Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Hamburger Schüler: Abschiebung statt Abitur
> Joel A. soll trotz mustergültiger Integration abgeschoben werden. Grund
> ist auch eine Gesetzesänderung. Seine Schule setzt sich für ihn ein.
Bild: Hier will er bleiben: Joel A. vor seiner Schule in Hamburg-Wilhelmsburg
Hamburg taz | Montag ist immer der anstrengendste Tag der Woche für Joel
A.: Um acht Uhr beginnt für ihn der Unterricht. Danach fährt er direkt mit
dem Bus zu Edeka. Dort arbeitet er bis 21 Uhr, räumt Regale ein und sitzt
an der Kasse. „Wenn ich nach über 13 Stunden nach Hause komme, bin ich
müde, aber mache trotzdem noch Hausaufgaben“, sagt der 18-Jährige. Die
Schule ist ihm wichtig und daneben arbeitet er, um seinen Vater und seine
kleine Schwester unterstützen zu können. Nun steht das alles auf der Kippe,
denn Joel droht die Abschiebung nach Ghana. Auch weil sich in Deutschland
[1][ein Gesetz geändert] hat.
Vor vier Jahren erst kam er nach Deutschland, nach Hamburg. Im vergangenen
Jahr machte er seinen Mittleren Schulabschluss. „Eigentlich wollte ich
danach eine Ausbildung machen. Aber meine Lehrer haben mir die Prognose
gegeben, dass ich für die Oberstufe geeignet bin und mich dazu ermutigt,
Abitur zu machen“, sagt er. Inzwischen hat er sein erstes Jahr in der
Oberstufe an der Nelson-Mandela-Schule im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg,
südlich der Elbe, fast geschafft – und ist sehr positiv aufgefallen.
„Joel ist ein zuverlässiger, ruhiger und interessierter Schüler“, sagt
seine Klassenlehrerin Elif Basboga, die ihn in den Kernfächern Deutsch und
Mathe unterrichtet. Um zusätzliche, nicht verpflichtende Kurse in der
Schule belegen zu können, habe Joel in diesem Schuljahr sogar extra seine
Schichten bei der Arbeit umgelegt. „Neben seinem Engagement im Unterricht
ist er aber auch ein sehr empathischer und offener Mensch“, betont Basboga.
„Er setzt sich unter seinen Mitschülern für ein friedliches Miteinander
ein, beispielsweise in Bezug auf die Religion.“
In der Schule stehen sie hinter ihm, wollen seine Abschiebung verhindern.
Um zu zeigen, wie groß die Unterstützung für Joel ist, haben sie an der
Schule [2][eine Petition gestartet]. Unter dem Titel „1,2,3,4 – Joel bleibt
hier“ läuft diese seit der vergangenen Woche auf der Plattform innn.it.
Auch die Betreiber der Plattform sind auf die Petition aufmerksam geworden
und boten den Initiatoren an, Flyer für sie zu erstellen und kostenlos zur
Verfügung zu stellen. Am Mittwoch zogen die Schüler und Schülerinnen der
Jahrgangsstufen 11 und 12 dann los, um diese Flyer in der Stadt zu
verteilen, in der Innenstadt, am Hauptbahnhof, in Altona und an anderen
Orten.
## Mit dem 18. Geburtstag begannen die Sorgen
Vor einem Monat begann sich Joels Situation zuzuspitzen. Er kam wie
gewöhnlich nach einem langen Tag nach Hause. „Mein Vater hat schon auf mich
gewartet und mir einen Brief gegeben. Da hatte ich direkt ein schlechtes
Gefühl“, erzählt er. Der Brief war von seiner Anwältin Michaela Koch. Sie
kämpft seit bald einem Jahr um Joels Aufenthalt.
Als er 2020 mit 14 Jahren als unbegleiteter Minderjähriger zu seinem Vater
nach Deutschland kam, erhielt Joel eine Aufenthaltserlaubnis aus
humanitären Gründen. Im vergangenen August ist er volljährig geworden.
Früher haben Geflüchtete in Joels Situation nach ihrem 18. Geburtstag für
gewöhnlich ein Bleiberecht nach Paragraf 25a des Aufenthaltsgesetzes
bekommen. Diese Regelung war speziell für junge Volljährige geschaffen
worden, die gut in Deutschland integriert sind und hier eine Ausbildung
machen oder noch zur Schule gehen.
Seit 2023 haben sich die Voraussetzungen für diesen Aufenthaltstitel jedoch
geändert: Der Gesetzgeber will es nun so, dass der nur noch jungen
Erwachsenen erteilt wird, die in den vergangenen zwölf Monaten vor dem
Antrag auf Bleiberecht mit einer Duldung in Deutschland gelebt haben.
„Das ist völlig paradox“, sagt Anwältin Koch. „Wenn junge Menschen wie …
sich in Deutschland um eine Aufenthaltserlaubnis bemüht und diese auch
erhalten haben, stehen sie jetzt schlechter da als solche, die nur geduldet
wurden.“
Auch Joel versteht nicht, was ihm gerade passiert. „Ich habe mich hier
immer richtig verhalten und angestrengt, deshalb verstehe ich nicht, warum
ich jetzt plötzlich nicht mehr bleiben darf“, sagt er.
Seitdem er volljährig ist, ist Joels Fall schon durch mehrere Instanzen
gegangen – erfolglos. Inzwischen wird es immer enger für Joel und es droht
die Abschiebung nach Ghana. Dort ist es zwar grundsätzlich sicher. Trotzdem
sagt Joel: „Wenn ich nach Ghana zurückmuss, bedeutet das mein Ende. Ich
habe da keinen Schulabschluss, keine Arbeit und keine Perspektive.“ Joels
Vater, seine kleine Schwester, seine Freunde – sie alle leben in
Deutschland.
