# taz.de -- Umgang mit J.D. Vance: Plattitüden statt Analyse | |
> Ja, das neoliberale Projekt führt zu einer auch geistigen | |
> Gewalttätigkeit. Das entbindet uns aber nicht davon, J. D. Vance ernst zu | |
> nehmen. | |
Bild: JD Vance und Frau Usha betreten die Wahlkampfbühne in Minnesota | |
In diesem Monat gab es zwei große Ereignisse im Leben des J. D. Vance. Er | |
wurde als Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten an der Seite von | |
Donald Trump auserkoren, und sein deutscher [1][Verlag verlängerte die | |
Lizenz] für [2][sein Buch „Hillbilly-Elegie“] nicht. Zur Begründung gab d… | |
Ullstein Verlag an, Vance vertrete inzwischen „eine aggressiv-demagogische, | |
ausgrenzende Politik“. Weswegen – so vermutlich die Logik – seine Memoiren | |
auszugrenzen seien. | |
Das ist töricht und wäre belanglos, würde es nicht eine Entwicklung im | |
politischen Diskurs repräsentieren, die zum Haareraufen ist. Hauptsache | |
große Geste und deftige Plattitüde. Dämonisierung als magische Waffe, die | |
den Gegner auf Distanz halten soll. Damit ist es getan. Wer braucht schon | |
Erkenntnis und Verständnis. | |
Die lesenswerten Memoiren des J. D. Vance sind keineswegs literarische | |
Botschaften aus einem früheren Leben, in dem dieser junge Senator noch | |
nicht aggressiv und demagogisch war, sondern ein psychologischer Einblick | |
in die Ressentiments und Frustrationen einer Bevölkerungsschicht, die auf | |
beiden Seiten des Atlantiks selten sichtbar und noch seltener zu hören ist: | |
des Prekariats. Anstatt über das Erstarken der Rechten nur zu jammern, | |
könnte man anhand solcher authentischer Erzählungen über diese Menschen und | |
ihre politische Mobilisierung nachdenken. | |
Schon früh in „Hillbilly-Elegie“ offenbart sich eine Verknüpfung aus | |
Forderungen nach sozialem Ausgleich und einer tiefen Abscheu vor | |
individueller Verantwortungslosigkeit und Faulheit. Das ist keineswegs neu, | |
im Gegenteil: Diese Haltung war ein zentrales Element der New-Deal-Reformen | |
von Franklin D. Roosevelt. | |
Soziale Unterstützung wurde damals nicht als staatliches Almosen | |
verstanden, sondern als Entlohnung für harte und gesellschaftlich relevante | |
Arbeit. „Die Politik meiner Großmutter“, schreibt Vance, „war eine Art | |
Hybrid aus linker Sozialdemokratie und rechter Selbstverwirklichung, und | |
beide Weltanschauungen haben ihre Berechtigung.“ Sein Fazit: Die | |
Widersprüche in den USA können nicht allein durch bloße individuelle | |
Anstrengungen überwunden werden, es braucht politische Maßnahmen. | |
## Mediale Obsession mit Vance bietet wenig Erkenntnis | |
Diese nationalkonservative Befürwortung des New Deal stellt einen wichtigen | |
Unterschied zu den klassischen Republikanern dar, die sich seit Ronald | |
Reagan für wenig Regierung, Laissez-faire-Wirtschaft und Freihandel | |
eingesetzt haben. Diese Politik, so Vance, habe zur Deindustrialisierung | |
geführt, zu maroden Städten im Rust Belt, zur Zerstörung sozialer | |
Bindungen, zu Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in dortigen Gemeinden, | |
die durch die Opioidkrise verschlimmert wurde. | |
Angesichts solcher inhaltlichen Verschiebungen innerhalb der Grand Old | |
Party ist die mediale Obsession mit dem Opportunismus von J. D. Vance – von | |
„never Trump“ zu „immer wieder Trump“ – wenig erkenntnisreich. | |
Zynischer Karrierismus ist der Politik eingeschrieben. So beschrieb etwa | |
der Bürgerrechtsaktivist Jesse Jackson einst Bill Clinton: „Ich werde | |
vielleicht mit ihm arbeiten können, jetzt da ich weiß, wer er ist und was | |
er ist. Es gibt nichts, was dieser Mann nicht tun würde. Er kennt keine | |
Scham. Wenn man das schöne Getue zur Seite schiebt und sich in ihn | |
hineinversetzt, findet man absolut nichts … nichts als einen großen | |
Appetit.“ Selten ist der Drang zur Macht besser beschrieben worden. | |
Interessant ist die Frage, wofür Vance politisch steht. Denn wie Trump | |
instrumentalisiert er die legitime Unzufriedenheit über eklatante soziale | |
Missstände, für die nicht eine bestimmte Partei, sondern das System als | |
Ganzes verantwortlich ist. Die beiden großen Parteien haben gemeinsam | |
jahrzehntelang die Wall Street dereguliert und nach der Finanzkrise 2008 | |
mit Milliarden von Dollar gerettet, während Hauseigentümer weitgehend sich | |
selbst überlassen blieben. | |
Angestellte und Arbeiterinnen erhielten einen schrumpfenden Anteil an den | |
von ihnen erwirtschafteten Gewinnen. Und das Finanzkapital floss immer mehr | |
in spekulative Vermögenswerte. Als 2016 Trump gewählt wurde, hatte die | |
Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen ein Niveau erreicht wie seit den | |
1920er Jahren nicht mehr (kurz vor dem New Deal). | |
## Wertschätzung für die Abgehängten! | |
Hinzu kommt das Gefühl vieler Menschen, insbesondere solcher ohne | |
Hochschulabschluss, dass ihre Stimme nicht gehört und ihre Arbeit nicht | |
respektiert wird und die Eliten (welche allerdings stets nebulös definiert | |
werden) auf sie herabblicken. Denn wirtschaftliche Weichenstellungen | |
entscheiden nicht nur über die Verteilung von Einkommen und Vermögen, | |
sondern auch über Anerkennung und Wertschätzung. | |
Um die Unterstützung solcher Wählerinnen zurückzugewinnen, müssten die | |
etablierten Parteien endlich anerkennen, dass das neoliberale Projekt ein | |
soziales und ökologisches Desaster verursacht hat. Enorme Gewinne für | |
einige wenige sowie stagnierende Löhne, Inflation und unwürdige Arbeit für | |
viele sind einige der Folgen. | |
Eine derartige Lebenssituation führt zu Wut und einer (nicht nur) geistigen | |
Gewalttätigkeit, die sich menschenverachtend äußert. Das entledigt uns aber | |
nicht der Aufgabe, die spezifische politische Identität von [3][Personen | |
wie Vance] zu analysieren und zu begreifen. | |
Rod Dreher, einer der Gurus von J. D. Vance, fasst die neue konservative | |
Strömung so zusammen: „Der moderne Konservatismus hat sich zu sehr auf | |
Geld, Macht und die Anhäufung von Gütern konzentriert und sich zu wenig mit | |
der Essenz des menschlichen Wesens, als Individuum wie auch als | |
Gemeinschaft, befasst. Große Unternehmen müssen ebenso kritisch betrachtet | |
werden wie große Regierungen. Kultur ist wichtiger als Politik und | |
Wirtschaft. Schönheit ist wichtiger als Effizienz.“ | |
Da ist manches enthalten, was das Nachdenken lohnt – so | |
aggressiv-demagogisch J. D. Vance im Wahlkampf auch krakeelt. | |
30 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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