| # taz.de -- Palästinenser in Deutschland: An der Seitenlinie | |
| > Viele Palästinenser in Deutschland haben Angehörige in Gaza verloren. Mit | |
| > ihrer Trauer fühlen sie sich seit Monaten allein. | |
| Berlin und Dortmund taz | Ihren ersten Tweet [1][schrieb] Iman Abu | |
| El-Qomsan Ende Oktober. „Ich habe heute bei der Bombardierung von #Jabalia | |
| in Gaza 19 Familienmitglieder auf einen Schlag verloren, insgesamt sind | |
| mehr als 60 Mitglieder meiner Familie durch israelische Bomben getötet | |
| worden. Warum wird unser Leid in Deutschland ignoriert?“ Tausende | |
| reagierten auf den Tweet, die meisten mit Mitgefühl. Manche zweifelten aber | |
| auch an ihrer Aussage, wunderten sich über die große Zahl oder machten die | |
| Hamas für den Tod ihrer Verwandten verantwortlich. | |
| Die große Zahl ihrer Angehörigen lasse sich leicht erklären, sagt die | |
| zierliche 26-Jährige bei einem Treffen in einem orientalisch-modern | |
| eingerichteten Frühstückscafé in der Dortmunder Innenstadt. | |
| „Palästinensische Familien sind nun mal so groß.“ Ihr Vater habe neun | |
| Geschwister, ihre Mutter fünf. Wenn sie deren Kinder und Enkelkinder | |
| mitzähle, dann komme sie schnell auf mehrere Hundert Angehörige, außerdem | |
| zähle man die Großcousins mit. | |
| In den deutschen Medien habe man nichts über den Vorfall erfahren können. | |
| „Das war für mich der Punkt zu sagen: Du musst das jetzt öffentlich | |
| machen.“ Seitdem postet Iman Abu El-Qomsan regelmäßig auf dem | |
| Twitternachfolger X, Journalisten wurden dadurch auf sie aufmerksam. Der | |
| [2][Stern] und die [3][Süddeutsche Zeitung] haben sie porträtiert. Sie | |
| erhält aber auch viel Hasspost. Auf ihrem Handy zeigt Imam Abu al-Qomsan | |
| gespeicherte Screenshots. Es sind viele grob sexistische und rassistische | |
| Kommentare darunter. Manche davon gibt sie an eine Meldestelle gegen Hetze | |
| im Netz weiter. | |
| Iman Abu El-Qomsan studiert in Münster Chemie-Ingenieurwesen, sie ist in | |
| Deutschland aufgewachsen. Ihre Eltern stammen aus dem Gazastreifen. In den | |
| 1990er Jahren zog der Vater für sein Medizinstudium nach Deutschland, heute | |
| betreibt er als Unfallchirurg und Orthopäde eine Praxis im Ruhrgebiet. | |
| Imans Mutter, die später zu ihm nach Deutschland zog, ist dort fürs | |
| Kaufmännische zuständig. Sie wuchs im Flüchtlingslager Jabalia im Norden | |
| des Gazastreifens auf, der Großvater hatte dort einst ein Haus für die | |
| Familie gebaut. Die Mutter habe es sofort wiedererkannt, als sie die | |
| Trümmer im Fernsehen sah. Unter den Opfern seien Onkel und Tanten von ihr. | |
| Ende November kam es noch schlimmer. Die israelische Armee bombardierte im | |
| Zentrum des Gazastreifens das Haus, in dem die älteste Schwester des Vaters | |
| lebte. Imans Tante Suheila liegt bis heute unter den Trümmern begraben, nur | |
| ein Cousin überlebte schwerverletzt. Das wurde von Al-Jazeera praktisch | |
| live übertragen, ihr Vater rief sie deswegen an. | |
| Anfangs hatte er noch Hoffnung, seine Schwester könnte überlebt haben, bald | |
| aber nicht mehr. „Ich habe meinen Vater noch nie weinen sehen“, sagt Iman | |
| Abu El-Qomsan. „Aber an dem Tag hat er geweint.“ Der Cousin fahre immer | |
| wieder zu den Ruinen seines Hauses, doch die Leiche seiner Mutter konnte | |
| noch nicht geborgen werden. „Ich wäre beruhigter, wenn sie begraben werden | |
| könnte“, sagt Iman Abu El-Qomsan. „Das tut weh.“ Sie spricht leise und | |
