# taz.de -- Schuldenbremse in Sachsen-Anhalt: Jetzt wird abgestottert | |
> In Sachsen-Anhalt sind die Kassen leer, weshalb CDU und FDP mit der | |
> Schuldenbremse geschmeidig umgehen. Wie wirken sich knappe | |
> Kommunalfinanzen aus? | |
Bild: Auch die „Wilde Zicke“, die historische Naumburger Straßenbahn, brau… | |
[1][Reiner Haseloff] ist vor der Arbeit noch schnell in die Klosterkirche | |
gegangen. Es ist Mitte Mai, und die Landesregierung von Sachsen-Anhalt | |
trifft sich zur auswärtigen Kabinettssitzung in Schulpforte. Als die | |
Sitzung vorüber ist, berichtet er, wie schön die Kapelle restauriert wurde, | |
so wie alle instandgesetzten Gemäuer auf dem Gelände des Klosters, das seit | |
Jahrhunderten die Landesschule Pforta beherbergt. | |
1987, so erzählt es Haseloff, war sein Kirchgang weniger beschaulich. „Als | |
ich die Tür aufmachte, da kam mir ein ganzer Schwung Tauben ins Gesicht | |
geflogen!“ Solche Anekdoten muss man hervorkramen, um klarzumachen, wie | |
sehr sich Sachsen-Anhalt gewandelt hat. „Ich habe 35 Jahre in dem einen | |
Staat zugebracht und 35 Jahre in dem anderen …“, beginnt Haseloff und lässt | |
den Satz stehen. | |
Diesen Gedanken muss man nicht weiter ausführen, um zu erkennen, welcher | |
Staat der solidere ist und der finanzstärkere – trotz aller Debatten über | |
den Bundeshaushalt für das kommende Jahr, um den die Bundesregierung in | |
diesen Tagen ringt. Dennoch lohnt sich ein Blick in die Länder und | |
Kommunen, um die Lage der öffentlichen Kassen zu begreifen. | |
In Schulpforte öffnet Reiner Haseloff jetzt aber erst mal ein Füllhorn und | |
stellt der Stadt [2][Naumburg], zu der Schulpforte gehört, knapp 21 | |
Millionen Euro in diesem Jahr in Aussicht und dem Burgenlandkreis fast 84 | |
Millionen. Dazu fließen Gelder aus dem Strukturwandelfonds – der Kreis ist | |
vom Kohleausstieg betroffen –, und auch aus EU-Programmen. Es gibt einen | |
„Ausgleichsstock“, es gibt Geld für Kunst und Kultur, für das | |
Unesco-Welterbezentrum am Naumburger Dom, für Straßen, für das Sportbad, | |
für Schulen, Kliniken. | |
Irgendwann schließt sich das Füllhorn wieder und Armin Müller, der | |
Oberbürgermeister von Naumburg, bedankt sich wortreich. Müller braucht | |
dringend Hilfe. Die kommunalen Eigenbetriebe, die Stadtwerke, das | |
Freizeitbad sind in gefährlicher Schieflage. Und die „Wilde Zicke“, die | |
historische Naumburger Straßenbahn, benötigt bis zum Jahresende eine neue | |
Finanzierung, außerdem ist die Feuerwache marode. Ganz zu schweigen von den | |
drei stolzen, leider restaurierungsbedürftigen Burgen, und 2026 steht die | |
Tausendjahrfeier vor der Tür. | |
Einen Geldsegen könnte man bei den Kommunalfinanzen öfter gebrauchen. Denn | |
Programme, Förderrichtlinien und Strukturwandelfonds ersetzen keinen | |
soliden Haushalt. Götz Ulrich, der von Haseloff ebenfalls bedacht wurde, | |
ist nicht nur Landrat des Burgenlandkreises, sondern auch Präsident des | |
Landkreistages von Sachsen-Anhalt. Im Februar hat er Alarm geschlagen. | |
Keiner der elf Landkreise kann einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Das | |
Defizit summiert sich allein in diesem Haushaltsjahr auf etwa 200 Millionen | |
Euro. | |
## Jetzt wird abgestottert | |
Die Lage ist ernst und ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Magdeburg vom | |
