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# taz.de -- Kinder im Gazastreifen: Lernen in Trümmern
> Israel zerstöre das palästinensische Bildungswesen systematisch, mahnen
> UN-Vertreter. Derweil wird in Gaza unter freiem Himmel unterrichtet.
Bild: Schulbesuch im Gazastreifen: Muhammad und Abed auf ihrem Schulgelände in…
Kairo/Chan Junis taz | Muhammad und Abed streifen durch ihre alte Schule in
Chan Junis im südlichen Gazastreifen, oder besser gesagt: durch das, was
von ihr übrig ist. Der Schulhof ist übersät mit Gebäudetrümmern, die
Fensterseite zu ihrem Klassenzimmer ist durch die Druckwelle einer
Explosion weggebrochen und gibt den Blick frei auf den Rest des zerstörten
Schulgebäudes. Die beiden Freunde heben alte Schulmaterialien aus dem
Schutt.
„Ich war der Klassenbeste“, sagt der zehnjährige Muhammad al-Fadschem und
schlägt vor, man könne den Unterricht doch in Zelten weiterführen. So gerne
würde er mit der Schule weitermachen. Aber wie zuvor wird es wohl nie
wieder werden: „Ich habe Freunde, die im Krieg gestorben sind“, sagt er,
„Bassem, Muhammad und Abdallah. Sie waren oft bei uns zu Hause, wir sind
jeden Tag zusammen zur Schule gegangen.“
Die beschriebenen Szenen aus Chan Junis stammen von der Nachrichtenagentur
Reuters. Laut palästinensischem Bildungsministerium sind fast 5.500
Schülerinnen und Schüler und mehr als 260 Lehrerinnen und Lehrer bei der
israelischen Offensive im Gazastreifen umgekommen, die nach dem [1][7.
Oktober und der Geiselnahme der Hamas] begann.
Seit mehr als sechs Monaten haben die 625.000 Schulkinder in Gaza keine
Schule mehr besucht. „Es gibt im Moment absolut keine Form von Ausbildung
und Schule im Gazastreifen“, sagt Jonathan Crick, Sprecher des
Kinderhilfswerks Unicef in Jerusalem. UN-Experten prangern inzwischen eine
„systematische Vernichtung des Bildungswesens“ in Gaza an, wie es in einer
im April veröffentlichten [2][Erklärung] heißt.
„Es ist vertretbar zu fragen, ob hier eine Absicht vorliegt, das
palästinensische Bildungssystem umfassend zu zerstören, etwas, das als
‚Scholastizid‘ bekannt ist“, steht dort weiter. Der Begriff beziehe sich
auf die „systematische Vernichtung der Bildung durch Verhaftungen, dem
Töten von Schülern und Lehrern und anderen Bildungsmitarbeitern und der
Zerstörung der Bildungsinfrastruktur“.
Auch Inger Ashing, Generaldirektorin von Save the Children, sowie Jan
Egeland, Chef der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council, warnen in
einer gemeinsamen [3][Erklärung] vor den Folgen dieser Zerstörung.
[4][Diese werde dauerhafte Auswirkungen auf eine ganze Generation haben].
Selbst wenn die Waffen schweigen würden, werde es keine Schulen geben, zu
denen die Kinder zurückkehren können, schreiben sie. „Wir wissen aus
vorherigen Krisen: Je länger die Kinder der Schule fernbleiben, desto
größer ist das Risiko, dass sie nie wieder zurückkehren.“
Zu Hause im Container
Das ist einer der Gründe für eine neue Initiative in Chan Junis, nicht weit
entfernt von der zerstörten Schule von Muhammad und Abed. Unter freiem
Himmel haben sich gut 50 Kinder und einige Lehrkräfte versammelt. Auf dem
Boden sitzend lesen die Kinder eine Kurzgeschichte von einem an eine
Hauswand gehängten Plakat. Ihr Enthusiasmus macht sich schon an der
Lautstärke fest.
„Wir haben damit begonnen, um den Kindern mit ihren Ängsten und den
Bombardierungen auch etwas psychologische Abhilfe zu verschaffen“, erklärt
der Lehrer Muhammad Kudari. „Wir versuchen, richtige Unterrichtsszenen zu
imitieren. Sie lernen arabische Gedichte, rezitieren Literatur, haben
Englisch- und Mathe-Unterricht.“ Es sei der Versuch, die Schülerinnen und
Schüler wieder dort abzuholen, wo sie sind, und zu verhindern, dass sie
sich noch weiter von ihrer Schulbildung entfernen. „Aber das ist natürlich
kein Ersatz für wirkliche Schule“, gibt er zu. Dann verteilt er ein Dutzend
Hefte, viel zu wenige für die anwesenden Kinder. Viele der ausgestreckten
Kinderhände bleiben leer.
Die Drittklässlerin Iman Ahmad hat Glück gehabt und geht mit einem Heft
nach Hause, beziehungsweise zu dem Container, in der ihre Familie lebt,
seit sie aus Gaza-Stadt vor den israelischen Angriffen geflohen ist. Dort
verbringt sie den Tag mit ihren Geschwistern. Aber auch hier ist es nicht
sicher. „Vor dem Krieg bin ich jeden Morgen aufgewacht, habe gefrühstückt
und meine Schuluniform angezogen. Jetzt wache ich auf, wenn ich die
Explosionen höre. Aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt“, erzählt
sie.
Ibtisam al-Ramlawi, Imans Mutter, ist besorgt, wie es mit der Bildung ihrer
vier Töchter weitergeht. Wenn ihre Töchter von zu Hause sprächen, dann
ginge es meist um die Schule, in die sie mit ihren Freunden gegangen sind.
„Ich habe Angst, dass meine Kinder abdriften, weil sie keinen Unterricht
mehr haben. Wir haben versucht, das so gut es geht mit Lehrbüchern
auszugleichen. Ich habe so hart daran gearbeitet, dass meine Kinder eine
vernünftige Bildung haben. Als Mutter ist das für mich furchtbar“, fasst
sie ihre Gefühlslage zusammen.
Immerhin, die neue Initiative gibt auch ihrer Tochter ein wenig Hoffnung.
„Es erinnert mich an die Zeit mit meinen Freunden in der Schule. Es ist ein
wundervolles Gefühl, dass ich in den letzten Monaten des Krieges vergessen
habe“, sagt sie.
Am Ende des improvisierten Schultags umringen die Kinder den Lehrer
Muhammad Kudari, der den Kindern ein rotes Herz auf die Backen stempelt –
eine Bestätigung dafür, dass sie da gewesen sind. Aber eigentlich viel
mehr: eine kleine Erinnerung daran, dass für kurze Zeit wieder ein wenig
Normalität in das Leben der Kinder eingezogen ist.
Anmerkung: Dieser Text basiert in Teilen auf Material eines vom Autor in
Chan Junis beauftragten Kameramanns.
29 Apr 2024
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
[2] https://news.un.org/en/story/2024/04/1148716
[3] https://reliefweb.int/report/occupied-palestinian-territory/education-under…
[4] /Alltag-in-Gaza/!6003824
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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