| gefasst, aber knetet ihre Hände dabei. „Wir haben keine Zeit, das zu | |
| verarbeiten“, sagt sie. „Ständig stirbt jemand. Ich weiß nicht, wie man d… | |
| verkraften soll.“ Auch ihre Eltern verdrängen sehr viel, glaubt sie. | |
| „Irgendwie muss man funktionieren.“ Sie trinkt nur ein Glas Wasser, während | |
| sie erzählt. Ihre jüngeren Geschwister seien verwirrt, die meisten Lehrer | |
| wüssten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. | |
| Das letzte Mal war Iman Abu El-Qomsan vor neun Jahren mit ihrer Familie in | |
| Gaza, sechs Wochen in den Sommerferien. Die Hälfte der Zeit waren sie in | |
| Jabalia, die andere Hälfte in Al-Rimal, einem Stadtteil in Gaza-Stadt. | |
| Damals war sie 16 Jahre alt, sie hat schöne Erinnerungen daran: „Das Meer, | |
| die Menschen, das Essen, die Gemeinschaft.“ Fortwährend sei man herzlich | |
| eingeladen worden, sagt sie. Es gab Musakhan, ein Brathähnchen im | |
| Fladenbrot, und zum Nachtisch Erdbeeren aus Beit Lahia im Norden. „Dort gab | |
| es Ferienhäuser am Strand und Hotels mit Schwimmbad und Sauna“, erinnert | |
| sich Iman Abu El-Qomsan. Öfters ging man auch zu Kazem, dem bekanntesten | |
| Eisladen von Gaza, über den sogar einmal die BBC berichtete. | |
| Im vergangenen Sommer wäre sie gerne wieder hingefahren. „Aber da ging es | |
| nicht, wegen Klausuren“, sagt sie. Nun wird es nie wieder so sein wie | |
| vorher. „Gaza war schön“, sagt sie. „Die Menschen haben das Beste daraus | |
| gemacht.“ | |
| Ihre Mutter und ihre Geschwister haben Imans Großmutter das letzte Mal in | |
| den Sommerferien in Jordanien getroffen. Beide Großeltern sind noch im | |
| Gazastreifen. Ihr Großvater leitete in Gaza-Stadt einst eine Schule, er war | |
| Geschichtslehrer. Heute lebt er am Strand, nachdem er zwischenzeitlich mit | |
| 15 anderen Menschen in einem Haus Zuflucht gefunden hatte. Ihre Großmutter | |
| ist in einer Moschee in Dar El-Balad untergekommen. Mühsam hält die Familie | |
| in Deutschland den Kontakt zu ihnen aufrecht und überweist Geld, wenn es | |
| geht. | |
| Einen Tag nach dem Gespräch [4][postet] Iman Abu al-Qomsan auf X das Bild | |
| eines toten Kleinkinds. Ihr zweijähriger Großcousin Khaled Hijazi sei an | |
| Unterernährung gestorben, schreibt sie dazu. Israel verzögere die Einfuhr | |
| von Lebensmitteln und greife jene an, die auf Lebensmitteltrucks warteten. | |
| Am Montag vor einer Woche schreibt sie: „Ich mache mir Sorgen. Sorgen um | |
| meine Familie, die von Israel in die Safe Zone Rafah zwangsumgesiedelt | |
| wurde, dort ständigen Bombardements ausgesetzt war und jetzt zum vierten | |
| Mal innerhalb von sieben Monaten vertrieben wird. Nichts rechtfertigt dies. | |
| Nichts.“ | |
| Deutschland blickt auf eine lange Geschichte palästinensischer Einwanderung | |
| zurück. Rund 200.000 Menschen palästinensischer Herkunft leben in der | |
| Bundesrepublik – ungefähr ein Fünftel von ihnen in Berlin. Eine belastbare | |
| Statistik gibt es nicht, denn viele von ihnen sind staatenlos oder Bürger | |
| eines Landes, in das sie oder ihre Vorfahren geflohen sind – des Libanons, | |
| Jordaniens oder Ägyptens, zum Beispiel. Die ersten Palästinenserinnen und | |
| Palästinenser kamen in den 60er Jahren nach Deutschland, zum Studium oder | |
| zur Arbeit. In den 1970er Jahre flohen viele vor dem libanesischen | |
| Bürgerkrieg. Mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs flohen zuletzt | |
| viele Menschen aus den palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien nach | |
| Deutschland. | |