Dezember 2023 zur Kreisumlage hat sie noch verschärft. Die Kreisumlage ist | |
eine der Haupteinnahmequellen der Landkreise, um öffentliche Aufgaben wie | |
Nahverkehr, weiterführende Schulen, Kliniken und Müllabfuhr zu erfüllen. | |
Die Höhe der Umlage, im Schnitt etwa 40 Prozent der Einnahmen einer | |
Kommune, beschließt der Kreistag, ein Mitspracherecht haben die Kommunen | |
nicht. Um sich gegen zu hohe Umlagen zu wehren, bleibt nur der Gang vor das | |
Verwaltungsgericht. | |
Genau das taten Gemeinden des Landkreises Mansfeld-Südharz, weil sie die | |
Kreisumlage für überhöht hielten, und bekamen recht. Es geht insgesamt um | |
120 Millionen Euro, die der Kreis Mansfeld-Südharz nun abstottern muss. Es | |
ist wie der Kampf von Frierenden um eine Decke, die viel zu kurz ist, um | |
alle zu wärmen. | |
Aber wie lässt sich eine auskömmliche Finanzierung der kommunalen Ebene | |
erreichen, Herr Haseloff? | |
Der Ministerpräsident zeichnet zunächst ein leistungsfähiges Land mit all | |
seinen Segnungen. Er beschreibt den deutschen Sozialstaat, erinnert an die | |
Vielzahl der „Finanzbedarfe“, umreißt staatliche Aufgaben wie die | |
Einwanderung und Bildung und lobt dieses Deutschland als eines der | |
lebenswertesten Länder überhaupt. Nach dieser Würdigung verdüstert sich | |
Haseloffs Ton. „Derzeit geben wir mehr aus, als wir einnehmen.“ Was es | |
brauche, seien neue Industrien, Gewerbegebiete und Fachkräfte, kurzum – | |
Wachstum und Investitionen. | |
Haseloffs Diagnose trifft auch auf Sachsen-Anhalt selbst zu. Die Kassen | |
sind seit Jahren leer. Um trotz Schuldenbremse zu investieren, hat der | |
Magdeburger Landtag unter Berufung auf die Pandemie Ende 2021 die | |
„wirtschaftliche Haushaltsnotlage“ erklärt. Das kreditfinanzierte | |
Corona-Sondervermögen sollte der Landesregierung bis 2027 aus der | |
Bredouille helfen. Mit seinem Urteil vom November 2023 setzte das | |
Bundesverfassungsgericht dem allerdings ein Ende – im Bund und in den | |
Ländern. Der Magdeburger Schattenhaushalt, ursprünglich knapp zwei | |
Milliarden Euro, wurde wieder aufgelöst. Wie weiter? Der Landtag erklärte | |
bereits im Dezember 2023 mit der Regierungsmehrheit von CDU, SPD und auch | |
der FDP erneut eine „Notlage“, um auch 2024 Kredite aufzunehmen, eine | |
Kreditaufnahme, die die Schuldenbremse eigentlich verhindern sollte. | |
Während sich CDU und FDP im Bundestag unnachgiebig zeigen, sind sie in den | |
Ländern, in denen sie regieren, deutlich geschmeidiger. | |
## Haseloffs Ausweg aus der Klemme | |
„Ich bin für die absolute Einhaltung der [3][Schuldenbremse]“, bekennt | |
Reiner Haseloff. Ein paar Sätze später konstatiert er: „Wir haben eine | |
wirtschaftliche Notlage“, und weist den Ausweg aus der Klemme. Haseloff | |
legt ein Bekenntnis zur Linie von CDU-Chef Merz ab und gibt gleichzeitig | |
dessen Kritikern recht, die angesichts des russischen Angriffskrieges und | |
der Wirtschaftsflaute für den Bundeshaushalt die Feststellung einer | |
wirtschaftlichen Notlage fordern. Oder gar eine Reform der Schuldenbremse | |
verlangen, wie Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin. | |
Reiner Haseloff, inzwischen dienstältester Länderchef, gibt beiden Seiten | |
recht und fährt damit selbst am besten. Die Mitteldeutsche aus Halle hat im | |
Mai berichtet, dass der Landtag Ende des Jahres für 2025 abermals die | |
Notlage erklären werde. Angesichts der AfD-Dominanz im Osten bei den | |
