# taz.de -- Palästinenser in Deutschland: An der Seitenlinie | |
> Viele Palästinenser in Deutschland haben Angehörige in Gaza verloren. Mit | |
> ihrer Trauer fühlen sie sich seit Monaten allein. | |
Berlin und Dortmund taz | Ihren ersten Tweet [1][schrieb] Iman Abu | |
El-Qomsan Ende Oktober. „Ich habe heute bei der Bombardierung von #Jabalia | |
in Gaza 19 Familienmitglieder auf einen Schlag verloren, insgesamt sind | |
mehr als 60 Mitglieder meiner Familie durch israelische Bomben getötet | |
worden. Warum wird unser Leid in Deutschland ignoriert?“ Tausende | |
reagierten auf den Tweet, die meisten mit Mitgefühl. Manche zweifelten aber | |
auch an ihrer Aussage, wunderten sich über die große Zahl oder machten die | |
Hamas für den Tod ihrer Verwandten verantwortlich. | |
Die große Zahl ihrer Angehörigen lasse sich leicht erklären, sagt die | |
zierliche 26-Jährige bei einem Treffen in einem orientalisch-modern | |
eingerichteten Frühstückscafé in der Dortmunder Innenstadt. | |
„Palästinensische Familien sind nun mal so groß.“ Ihr Vater habe neun | |
Geschwister, ihre Mutter fünf. Wenn sie deren Kinder und Enkelkinder | |
mitzähle, dann komme sie schnell auf mehrere Hundert Angehörige, außerdem | |
zähle man die Großcousins mit. | |
In den deutschen Medien habe man nichts über den Vorfall erfahren können. | |
„Das war für mich der Punkt zu sagen: Du musst das jetzt öffentlich | |
machen.“ Seitdem postet Iman Abu El-Qomsan regelmäßig auf dem | |
Twitternachfolger X, Journalisten wurden dadurch auf sie aufmerksam. Der | |
[2][Stern] und die [3][Süddeutsche Zeitung] haben sie porträtiert. Sie | |
erhält aber auch viel Hasspost. Auf ihrem Handy zeigt Imam Abu al-Qomsan | |
gespeicherte Screenshots. Es sind viele grob sexistische und rassistische | |
Kommentare darunter. Manche davon gibt sie an eine Meldestelle gegen Hetze | |
im Netz weiter. | |
Iman Abu El-Qomsan studiert in Münster Chemie-Ingenieurwesen, sie ist in | |
Deutschland aufgewachsen. Ihre Eltern stammen aus dem Gazastreifen. In den | |
1990er Jahren zog der Vater für sein Medizinstudium nach Deutschland, heute | |
betreibt er als Unfallchirurg und Orthopäde eine Praxis im Ruhrgebiet. | |
Imans Mutter, die später zu ihm nach Deutschland zog, ist dort fürs | |
Kaufmännische zuständig. Sie wuchs im Flüchtlingslager Jabalia im Norden | |
des Gazastreifens auf, der Großvater hatte dort einst ein Haus für die | |
Familie gebaut. Die Mutter habe es sofort wiedererkannt, als sie die | |
Trümmer im Fernsehen sah. Unter den Opfern seien Onkel und Tanten von ihr. | |
Ende November kam es noch schlimmer. Die israelische Armee bombardierte im | |
Zentrum des Gazastreifens das Haus, in dem die älteste Schwester des Vaters | |
lebte. Imans Tante Suheila liegt bis heute unter den Trümmern begraben, nur | |
ein Cousin überlebte schwerverletzt. Das wurde von Al-Jazeera praktisch | |
live übertragen, ihr Vater rief sie deswegen an. | |
Anfangs hatte er noch Hoffnung, seine Schwester könnte überlebt haben, bald | |
aber nicht mehr. „Ich habe meinen Vater noch nie weinen sehen“, sagt Iman | |
Abu El-Qomsan. „Aber an dem Tag hat er geweint.“ Der Cousin fahre immer | |
wieder zu den Ruinen seines Hauses, doch die Leiche seiner Mutter konnte | |
noch nicht geborgen werden. „Ich wäre beruhigter, wenn sie begraben werden | |
könnte“, sagt Iman Abu El-Qomsan. „Das tut weh.“ Sie spricht leise und | |
gefasst, aber knetet ihre Hände dabei. „Wir haben keine Zeit, das zu | |
verarbeiten“, sagt sie. „Ständig stirbt jemand. Ich weiß nicht, wie man d… | |
verkraften soll.“ Auch ihre Eltern verdrängen sehr viel, glaubt sie. | |
„Irgendwie muss man funktionieren.“ Sie trinkt nur ein Glas Wasser, während | |
sie erzählt. Ihre jüngeren Geschwister seien verwirrt, die meisten Lehrer | |
wüssten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. | |
Das letzte Mal war Iman Abu El-Qomsan vor neun Jahren mit ihrer Familie in | |
Gaza, sechs Wochen in den Sommerferien. Die Hälfte der Zeit waren sie in | |
