# taz.de -- Medizinische Versorgung im Gazastreifen: Albtraum Geburtstermin | |
> Im Gazastreifen gebären im Schnitt 180 Frauen pro Tag. | |
> Hilfsorganisationen berichten von zerstörten Kreißsälen und | |
> untergewichtigen Neugeborenen. | |
Bild: Im von der IDF zerstörten Nasser-Krankenhaus in Chan Junis wurde der … | |
Kairo taz | Als bei Nour Hana aus Gaza-Stadt die Wehen einsetzten, machte | |
sie sich auf den Weg ins Krankenhaus. „Ich fuhr zusammen mit meiner Mutter | |
auf einem Pferdekarren los. Es war nachts, wir hatten Angst. Ich schloss | |
die Augen, denn ich wollte all die zerstörten Gebäude um uns herum nicht | |
sehen. Streunende Hunde griffen uns an“, erinnert Nour Hana sich. Ihr | |
Bruder und ihr Mann waren zuvor bei einem israelischen Luftangriff ums | |
Leben gekommen. | |
„Ich konnte die ganze Zeit an nichts anderes denken als an die Kinder, die | |
ich zu Hause zurücklassen musste“, erinnert sie sich an jene Nacht zurück. | |
Denn die israelische Armee hatten gerade gewarnt, dass ein Ort in der Nähe | |
der Schule, in der sie mit ihren Kindern untergebracht war, evakuiert | |
werden müsse, weil sie dort angreifen wollte. | |
Hanas Odyssee in das Krankenhaus ist kein Einzelfall. „Viele Frauen gebären | |
auf dem Weg zur Klinik, weil es so kompliziert ist, sich von einem Ort zum | |
anderen zu bewegen. Manche [1][bringen ihre Babys] in Zelten oder auf der | |
Straße zur Welt“, berichtet Nour Beydoun, die vom jordanischen Amman aus | |
die Hilfsorganisation Care in Fragen berät, die Frauen in Notsituationen im | |
Gazastreifen betreffen. Manche schlügen aus diesem Grund schon vor der | |
Geburt ihre Zelte vor den Krankenhäusern auf, berichtet sie im Gespräch mit | |
der taz. | |
## Wenige Krankenhäuser, völlig überlastet | |
Eine Geburt ist normalerweise ein freudiges Ereignis. Die Familie und die | |
Eltern kommen zusammen, machen Fotos vom Neugeborenen. Zu Hause wurde alles | |
sauber gemacht, um der Mutter und dem Baby eine sichere Umgebung zu | |
gewährleisten. Ganz anders im Gazastreifen, wo aktuell schätzungsweise | |
50.000 Frauen schwanger sind. Gab es vor dem Krieg noch 35 größere und | |
kleinere Krankenhäuser, stehen jetzt nur noch 16 vollkommen überlastete | |
Kliniken zu Verfügung. | |
Der [2][Albtraum endet nicht mit dem Weg ins Krankenhaus]. „Es mangelt an | |
allem in den wenigen noch funktionierenden Krankenhäusern: an Medizin, | |
Maschinen, aber auch an spezialisiertem Personal“, zählt Beydoun auf. | |
Auch Narkosemittel fehlten. „Das führt dazu, dass manche Kaiserschnitte | |
ohne Narkose durchgeführt werden müssen“, sagt sie. | |
Dazu komme, dass viele Geburten von Komplikationen begleitet seien. „Wir | |
haben im Gazastreifen durchschnittlich 180 Geburten pro Tag. 15 Prozent | |
davon gehen mit Komplikationen einher, die zusätzliche medizinische | |
Unterstützung brauchen. Die medizinischen Teams vor Ort schätzen, dass sich | |
die Zahl der Fehl- und Totgeburten seit dem 7. Oktober verfünffacht hat“, | |
versucht Beydoun die Dimension zu erklären. | |
## Schlecht ernährte Mütter, entwicklungsverzögerte Babys | |
Oft sei der Grund dafür, dass die werdenden Mütter unterernährt seien. „Der | |