Europa- und Kommunalwahlen dürfte dieser Schritt nur noch eine Formalie | |
sein. | |
Ein Länderchef kann sich mit Buchungstricks über Wasser halten. Ein Landrat | |
muss andere Wege gehen. Haseloffs Parteifreund Götz Ulrich ist eingeklemmt | |
zwischen wachsenden Ausgaben, darbenden Gemeinden, einer auftrumpfenden | |
AfD, die ihn im März auch persönlich bedroht hat, und durchwachsenen | |
wirtschaftlichen Aussichten. Der Kreis-Chef muss Geld organisieren und | |
idealerweise noch das Wir-Gefühl in seiner Region stärken. | |
Erst einmal hat Ulrich das Wir-Gefühl der elf Landräte in seinem Bundesland | |
gestärkt und ist mit allen nach Schleswig-Holstein gereist. Ulrichs Idee: | |
Wenn das Geld nicht reicht, muss man die Strukturen ändern. Und | |
Schleswig-Holstein hat andere Strukturen. Im Unterschied zu Sachsen-Anhalt | |
hat das nördlichste Bundesland nur eine zweistufige Verwaltung. Und so sind | |
die Landräte auf Betriebsausflug die Landes- und Kommunalstrukturen im | |
Norden durchgegangen und haben verglichen: Kommunalaufsicht, | |
Katastrophenschutz, Brandschutz, Amt für Amt. | |
„Wir sind zu interessanten Ergebnissen gekommen“, sagt Ulrich nüchtern, | |
dabei muss es ein Erweckungserlebnis gewesen sein. Denn im Burgenlandkreis | |
wachen bei der Kommunalaufsicht 14 Beamte über die Finanzen der Gemeinden, | |
oben im Norden sind es nur zwei, höchstens drei. „Die prüfen natürlich viel | |
weniger, aber da ist eben auch viel mehr Vertrauen in die kommunale | |
Selbstverwaltung.“ Und während in Sachsen-Anhalt für die Kontrolle der | |
Landkreise im Landesverwaltungsamt ein ganzes Referat zuständig ist, fehle | |
diese Ebene im Norden ganz. | |
## Es geht nicht nur ums Geld | |
Geduldig kann Götz Ulrich die Eigentümlichkeiten der Kommunalverwaltungen | |
erklären, auch das Ost-West-Gefälle. „Das rührt stark aus der DDR her, wo | |
wir ja keine kommunale Selbstverwaltung hatten, sondern eine | |
Überwachungsstruktur.“ Und natürlich habe man viele Mitarbeiter samt | |
Stellen übernommen. Ulrichs Tenor ist klar: Weniger Gängelei, mehr | |
Freiräume. „Damit wir insgesamt schlanker werden und dann auch mehr Geld | |
für die kommunale Familie übrigbleibt.“ | |
Dabei geht es nicht allein um Finanzen: Es finden sich keine | |
[4][Fachkräfte] mehr. Seine Kreisverwaltung habe 60 offene Stellen. Manche | |
Schule sei nur noch an vier Tagen geöffnet, die Klassen seien voll und | |
tausend ukrainische Kinder müssten ebenfalls versorgt werden. Es fehlten | |
zwanzig bis dreißig Lehrer. | |
Eigentlich müsste Ulrich, seit 2014 Landrat, tief seufzen. Bildungspolitik | |
ist sein Herzensanliegen. Seit Jahren will Ulrich einen Bildungscampus in | |
Naumburg errichten: Eine Sekundar-, eine Förder- und eine berufsbildende | |
Schule unter einem Dach für die Fachkräfte von morgen. Eine Idee, bei der | |
ihm auch Reiner Haseloff zur Seite steht. | |
Bei seiner nächsten Visite zaubert Haseloff einen Förderbescheid über 45 | |
Millionen Euro aus dem Ärmel. Das Geld kommt aus dem „Just Transition | |
Fund“, den die EU-Kommission aufgesetzt hat, um den Strukturwandel in der | |
Kohleregion zu fördern. Eigentlich ist es egal, woher der Geldsegen kommt. | |
Hauptsache, er kommt nicht aus Magdeburg. | |
7 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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