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# taz.de -- Avantgarderock-Duo Gastr del Sol: Alles könnte passieren
> Mit der Erweiterung des musikalisch Denk- und Spielbaren begeistert das
> Album „We Have Dozens of Titles“ des US-Avantgarderock-Duos Gastr del
> Sol.
Bild: Gastr del Sol mit Jim O’Rourke (li) und, David Grubbs (re) während ein…
Die Avantgarde aus dem Geist der Freiheit, die man vom Punk geschenkt
bekommt, die klingt im Falle des US-amerikanischen Duos Gastr del Sol so:
eine Akustikgitarre, gezupft, eine Linie immer wiederholend und variierend.
Dazu sparsames Orgelrauschen und im Hintergrund herumhastende Elektronik,
ein paar Klaviertöne. Drei, vier Elemente, aber durch sanfte Verschiebungen
ändert sich beständig alles, und doch klingt das Stück nicht wie ein
Verlauf, sondern wie ein Zustand.
„We Have Dozens of Titles“, so heißt eine Compilation, die
unveröffentlichte Live- und bis jetzt nur verstreut erhältliche
Studio-Aufnahmen von Gastr del Sol im Bündel versammelt. Ihr Reigen beginnt
mit „The Seasons Reverse“, dem ersten Song des letzten, 1998 erschienenen
Albums des Duos von [1][David Grubbs] und [2][Jim O’Rour]ke. In einer
Live-Version, die ein Jahr zuvor im kanadischen Victoriaville bei einem
Festival aufgenommen wurde, in dieser Fassung noch ohne Gesang.
Gastr del Sol wurden damals, in den Neunzigern, im Zuge des von Chicago
ausgehenden Postrock-Hypes rezipiert. Das Duo hat aber mit dem am Ende
teils sinfonischen Instrumentalrock, den man unter diesem Genre fasste,
kaum etwas zu tun. Auch die irgendwie vielleicht wesensverwandten Tortoise
([3][Tortoise-Schlagzeuger John McEntire] und -Bassist Bundy K. Brown
spielten in der ersten Gastr-del-Sol-Besetzung mit) waren eigentlich auf
einer anderen Baustelle unterwegs.
Gastr del Sol verwendeten alles, was musikhistorisch passend erschien, mit
Ergebnissen, die man so vorher und seit dem Bandsplit 1998 so nicht mehr
gehört hat. Was dazu führt, dass man sich zum Beispiel an das Doppelalbum
„Upgrade & Afterlife“ (1997) sowohl als eines der besten Folk- oder
Elektronik- oder Avantgarde-Alben der Neunziger erinnern kann.
## Der Herkunftszeit enthoben
Das ergibt dann eine zeitlose Schönheit, nicht im Sinne eines zeitlosen
Klassikers oder etwas Kanonischem. [4][Sondern in dem prozesshaften
Umstand, dass hier eine Musik sozusagen neben der Musikgeschichte
herläuft,] auch wenn in den Stücken von Gastr del Sol zitiert und verwiesen
wird, dass es nur so rauscht. Nur klingt die Musik so, als würde alles, was
hier aufscheint – das Gitarrenspiel von John Fahey, minimalistische
Elektronik, Noise, Folk, Field Recordings, Musique concrète –, ihrer
Herkunftszeit enthoben und aus ihrem jeweiligen Entstehungskontext
herausgelöst.
[5][Zeitlosigkeit ist ein Begriff mit dem David Grubbs] im Interview mit
der taz dann allerdings nicht gar viel anfangen kann: „Ich hatte nie das
Gefühl, dass Gastr del Sol nach Bands klang, die vor oder nach uns kamen.
