| # taz.de -- Neues Album von „Tortoise“: Komplexe Grooves, komplett relaxt | |
| > Die US-Postrockband Tortoise veröffentlicht nach langer Pause das neue | |
| > Album „Touch“. Wie zeitgemäß ist dieser Sound? | |
| Bild: Tortoise, Selbstporträt in einer japanischen Innenstadt | |
| Die Musik von Tortoise trägt viele Welten in sich. Man kann die | |
| Pluralisierung, die die Band aus Chicago ab Mitte der neunziger Jahre | |
| ermöglichte, kaum überschätzen. Es ging in dieser wortlosen Musik nicht | |
| mehr um einen unmittelbaren Ausdruck, um Authentizität und so weiter, | |
| sondern um Sounds, die für sich stehen und nicht unbedingt etwas bedeuten | |
| oder ausdrücken sollen. Außer vielleicht das Wissen um alle Verästelungen | |
| von Pop-, Rock-, Jazz-, Dancefloor-Geschichte und der experimentellen | |
| Musik. Was den Postrock, so nannte man den Sound von Tortoise, bisweilen | |
| etwas akademisch erscheinen ließ. | |
| Alles floss hier zusammen: Krautrock, Jazz, Post-Hardcore, [1][Techno, | |
| Minimal Music.] Tortoise trugen wesentlich dazu bei, dass „Rock“, möglichst | |
| weit definiert, damals ins große Offene ausscheren konnte. Und diese Idee, | |
| alles zusammenfließen zu lassen, ließ sich nach dem Tod von Kurt Cobain | |
| auch verstehen als Reaktion auf die kommerzielle Ausschlachtung von Grunge | |
| und seiner hohlen rockistischen Versprechen. Tortoise boten ein Zurück zum | |
| Sound an, weg von allen machistischen Rockmythen. | |
| Ihr neues Album „Touch“ ist das erste Lebenszeichen seit „The | |
| Catastrophist“ (2016), und es ist nicht negativ gemeint, wenn man sagt, | |
| dass es in ähnlicher Form genauso vor 15 Jahren hätte erscheinen können. | |
| Zeitlose Musik. Das Zusammenspiel der fünf Musiker wirkt fast körperlos | |
| traumwandlerisch, keine Hektik oder Dringlichkeit, nichts Forciertes. | |
| Tortoise gelingt es fast durchweg, ästhetisch-schöne Oberflächen und | |
| hintergründige Details zusammen zu strukturieren. | |
| Man kann das Album im Sinne von Erik Satie als Tapete oder als | |
| Kopfhörermusik hören. Einmal atmosphärisch, einmal als Komposition. Nach | |
| all den Jahren wird es allerdings manchmal langweilig: Dann, wenn Tortoise | |
| sich allzu sehr auf einen stoisch-endlos-repetitiven Neu!-Beat verlassen. | |
| Stücke wie „Axial Seamount“ mäandern doch etwas. Was schade ist, gerade | |
| weil die Band, die ursprünglich in Chicago begann (und deren Mitglieder | |
| heute in drei US-Regionen verstreut leben), mit ähnlichen Mitteln 1996 mit | |
| dem zwanzigminütigen „Djed“ einen zeitlosen Monolithen geschaffen hat. | |
| ## Zerstäuben in alle Richtungen | |
| Bei allen Verbeugungen vor der Musik von Ennio Morricone, This Heat und | |
| eben Neu!: Es gab 1994 nichts, was so sphärisch und zugleich | |
| konzeptuell-streng und weggedriftet klang. Das potenzielle Problem von | |
| Tortoise jedenfalls ist heute das hin und wieder allzu Gefällige. Eine der | |
| vielen Klangwelten, die diese Musik in sich trägt, ist ein – allerdings | |
| kunstvolles – Spraypaint-Bild. Ein Zerstäuben in alle Richtungen. | |
| Und es ist konsequent, dass sich auch dieses Bild auf dem Album findet, | |
| einfach weil die Band sich in den Kompositionen von „Touch“ durch die | |
| eigene Geschichte spielt. Im glücklicherweise häufigeren Fall driftet die | |
| Musik dabei mitsamt den Hörerinnen ins Tiefenentspannte und Abgeklärte. | |
| „Promenade à deux“ etwa, mit unerwartet romantischer Anmutung im Titel, | |
| gehört zu den schönsten Instrumentalballaden der Bandgeschichte. „A Title | |
| Comes“ basiert auf einem statisch pulsierenden Bass, über den Jeff Parker | |
| eine smoothe Jazz-Gitarre legt, bevor dann eine schillernde Synthie-Melodie | |
| das ganze Gebilde ins Flauschige schubst. | |
| Jeff Parker ist auch das Bindeglied zur überbordenden Chicagoer Jazzszene, | |
| die sich um das Label International Anthem gebildet hat. „Touch“ ist das | |
| erste Tortoise-Album, das hier veröffentlicht wird. Die Labelwahl wirkt | |
| stimmig, auch weil der immense Einfluss von Tortoise auf jüngere | |
| Labelkolleg:Innen wie Makaya McCraven, Carlos Niño und SML | |
| unüberhörbar ist. | |
| Damit begeben sich Tortoise in das Umfeld einer dezidiert widerständigen | |
| Jazztradition und -gegenwart, in die Nähe von Irreversible Entanglements | |
| und, über Bande, auch zum Art Ensemble of Chicago. Die forcierte | |
| Informationsverweigerung, das Kryptische, Undeutbare von Tortoise wirken in | |
| Zeiten der totalitären Umgestaltung der USA ernst und erstaunlich wenig | |
| eskapistisch. | |
| „Touch“ endet mit den zwei stärksten Momenten des Albums, „Oganesson“ … | |
| „Night Gang“. Das Erste ist ein komplex groovender und dabei komplett | |
| relaxter Lounge-Track, in dem Tortoise fast alle ihre Signaturesounds zum | |
| Schweben gebracht haben. Das elegische „Night Gang“ zeigt, wie fein die | |
| Ohren dieser Band für minimalistisch strukturierte Melodien sind. | |
| [2][„Touch“ ist trotz einiger Schwächen eine vitale Rückmeldung], ein | |
| Album, das im guten Sinne wirkt wie eine Best-of-Compilation. | |
| 30 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sphaerenmusik-von-Prekop-und-McEntire/!5877006 | |
| [2] https://intlanthem.bandcamp.com/album/touch | |
| ## AUTOREN | |
| Benjamin Moldenhauer | |
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