Jabalia, die andere Hälfte in Al-Rimal, einem Stadtteil in Gaza-Stadt. | |
Damals war sie 16 Jahre alt, sie hat schöne Erinnerungen daran: „Das Meer, | |
die Menschen, das Essen, die Gemeinschaft.“ Fortwährend sei man herzlich | |
eingeladen worden, sagt sie. Es gab Musakhan, ein Brathähnchen im | |
Fladenbrot, und zum Nachtisch Erdbeeren aus Beit Lahia im Norden. „Dort gab | |
es Ferienhäuser am Strand und Hotels mit Schwimmbad und Sauna“, erinnert | |
sich Iman Abu El-Qomsan. Öfters ging man auch zu Kazem, dem bekanntesten | |
Eisladen von Gaza, über den sogar einmal die BBC berichtete. | |
Im vergangenen Sommer wäre sie gerne wieder hingefahren. „Aber da ging es | |
nicht, wegen Klausuren“, sagt sie. Nun wird es nie wieder so sein wie | |
vorher. „Gaza war schön“, sagt sie. „Die Menschen haben das Beste daraus | |
gemacht.“ | |
Ihre Mutter und ihre Geschwister haben Imans Großmutter das letzte Mal in | |
den Sommerferien in Jordanien getroffen. Beide Großeltern sind noch im | |
Gazastreifen. Ihr Großvater leitete in Gaza-Stadt einst eine Schule, er war | |
Geschichtslehrer. Heute lebt er am Strand, nachdem er zwischenzeitlich mit | |
15 anderen Menschen in einem Haus Zuflucht gefunden hatte. Ihre Großmutter | |
ist in einer Moschee in Dar El-Balad untergekommen. Mühsam hält die Familie | |
in Deutschland den Kontakt zu ihnen aufrecht und überweist Geld, wenn es | |
geht. | |
Einen Tag nach dem Gespräch [4][postet] Iman Abu al-Qomsan auf X das Bild | |
eines toten Kleinkinds. Ihr zweijähriger Großcousin Khaled Hijazi sei an | |
Unterernährung gestorben, schreibt sie dazu. Israel verzögere die Einfuhr | |
von Lebensmitteln und greife jene an, die auf Lebensmitteltrucks warteten. | |
Am Montag vor einer Woche schreibt sie: „Ich mache mir Sorgen. Sorgen um | |
meine Familie, die von Israel in die Safe Zone Rafah zwangsumgesiedelt | |
wurde, dort ständigen Bombardements ausgesetzt war und jetzt zum vierten | |
Mal innerhalb von sieben Monaten vertrieben wird. Nichts rechtfertigt dies. | |
Nichts.“ | |
Deutschland blickt auf eine lange Geschichte palästinensischer Einwanderung | |
zurück. Rund 200.000 Menschen palästinensischer Herkunft leben in der | |
Bundesrepublik – ungefähr ein Fünftel von ihnen in Berlin. Eine belastbare | |
Statistik gibt es nicht, denn viele von ihnen sind staatenlos oder Bürger | |
eines Landes, in das sie oder ihre Vorfahren geflohen sind – des Libanons, | |
Jordaniens oder Ägyptens, zum Beispiel. Die ersten Palästinenserinnen und | |
Palästinenser kamen in den 60er Jahren nach Deutschland, zum Studium oder | |
zur Arbeit. In den 1970er Jahre flohen viele vor dem libanesischen | |
Bürgerkrieg. Mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs flohen zuletzt | |
viele Menschen aus den palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien nach | |
Deutschland. | |
Die vielfältige Geschichte der palästinensischen Einwanderung nach | |
Deutschland sei hierzulande weitgehend unbekannt, [5][schrieb] der Berliner | |
Historiker Joseph Ben Prestel kürzlich in der neuen Zeitschrift „Berlin | |
Review“. Zwar sei Deutschland das Land mit der größten palästinensischen | |
Diaspora in Europa. Doch von der deutschen Politik werde diese | |
hauptsächlich als Sicherheits- oder Integrationsproblem angesehen, und in | |
den Medien käme sie kaum vor. Noch schärfer hat das die | |
Sozialwissenschaftlerin Sarah al-Bulbeisi in der [6][taz] formuliert: Ihre | |
Geschichte werde negiert, ihre Gewalterfahrung würde ausgeblendet, ihre | |
Anliegen ignoriert. | |
Hatem Safadi empfängt in seinem Büro, von dem er auf den Berliner | |
Kurfürstendamm blicken kann. Der 56-Jährige trägt einen eleganten Anzug und | |
einen Henryquatre. In den sparsam eingerichteten Räumen mit | |
Fischgrätparkett hängen neben modernen Gemälden die Auszeichnungen für | |
seine Arbeit an den Wänden. Safadi ist Ingenieur und Architekt. Er hat sich | |
als Bauunternehmer darauf spezialisiert, denkmalgeschützte Altbauten in | |
Berlin und Potsdam zu sanieren und zu modernisieren, seine Firma hat über | |
