| # taz.de -- Ideologie-Vorwurf in der Debattenkultur: Alles ist ideologisch | |
| > In Debatten wird häufig nur den Argumenten unterstellt, ideologisch zu | |
| > sein, die sich für staatliche Eingriffe einsetzen. Eine Sprachkritik. | |
| Bild: Söders alter Hut | |
| Ideologiefrei! Wann immer Politiker*innen sich als vernünftig und | |
| anpackend darstellen wollen, greifen sie zu diesem Begriff. Freiheit von | |
| Ideologie, das vermittelt eine pragmatische Haltung, die nicht an Utopien, | |
| nicht an Wünschen und Idealen hängt, sondern Situationen annimmt, wie sie | |
| sind und Lösungen sucht. Die Deutschen lieben diese Eigenschaft an | |
| Politiker*innen, nicht umsonst trauern noch heute viele dem Altkanzler | |
| Helmut Schmidt nach, der Menschen mit Visionen geraten haben soll, zum Arzt | |
| zu gehen. | |
| So sinnvoll eine lösungsorientierte und pragmatische Herangehensweise sein | |
| kann, so deutlich muss jedoch gesagt sein: Frei von Ideologie ist sie nie. | |
| Erst vor wenigen Wochen verkündete der bayerische Ministerpräsident Markus | |
| Söder auf X (früher Twitter): „Gute Wirtschaftspolitik muss bodenständig, | |
| praktisch, berechenbar und ideologiefrei sein.“ | |
| Nur um im nächsten Satz seine Ideologie auszubreiten: „Wir brauchen eine | |
| grundsätzliche Wende mit niedrigeren Steuern, günstigeren Energiepreisen | |
| und einem schlanken Staat.“ Zwar wird niemand etwas gegen günstige | |
| Energiepreise einzuwenden haben, hinter der Forderung nach niedrigeren | |
| Steuern und einem „schlanken Staat“ steht allerdings eindeutig eine | |
| Ideologie: der Neoliberalismus. | |
| Dass sich Söder aber im Brustton der Überzeugung als ideologiefrei | |
| bezeichnet, liegt auch an dem, was wir als Sprache des Kapitalismus | |
| bezeichnen. In der Sprache des Kapitalismus sind ökonomische Krisen | |
| „Tsunamis“, hohe Inflationsraten „Preisexplosionen“, ein Staat in | |
| wirtschaftlicher Schieflage ist ein „kranker Mann“ und der Markt ein wildes | |
| Biest, das „beruhigt“ werden muss. | |
| All diese Metaphern entfernen den menschlichen Faktor und folgen dem | |
| gleichen Ziel: den Kapitalismus als den natürlichen [1][Zustand der | |
| Wirtschaft] erscheinen zu lassen, der von menschlichem Verhalten | |
| unbeeinflusst funktioniert. Nur in dieser Denkweise kann eine | |
| Wirtschaftskrise über uns hereinbrechen wie ein Tsunami, den niemand | |
| verhindern kann. Wer in solche Prozesse eingreift, manipuliert in dieser | |
| Logik ein natürliches System, er vertraut nicht dem Naturzustand, sondern | |
| will seine Vorstellungen durchsetzen – er folgt einer Ideologie. | |
| ## In bestimmten Fällen ist ein fetter Staat ok | |
| Wie falsch diese Betrachtung und Söders Logik in Wahrheit sind, ließ sich | |
| in den vergangenen Jahren beobachten, als die Energiepreise im Zuge des | |
| russischen Angriffs auf die Ukraine stark erhöht wurden. In dieser | |
| Ausnahmesituation war es sogar mit einer marktliberalen Partei in der | |
| Regierung möglich, Preise staatlich zu deckeln. Der Staat war alles andere | |
| als „schlank“ und sorgte für bezahlbare Energie. War dabei Ideologie im | |
| Spiel? Auf jeden Fall. Dass die gegenteilige Vorgehensweise, also möglichst | |
| wenige staatliche Eingriffe, ebenso ideologisch ist, lässt sich an einem | |
| anderen Beispiel darlegen. | |
| Denken wir zurück an die Berliner Debatten über die Enteignung der | |
| Immobiliengesellschaft Deutsche Wohnen – eine Maßnahme, für die es eine | |