Ernährungsstatus vieler der Frauen ist unglaublich schlecht. Sie haben | |
nicht genug Nährstoffe wie Eisen, Calcium und Zink.“ Das könne zu Fehl- und | |
Totgeburten, auch zu untergewichtigen Neugeborenen und zu Verzögerungen bei | |
deren Entwicklung führen. | |
Das bestätigt auch Joanne Perry von Ärzte ohne Grenzen, die in den letzten | |
Wochen mitgeholfen hat, in dem zuvor [3][von der israelischen Armee | |
vollkommen zerstörten Nasser-Krankenhaus] in Chan Junis wieder einen | |
Kreißsaal aufzubauen. Dort entbinden jetzt wieder bis zu 30 Frauen am Tag. | |
„In unserem neuen Kreißsaal erleben wir zahlreiche Frühgeburten und sehen | |
viele untergewichtige Neugeborene“, berichtet sie per Sprachnachricht. | |
Die Kommunikation nach Chan Yunis ist schwierig, und sie hat neben ihrer | |
Arbeit nur wenig Zeit. Viele der Mütter seien anämisch, hätten also zu | |
wenig rote Blutkörperchen oder zu wenig roten Blutfarbstoff. Das sei ein | |
direktes Ergebnis ihrer Lebensbedingungen im Krieg und ihrer mangelhaften | |
Ernährung, führt sie weiter aus. | |
## Unsicherheit als ständiger Begleiter | |
Doch selbst wenn unter der Geburt alles gut läuft und Mutter und Kind | |
wohlauf sind, bleibt die Angst, was geschieht, wenn die Mütter mit ihren | |
Neugeboren meist schon nach zwei bis drei Stunden die Klinik wieder | |
verlassen müssen, um anderen Platz zu machen. Die Unsicherheit im Kreißsaal | |
wird dann quasi ersetzt durch die Unsicherheit des Lebens im Krieg. | |
„Wenn man die Explosionen in der Nähe hört, haben die Mütter der | |
Neugeborenen sofort alles Mögliche im Kopf: Es könnte mehr Angriffe geben. | |
Ihr Baby oder sie selbst könnten zu Schaden kommen. Der Familie könnte | |
etwas zustoßen, ihr Haus könnte jederzeit zum Ziel werden“, berichtete Alaa | |
Balur der Nachrichtenagentur Reuters von ihren eigenen Ängsten, kurz | |
nachdem sie ein Baby zur Welt gebracht hatte. | |
## Leben in Zelten und immer in Angst | |
Wer in ein Haus zurückkehren kann, hat noch Glück. „Die Mehrheit der | |
Bevölkerung lebt heute in Zelten, nachdem 70 Prozent der Gebäude im | |
Gazastreifen zerstört oder beschädigt sind“, sagt Joanne Perry von Ärzte | |
ohne Grenzen. Die meisten Mütter gehen zurück in ihre Zelte und schlafen | |
mit ihren Neugeborenen auf der Erde – [4][eine Umgebung, die weder steril | |
noch sicher ist]. Hinzu kommt immer die Angst, dass ihre Gegend zur | |
Kampfzone erklärt wird und sie von einem Moment zum nächsten ihr Zelt | |
verlassen müssen. | |
Aber in all der Not gibt es auch glückliche Momente. Nachdem der Kreißsaal | |
im Nasser-Krankenhaus wieder aufgebaut war, kam das erste Baby durch einen | |
Kaiserschnitt zur Welt. „Den Mitarbeitern kamen die Tränen“, erzählt Perr… | |
Das Neugeborene war ein Symbol, dass sie es geschafft haben, den Kreißsaal | |
wieder funktionstüchtig zu machen. „Neben all dieser Zerstörung, die wir | |
erleben“, sagt Perry, „war das der Beweis, dass das Leben weitergeht.“ | |
14 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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