| Die vielfältige Geschichte der palästinensischen Einwanderung nach | |
| Deutschland sei hierzulande weitgehend unbekannt, [5][schrieb] der Berliner | |
| Historiker Joseph Ben Prestel kürzlich in der neuen Zeitschrift „Berlin | |
| Review“. Zwar sei Deutschland das Land mit der größten palästinensischen | |
| Diaspora in Europa. Doch von der deutschen Politik werde diese | |
| hauptsächlich als Sicherheits- oder Integrationsproblem angesehen, und in | |
| den Medien käme sie kaum vor. Noch schärfer hat das die | |
| Sozialwissenschaftlerin Sarah al-Bulbeisi in der [6][taz] formuliert: Ihre | |
| Geschichte werde negiert, ihre Gewalterfahrung würde ausgeblendet, ihre | |
| Anliegen ignoriert. | |
| Hatem Safadi empfängt in seinem Büro, von dem er auf den Berliner | |
| Kurfürstendamm blicken kann. Der 56-Jährige trägt einen eleganten Anzug und | |
| einen Henryquatre. In den sparsam eingerichteten Räumen mit | |
| Fischgrätparkett hängen neben modernen Gemälden die Auszeichnungen für | |
| seine Arbeit an den Wänden. Safadi ist Ingenieur und Architekt. Er hat sich | |
| als Bauunternehmer darauf spezialisiert, denkmalgeschützte Altbauten in | |
| Berlin und Potsdam zu sanieren und zu modernisieren, seine Firma hat über | |
| 90 Mitarbeiter. Vor fast dreißig Jahren kam er aus Gaza, seinem Geburtsort, | |
| nach Berlin, um an der Technischen Universität in Berlin zu studieren. „Ich | |
| komme aus einer angesehenen Familie“, sagt er. | |
| Seit 2005 ist er nicht mehr in Gaza gewesen. Die Reise dorthin sei immer | |
| „zu kompliziert“ gewesen, sagt er, die Ausreise für seine Angehörigen nun | |
| ebenfalls. „Ende Oktober wollte ich mit meinen beiden Kindern hin, stell | |
| dir das vor“, sagt er fast ungläubig. Für seinen Sohn wäre es die erste | |
| Reise nach Gaza gewesen, seine erwachsene Tochter war einmal als kleines | |
| Mädchen dort. Doch jetzt sei es zu spät. | |
| Der Erste aus seiner Familie, der zu Beginn des Krieges getötet wurde, sei | |
| sein Neffe gewesen, ein beliebter und talentierter Doktorand: „Ich habe die | |
| Auszeichnung gesehen, die ihm der Professor geschrieben hat“, sagt Safadi. | |
| Ende Oktober starb auch seine Mutter. Ihr Tod schmerze ihn am meisten, sagt | |
| er. Auf Instagram schrieb er ihr einen Abschiedsbrief: „Du hast mich | |
| verlassen und mein Herz mitgenommen.“ | |
| Insgesamt 75 Mitglieder seiner großen Familie hat er verloren, viele von | |
| ihnen auf einen Schlag. Sein Bruder, dessen Frau und ihre sieben Kinder | |
| starben bei einem Luftangriff auf ihr Haus. Auch der Mann seiner Schwester | |
| und einige ihrer Kinder sowie ein Cousin wurden durch Bomben des | |
| israelischen Militärs getötet. „Seine Sonne“ sei der Cousin gewesen, sagt | |
| Safadi. Nach dem 7. Oktober habe er jeden Tag mit seinem Cousin | |
| telefoniert, wenn es der Empfang in Gaza erlaubte. Er habe ihm immer auf | |
| den neuesten Stand gebracht, wie es den vielen Verwandten in Gaza gehe – | |
| bis die Leitung still blieb. „Für mich ist er nicht gestorben“, sagt | |
| Safadi. In seiner Erinnerung bleibe er lebendig. | |
| Der größte Teil seiner Familie sei im Norden des Gazastreifens geblieben | |
| und nicht nach Rafah geflohen, erzählt er, obwohl die israelische Armee im | |
| Laufe ihrer Offensive immer wieder dazu aufgefordert hatte, sich dorthin zu | |
| begeben. „Unsere Familie ist in ihren Häusern geblieben.“ Das sei besser, | |
| als in den Süden zu flüchten, glaubt er. Doch im Norden sind die | |
