Gegenteil: Sie fordern oft mehr Schlagkraft gegenüber der | |
| Ukraine. Die Schuld am eigenen Leid wird stets im Westen gesehen. Die | |
| Ukraine sei auch in der Region Kursk lediglich ausführendes Organ, das den | |
| „Befehlen ihrer Herren“ folge, wie Putin es nennt. | |
| Im Staatsfernsehen wird vom ukrainischen Vorstoß nicht als solchem | |
| berichtet, sondern von einer „Situation“, die sich ergeben habe. | |
| [3][Evakuierungen] heißen „Standortwechsel in sicherere Orte“. Die | |
| Evakuierten verstehen meist nicht, wie ihnen geschieht. „Aber warum denn | |
| wir? Mein Mann kämpft doch bei der SWO“, sagen da manche oder: „Wir wollten | |
| doch die Ukrainer befreien, warum besetzen die Ukrainer nun uns?“ Der | |
| Reporter im staatsnahen Perwyj Kanal betont die Hilfe für die Geflüchteten. | |
| „An solchen Tagen wird sich gegenseitig gern geholfen“, sagt er. Als seien | |
| „solche Tage“ vollkommen alltäglich. | |
| 13 Aug 2024 | |
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| Inna Hartwich | |
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