Der Fall liegt nun bei der Härtefallkommission des Eingabenausschusses in
der Hamburgischen Bürgerschaft. Dort entscheiden die Abgeordneten über
besondere aufenthaltsrechtliche Fälle, in denen das Recht zu ungerechten
Ergebnissen führt. Voraussichtlich werden sie nächste Woche über Joels
Antrag beraten.
Carola Ensslen, die flüchtlingspolitische Sprecherin der Linksfraktion und
Mitglied des Ausschusses, kritisiert die aktuelle Rechtslage. „Immer wieder
erlebe ich es, dass Joel und andere junge Menschen, die längst Hamburger
geworden sind und hier gute berufliche Perspektiven haben, von Abschiebung
bedroht sind“, sagt sie. „Sie brauchen ein Bleiberecht, zum Beispiel über
einen Härtefall-Aufenthaltstitel.“
## Letzte Chance Härtefallkommission
So ein Aufenthaltstitel wäre tatsächlich die letzte Chance für Joel A.. Um
der Härtefallkommission zu verdeutlichen, wie gut er in Deutschland
integriert ist, kam seine Anwältin auf die Idee, eine Stellungnahme seiner
Lehrerin einzureichen.
„Vor gut drei Wochen hat Joel mir einen Brief seiner Anwältin gegeben“,
sagt Elif Basboga. „Als ich den gelesen habe, wurde mir klar, dass ihm die
Abschiebung droht.“ In ihren 15 Jahren Erfahrung als Lehrerin habe sie das
noch nie erlebt. „Es hört sich vielleicht naiv an, aber ich konnte danach
die Nacht nicht schlafen und habe überlegt: Was kann ich nur in diese
Stellungnahme schreiben, damit er nicht abgeschoben wird?“
Kurz darauf reichten nicht nur Basboga, sondern auch Joels Mitschüler und
die Elternschaft Stellungnahmen bei der Kommission ein. Alle bitten darin
eindringlich darum, dass Joel der Klassengemeinschaft nicht entrissen wird.
Junior Antwi ist ein Freund von Joel. Er kennt ihn noch aus der Zeit, in
der er auf einer anderen Schule den Mittleren Schulabschluss machte. „Als
ich ihn hier in der Oberstufe wiedergetroffen habe, war ich überrascht“,
erzählt er. „Nach nur vier Jahren in Deutschland Abitur – davor hatte ich
Respekt. Er ist sehr ausgeglichen und will nie Streit, deshalb mag ihn hier
jeder.“
Die Hilfe der Schulgemeinschaft hat erste Früchte getragen: Bei der
Petition für Joel sind am Mittwochmittag schon mehr als 23.000
Unterschriften zusammengekommen.
„Ich habe die Probleme mit meinem Aufenthalt lange verheimlicht, weil ich
mich dafür geschämt habe“, sagt Joel. „Jetzt überwältigt es mich, wie v…
Unterstützung ich bekomme. Diese Gemeinschaft will ich nicht verlieren.“
3 Jul 2024
## LINKS
[1] /Chancenaufenthaltsrecht-fuer-Geduldete/!5885980
[2] https://innn.it/joel-bleibt-hier
## AUTOREN
Marta Ahmedov
## TAGS
Hamburg
Abschiebung
Migration
Aufenthaltsrecht
Bleiberecht
Integration
Hamburg
Abschiebung Minderjähriger
Abschiebung
Abschiebung
Hamburg
IG
Aufenthaltsrecht
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schüler:innen-Protest gegen Abschiebung: Klasse 5c gegen das System
Der 12-jährigen Chanelia aus Hamburg droht die Abschiebung. Ihre
Mitschüler:innen kämpfen mit ihrer Klassenlehrerin dafür, dass sie
bleiben darf.
Schüler über seine drohende Abschiebung: „Erst mal hatte ich Angst“
Joel A. sollte abgeschoben werden. Eine Kampagne für sein Bleiberecht
konnte das abwenden. Aber dadurch geriet er auch in den Blick von Rechten.
Hamburger Härtefallkommission: Zu viele Abschiebungen abgenickt
Die Hamburger Härtefallkommission kann Abschiebungen verhindern. Das tut
sie viel zu selten, denn sie ist selektiver aufgestellt als überall sonst.
Hamburger Schüler darf bleiben: Abitur statt Abschiebung
Joel A. sollte trotz mustergültiger Integration abgeschoben werden, wegen
einer Gesetzesänderung. Seine Schule setzte sich für ihn ein – erfolgreich.
Kooperation führt zu Abschiebung: „Schockierend und absurd“
Ende Juni hat die Stadt Hannover einen bestens integrierten Geflüchteten an
die Elfenbeinküste abgeschoben. Seine Kooperation wurde ihm zum Verhängnis.
Abschiebe-Monitoring am Airport: So krass schiebt Hamburg ab
Die Abschiebebeobachterin am Flughafen Hamburg hat ihren Jahresbericht
veröffentlicht. Der ist schwer erträglich. Aber es ist gut, dass es ihn
gibt.
Verschärfung der Migrationspolitik: Mehr Härte bei Abschiebungen
Die Regierung will verschärfte Abschieberegeln beschließen. Schon jetzt
wird mehr abgeschoben als im letzten Jahr – sogar nach Russland.
Chancenaufenthaltsrecht für Geduldete: „An der Realität vorbei“
Die Ampel will Geduldeten eine Perspektive geben. Der Gesetzentwurf sei zu
lückenhaft, kritisiert Johanna Böhm vom Bayerischen Flüchtlingsrat.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.