| Nahrungsmittel inzwischen sehr knapp. Das Gebiet ist durch einen von Israel | |
| kontrollierten Korridor vom Süden des Gazastreifens abgeschnitten, die | |
| Grenze nach Israel im Norden ist dicht, Hilfslieferungen kommen dort kaum | |
| an. Vor dem Krieg war die Familie begütert: Sie besaß mehrere Häuser und | |
| einen Hain mit Bäumen, erzählt er. Mittlerweile sei alles zerstört, und | |
| seine Familie könne sich kaum noch etwas zu essen leisten, sagt Safadi. | |
| Während des Gesprächs zeigt er immer wieder Bilder auf seinem Handy. Auf | |
| einem Foto ist ein Mann zu sehen, der sein Kind in die Luft hält. Dem Mann | |
| fehlt ein Bein, er stützt sich auf eine Krücke, dem Kind fehlen beide Beine | |
| und ein Arm. Das Bild stamme aus Gaza, sagt Safadi. „Grausam.“ Er selbst | |
| teilt auf seinem Instagram-Account fast täglich, was ihn bewegt: Bilder von | |
| ausgemergelten und toten Kindern, Karikaturen, die Benjamin Netanjahu als | |
| Kannibalen zeigen, den Abschiedsbrief an seine Mutter. | |
| Er müsse irgendwas tun, sagt er. Statt zum Sport zu gehen oder nachts zu | |
| schlafen sitzt er oft am Handy und vor dem Fernseher und betrachtet Bilder | |
| und Videos von Explosionen, Zerstörung und Tod. Der TV-Sender Al-Jazeera | |
| ist sein täglicher Begleiter. Freunde schicken ihm Listen mit Namen von | |
| Verstorbenen. Auf einem sind Hunderte getötete Universitätsangestellte in | |
| Gaza aufgelistet. In den sozialen Medien sind Bilder, die schwer verletzte | |
| oder tote Menschen zeigen, oft verpixelt oder so dargestellt, dass sie erst | |
| angetippt werden müssen, bevor man sie vollständig sehen kann. „Ich bekomme | |
| viele Livebilder“, sagt er. | |
| Von Deutschland fühlt er sich entfremdet. Die Medien würden nur | |
| bruchstückhaft über den Krieg in Gaza berichten, sagt er, und von hiesigen | |
| Politikern vermisst er Worte des Beileids. Obwohl er selbst deutsche | |
| Politiker kenne, wie er sagt, habe er von ihnen wenig persönlichen | |
| Anteilnahme vernommen. „Ich habe an die Werte dieses Landes geglaubt“, sagt | |
| Hatem Safadi. Die Zerstörung Gazas und die vielen Toten würden in | |
| Deutschland wenig Beachtung finden. Das schockiere ihn. Er spricht von | |
| einem Genozid. | |
| Nachdem die Hamas am 7. Oktober ihren Angriff auf Israel verübte, bei dem | |
| rund 1 200 Menschen starben, sollen nach palästinensischen Angaben rund | |
| 35.000 Menschen im Gazastreifen durch israelische Bombardements getötet und | |
| mindestens 80.000 verletzt worden sein. Diese Zahlen lassen sich nicht | |
| unabhängig überprüfen, sie werden aber weithin als glaubwürdig eingestuft. | |
| Selbst US-Präsident Joe Biden kritisierte bereits im Dezember die „wahllose | |
| Bombardierung“ des Gazastreifens, die zu viele zivile Opfer koste. | |
| Doch geändert hat Israel sein militärisches Vorgehen deswegen nicht. Allen | |
| Warnungen sogar der engsten Verbündeten zum Trotz bereitet die Regierung im | |
| Süden des Gazastreifens, wohin in den vergangenen Monaten über eine Million | |
| Menschen geflüchtet sind, eine weitere Offensive vor. Damit könnten | |
| Hunderttausende Zivilisten zwischen die Fronten geraten und die ohnehin | |
| schwierige Versorgung der Menschen völlig zusammenbrechen, fürchten | |
| Hilfsorganisationen. Wie der US-amerikanische Sender [7][NBC] kürzlich | |
| berichtete, hat die israelische Armee im Süden von Gaza mehrmals Gebiete | |
| bombardiert, die es zuvor ausdrücklich als „sichere Zonen“ ausgewiesen | |
| hatte. Die Hamas mag sich in Tunneln verstecken, aber für Zivilisten im | |