Zeitlosigkeit ist eine seltsame Kategorie. Darauf haben wir nicht
abgezielt. Aber dass wir nicht so leicht mit anderen Musiker:innen oder
Gruppen verwechselt werden können, verleiht unserer Musik vielleicht die
Qualität, die hier beschrieben wird.“
Die Vielfalt und Unberechenbareit von Gastr del Sol hätten einfach mit der
Begeisterung von Grubbs und Jim O’Rourke für alle möglichen Arten von Musik
zu tun gehabt. „Viele Gruppen hatten damals eine klare stilistische
Handschrift und haben mehr oder weniger eine bestimmte Sache verfolgt. Zum
Beispiel Bastro, die Band in der ich vorher gespielt habe.“ Gastr del Sol
seien danach eine Entlastung gewesen.
„We Have Dozens of Titles“ kommt als Veröffentlichung jetzt, ein
Vierteljahrhundert nach dem Ende, dennoch überraschend. Gastr del Sol waren
weitgehend vom Radar verschwunden. Und damit eine der konzeptuell
interessantesten und musikalisch überraschendsten Bands der Neunzigerjahre.
Die Schönheit ihrer Musik kann man auch an ihren hier versammelten
entlegeneren Aufnahmen nachvollziehen.
Man kriegt sie nie ohne Störgeräusche und selten ohne Ironie oder
Selbstironie, die diese Musik vor Bedeutungsschwere und Kopflastigkeit
rettet. In dem ebenfalls in Victoriaville aufgenommenen, gut zehnminütigen
„Blues Subtitled No Sense of Wonder“ wird eine simple, quasi romantische
Klaviermelodie von flirrenden Elektronik-Flächen überblendet. Und die
Bing-Crosby-Coverversion „The Bells of St. Mary“, zuerst erschienen 1996,
auf einem japanischen Sampler mit Weihnachtsliedern, loopt den orchestralen
Easy-Listening-Schwulst des Originals, um ihn sanft zu zerdengeln.
## Ohne stilistische Grenzen
Hier wie auch in den beiden über jeweils mehr als 15-minütigen Stücken „The
Harp Factory on Lake Street“ und „Onion Orange“ verbinden sich im Umgang
mit dem Ausgangsmaterial Zartheit und ein freier Zugriff auf
Musikgeschichte. Die Musik von Gastr del Sol ist immer eine Musik der
Möglichkeiten, dem Eindruck nach ohne stilistische Grenzen, und trotzdem
wurde das alles hörbar streng konzeptioniert.
Eine Erweiterung des musikalisch Denk- und Spielbaren, auch heute noch
unverzichtbar, und ohne jedes Anything goes. Vielleicht rührt daher die
Spannung von Gastr del Sol. Es könnte alles passieren, zugleich passiert
aber nicht alles, sondern immer nur das, was gerade passieren soll,
entschieden von zwei Musikern, die sehr genau wissen, was sie gerade in
diesem Moment an Sounds, Klangfarben und Strukturen produzieren wollen.
David Grubbs begann als Gitarrist in der Post-Hardcorepunkzene und hat sich
der europäischen Avantgarde aus dem Geist von Punk und mit einer anderen
Offenheit und eben auch Lockerheit und Respektlosigkeit angenähert, bei
gleichzeitiger Liebe zum Material. Eine Gastr-del-Sol-Reunion wird es dem
Vernehmen nach nicht geben. Er und der seit Längerem in Japan lebende Jim
O’Rourke sind nach dem Ende von Gastr del Sol getrennte Wege gegangen und
haben jeweils Dutzende Soloalben veröffentlicht, die weiterhin von eben
diesem Geist beseelt sind: Strenge und Freiheit in ein- und derselben
Bewegung.
9 Aug 2024
## LINKS
[1] /Duoalbum-David-Grubbs--Jan-St-Werner/!5855612
[2] /Pop-Meisterwerk-von-Jim-ORourke/!5204648
[3] /Sphaerenmusik-von-Prekop-und-McEntire/!5877006
[4] /Debatte-um-einen-Rembrandt-im-Starkregen/!5944689
[5] /US-Musiker-David-Grubbs/!5326859
## AUTOREN
Benjamin Moldenhauer
## TAGS
Neues Album
Post-Punk
Noise
Retrospektive
Neues Album
HipHop
Free Jazz
Musik
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