| überzeugende demokratische Mehrheit gab. Die frühere Oberbürgermeisterin | |
| Franziska Giffey (SPD) gestand, dass sie Enteignungen nicht mit ihrem | |
| Gewissen vereinbaren könne, und die FDP hielt lapidar fest: [2][„Enteignung | |
| baut keine Wohnungen.“] Enteignungen, die zugunsten von Tagebauunternehmen | |
| oder dem Ausbau des deutschen Autobahnnetzes getätigt werden, kommen in der | |
| Öffentlichkeit hingegen kaum vor. | |
| Nicht nur das zeigt, dass die Debatte darum, ob man den Immobiliengiganten | |
| enteignen sollte, von beiden Seiten eine zutiefst ideologische ist. | |
| Schließlich scheinen Eingriffe in Form von Enteignungen für ein und | |
| dieselben Parteien in manchen Fällen gerechtfertigt zu sein, in anderen | |
| nicht. | |
| Wie in vielen wirtschaftspolitischen Fragen gibt es auch bei dieser | |
| Problemlage mehrere Wege zu einem Ziel, auf das sich alle Parteien einigen | |
| können: günstigere Mieten. Lediglich die Forderungen, mit welchen Mitteln | |
| das Ziel erreicht werden soll, stehen zur Diskussion. Und die Präferenz, | |
| welches Instrument unterstützt wird, hängt von der jeweiligen ideologischen | |
| Überzeugung davon ab, wie unsere Wirtschaft funktioniert. | |
| ## Das falsche Bild von der Schuldenbremse | |
| Um das an einem weiteren Beispiel zu verdeutlichen, reicht ein Blick auf | |
| die deutsche Schuldenquote. Diese beträgt aktuell circa 65 Prozent des BIP | |
| und ist damit die mit Abstand niedrigste unter den G7-Nationen (alle | |
| anderen Staaten haben eine Schuldenquote von über 100 Prozent, Stand 2022). | |
| Und doch herrscht hierzulande ein erbitterter Streit über die Bedeutung der | |
| Staatsverschuldung, der insbesondere von der FDP mit äußerst ideologischer, | |
| kapitalistischer Sprache geführt wird: Eine Schuldenbremse entwirft | |
| Vorstellungen von einer rasenden Fahrt in den fiskalischen Abgrund, die nur | |
| durch eine Bremse noch gestoppt werden kann. | |
| Dass wir aber in solchen wirtschaftspolitischen Debatten häufig nur den | |
| Argumenten unterstellen, ideologisch zu sein, die sich für staatliche | |
| Eingriffe, in diesem Fall für Schulden, einsetzen, liegt in der Sprache des | |
| Kapitalismus begründet, die nicht nur den Kapitalismus als Naturzustand der | |
| Wirtschaft darstellt, sondern auch Verantwortung verschleiert und | |
| Handlungsmacht leugnet. Es wird also Zeit, dass in Wirtschaftsfragen nicht | |
| mehr eine vermeintlich ideologisch verblendete Linke rationalen Liberalen | |
| gegenübergestellt wird. | |
| ## Kapitalismus ist kein Naturgesetz | |
| Dass es in ökonomischen Fragestellungen keine unumstößlichen Fakten und | |
| keine Ideologiefreiheit gibt, bedeutet jedoch nicht, dass Argumente | |
| unwichtig sind. Aber es ist wichtig, auch sprachlich zu markieren, dass | |
| wirtschaftliche Zusammenhänge eben nicht nach feststehenden Naturgesetzen | |
| funktionieren. Anders als bei der Entwicklung von Medikamenten oder der | |
| Konstruktion technischer Geräte, lässt sich die Wirkung | |
| wirtschaftspolitischer Maßnahmen im Vorhinein nicht im Labor testen. | |
| Wenn wir als Gesellschaft anfangen, die ideologischen Haltungen jeder Seite | |
| klar zu benennen, kann das ein erster Schritt zu einem sinnvollen und | |
| zielführenden Diskurs sein. | |
| 29 May 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simon Sahner | |
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