| Gazastreifen hat sie keine Schutzräume oder Bunker gebaut. Mit anderen | |
| Worten: es gibt im Gazastreifen keinen sicheren Ort. | |
| Über 100 Familienmitglieder habe er verloren, erzählt Salah Khattab, über | |
| 200 Angehörige seien durch israelische Bomben verletzt worden, zwanzig | |
| Häuser der Familie zerstört. Seine Familie sei eine der größten in Gaza, | |
| sie bestehe aus mehreren Tausend Menschen, aber die hohen Opferzahlen seien | |
| keine Ausnahme: „Andere Familien haben noch mehr Menschen verloren, manche | |
| über 200.“ Gemeinschaftsgräber würden immer häufiger in Gaza, sagt er. Au… | |
| seine Familie hätte ihre Angehörigen so bestatten müssen. | |
| Salah Khattab betreibt ein Ladengeschäft im Berliner Stadtteil Neukölln. Er | |
| verkauft Unterwäsche und Dessous, Parfüms und Kronleuchter. Neben anderer | |
| Kleidung verkauft er traditionelle palästinensische Gewänder mit | |
| Kreuzstickereien. Ursprünglich stammt der 63-Jährige aus Deir-el-Balah im | |
| Zentrum von Gaza. Die meisten seiner Angehörigen seien dort geblieben, auch | |
| seine beiden Schwestern. Wessen Haus zerstört wurde, der sei bei Verwandten | |
| oder Freunden untergeschlüpft oder lebe in Zelten, berichtet er. Wenn es | |
| das Internet zulasse, telefoniere er jeden Tag mit ihnen. Aber manchmal | |
| habe er sie bis zu drei Wochen lang nicht gesprochen, weil es keinen | |
| Kontakt gab. Kurz vor dem Treffen sei diese Gegend gerade bombardiert | |
| worden, erzählt er zu Beginn des Gesprächs. Das habe er aus dem Netzwerk | |
| Telegram erfahren. Seine Frau habe daraufhin gleich ihre Schwester dort | |
| angerufen – alles gut, sie lebe noch. „Ich weiß besser, was in unserer | |
| Gegend in Gaza passiert, als die Leute, die dort sind“, sagt er. Vor Ort | |
| könne man kaum wissen, welches Haus genau gerade getroffen worden sei. Er | |
| dagegen sei über soziale Netzwerke, über Telegram- und Whatsapp-Gruppen, | |
| quasi live dabei, und gebe die Informationen weiter. | |
| Salah Khattab lebt seit über 40 Jahren in Deutschland. Als junger Mann kam | |
| er nach Leipzig, in die DDR, und lernte dort Deutsch. Anschließend | |
| studierte er in Weimar, bevor er in den Westen Berlins zog und dort ein | |
| zweites Diplom machte. Er uns seine Frau haben vier Kinder, alle sind schon | |
| erwachsen. Im Hinterzimmer seines Ladengeschäfts hängt eine Collage an der | |
| Wand. Sie besteht aus Fotos von Yassir Arafat, dem ehemaligen | |
| palästinensischen Anführer und Präsidenten, der vor fast zwanzig Jahren | |
| gestorben ist, Familienfotos von Kundgebungen mit palästinensischen Flaggen | |
| und einer Karte des historischen Mandatsgebiets Palästinas. Ein Foto zeigt | |
| einen jungen Salah Khattab zusammen mit Arafats Nachfolger, dem | |
| palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, der als Chef der | |
| „Autonomiebehörde“ im Westjordanland über begrenzte Macht verfügt. Ein p… | |
| Jahre lang vertrat Abbas dessen Partei, die Fatah, in Deutschland. | |
| Khattab spricht gerne über Politik. Für ein Foto legt er sich einen Schal | |
| mit dem schwarz-weißen Kuffiyeh-Muster, auf dem der Felsendom in Jerusalem | |
| abgebildet ist. An der Wand hängt ein ähnlicher Schal, darauf steht auf | |
| Arabisch: „Jerusalem ist unser“. Khattab spricht sich dennoch klar für eine | |
| Zweistaatenlösung aus. Das sei die einzige Möglichkeit für Frieden, betont | |
| er – auch wenn dies bedeute, dass seine Familie nicht in den Ort | |
| zurückkehren werde, den seine Vorfahren 1948 verlassen mussten – das | |
| heutige Be’er Sheva, die Hauptstadt des Negev, die im Süden Israels liegt. | |
| Seine Partei habe dazu eine Resolution beschlossen, sagt er: Entweder das | |
| Recht auf Rückkehr oder Entschädigungszahlungen. „Ganz einfach.“ Doch eine | |
| Zweistaatenlösung, für die sie seit Jahren eintritt, scheint heute ferner | |
| denn je: „Nachdem Arafat in den 1990er Jahren die Oslo-Abkommen | |
| unterschrieben hatte, sollte es innerhalb von fünf Jahren einen | |
| palästinensischen Staat geben, mit allem Drum und Dran“, sagt Khattab. | |
| „Doch was ist seitdem passiert?“, fragt er und antwortet selbst: „Nichts.… | |
| Das Westjordanland werde zersiedelt, alles sei schlechter geworden als vor | |
| Oslo. | |
| Am schlimmsten sei aber der aktuelle Krieg in Gaza. Er klingt resigniert. | |
| Die israelische Armee mache dort keinen Unterschied zwischen Zivilisten und | |
| Hamas-Kämpfern, davon ist Khattab überzeugt. „Sie erklären einfach: Das | |
| sind Hamas-Aktivisten.“ Das Leid der Menschen in Gaza werde in Deutschland | |
| seiner Meinung nach kaum wahrgenommen. Eigentlich, sagt er, lebe er sehr | |
| gerne in Berlin. „Wenn ich verreise und zurückkehre, dann fühle ich mich | |
| hier wieder zu Hause.“ Doch seit dem 7. Oktober habe sich das geändert. Er | |
| fühle sich inzwischen „unwohl“, sagt er, auch wenn ihm persönlich niemand | |
| etwas getan habe. Aber das laute Schweigen der deutschen Politik störe ihn. | |
| Doch langsam, sehr langsam, scheine sie sich zu ändern, glaubt er. | |
| „Die Medien stehen an der Seite Israels“, sagt er unaufgeregt. Für ihn ist | |
| das eine Tatsache, aber kein Grund aufzugeben. Khattab hat viele Proteste | |
| gegen den Krieg in Gaza in Berlin mitorganisiert, darauf ist er stolz. Kurz | |
| nach dem 7. Oktober sei das schwierig gewesen, erzählt er – viele | |
| Kundgebungen wurden untersagt. Wie entmachtet habe er sich da gefühlt. Doch | |
| inzwischen habe sich das geändert, und es würden auch viel mehr Menschen zu | |
| den Demonstrationen kommen als zu Beginn, sagt er, überall in Deutschland – | |
| auch mehr Menschen, die keinen persönlichen Bezug zu Palästina hätten, aber | |
| gegen den Krieg seien. Das Verhalten der Polizei bei den Demonstrationen | |
| halte er für unverhältnismäßig, aber die einzelnen Beamten treffe keine | |
| Schuld, findet er: „Sie haben ihre Befehle von oben.“ | |
| In seinem Laden seien die palästinensischen Kuffiyeh-Tücher und Schals mit | |
| dem gleichen Muster in den letzten Monaten zu einem Verkaufsschlager | |
| geworden, erzählt er noch. Viele Deutsche, die sie kaufen, würden nun den | |
| arabischen Namen kennen. Auch Fahnen bietet er an, sie hängen draußen, in | |
| der Auslage vor dem Laden. „Meistens verschenke ich die“, sagt er lächelnd. | |
| 13 May 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/imanaeq/status/1719474475404521879 | |
| [2] https://www.stern.de/gesellschaft/gaza-krieg--deutsch-palaestinenserin-verl… | |
| [3] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/hamas-muslime-palaesti… | |
| [4] https://twitter.com/imanaeq/status/1787533910823375069 | |
| [5] https://blnreview.de/ausgaben/02-2024/prestel-palaestinenser-jaffa-jordanie… | |
| [6] /Palaestinenserinnen-in-Deutschland/!5972938 | |
| [7] https://www.nbcnews.com/news/world/palestinians-killed-israeli-strikes-safe… | |
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| Daniel Bax | |
| Lisa Schneider | |
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