90 Mitarbeiter. Vor fast dreißig Jahren kam er aus Gaza, seinem Geburtsort, | |
nach Berlin, um an der Technischen Universität in Berlin zu studieren. „Ich | |
komme aus einer angesehenen Familie“, sagt er. | |
Seit 2005 ist er nicht mehr in Gaza gewesen. Die Reise dorthin sei immer | |
„zu kompliziert“ gewesen, sagt er, die Ausreise für seine Angehörigen nun | |
ebenfalls. „Ende Oktober wollte ich mit meinen beiden Kindern hin, stell | |
dir das vor“, sagt er fast ungläubig. Für seinen Sohn wäre es die erste | |
Reise nach Gaza gewesen, seine erwachsene Tochter war einmal als kleines | |
Mädchen dort. Doch jetzt sei es zu spät. | |
Der Erste aus seiner Familie, der zu Beginn des Krieges getötet wurde, sei | |
sein Neffe gewesen, ein beliebter und talentierter Doktorand: „Ich habe die | |
Auszeichnung gesehen, die ihm der Professor geschrieben hat“, sagt Safadi. | |
Ende Oktober starb auch seine Mutter. Ihr Tod schmerze ihn am meisten, sagt | |
er. Auf Instagram schrieb er ihr einen Abschiedsbrief: „Du hast mich | |
verlassen und mein Herz mitgenommen.“ | |
Insgesamt 75 Mitglieder seiner großen Familie hat er verloren, viele von | |
ihnen auf einen Schlag. Sein Bruder, dessen Frau und ihre sieben Kinder | |
starben bei einem Luftangriff auf ihr Haus. Auch der Mann seiner Schwester | |
und einige ihrer Kinder sowie ein Cousin wurden durch Bomben des | |
israelischen Militärs getötet. „Seine Sonne“ sei der Cousin gewesen, sagt | |
Safadi. Nach dem 7. Oktober habe er jeden Tag mit seinem Cousin | |
telefoniert, wenn es der Empfang in Gaza erlaubte. Er habe ihm immer auf | |
den neuesten Stand gebracht, wie es den vielen Verwandten in Gaza gehe – | |
bis die Leitung still blieb. „Für mich ist er nicht gestorben“, sagt | |
Safadi. In seiner Erinnerung bleibe er lebendig. | |
Der größte Teil seiner Familie sei im Norden des Gazastreifens geblieben | |
und nicht nach Rafah geflohen, erzählt er, obwohl die israelische Armee im | |
Laufe ihrer Offensive immer wieder dazu aufgefordert hatte, sich dorthin zu | |
begeben. „Unsere Familie ist in ihren Häusern geblieben.“ Das sei besser, | |
als in den Süden zu flüchten, glaubt er. Doch im Norden sind die | |
Nahrungsmittel inzwischen sehr knapp. Das Gebiet ist durch einen von Israel | |
kontrollierten Korridor vom Süden des Gazastreifens abgeschnitten, die | |
Grenze nach Israel im Norden ist dicht, Hilfslieferungen kommen dort kaum | |
an. Vor dem Krieg war die Familie begütert: Sie besaß mehrere Häuser und | |
einen Hain mit Bäumen, erzählt er. Mittlerweile sei alles zerstört, und | |
seine Familie könne sich kaum noch etwas zu essen leisten, sagt Safadi. | |
Während des Gesprächs zeigt er immer wieder Bilder auf seinem Handy. Auf | |
einem Foto ist ein Mann zu sehen, der sein Kind in die Luft hält. Dem Mann | |
fehlt ein Bein, er stützt sich auf eine Krücke, dem Kind fehlen beide Beine | |
und ein Arm. Das Bild stamme aus Gaza, sagt Safadi. „Grausam.“ Er selbst | |
teilt auf seinem Instagram-Account fast täglich, was ihn bewegt: Bilder von | |
ausgemergelten und toten Kindern, Karikaturen, die Benjamin Netanjahu als | |
Kannibalen zeigen, den Abschiedsbrief an seine Mutter. | |
Er müsse irgendwas tun, sagt er. Statt zum Sport zu gehen oder nachts zu | |
schlafen sitzt er oft am Handy und vor dem Fernseher und betrachtet Bilder | |
und Videos von Explosionen, Zerstörung und Tod. Der TV-Sender Al-Jazeera | |
ist sein täglicher Begleiter. Freunde schicken ihm Listen mit Namen von | |
Verstorbenen. Auf einem sind Hunderte getötete Universitätsangestellte in | |
Gaza aufgelistet. In den sozialen Medien sind Bilder, die schwer verletzte | |
oder tote Menschen zeigen, oft verpixelt oder so dargestellt, dass sie erst | |
angetippt werden müssen, bevor man sie vollständig sehen kann. „Ich bekomme | |
viele Livebilder“, sagt er. | |
Von Deutschland fühlt er sich entfremdet. Die Medien würden nur | |
bruchstückhaft über den Krieg in Gaza berichten, sagt er, und von hiesigen | |
Politikern vermisst er Worte des Beileids. Obwohl er selbst deutsche | |
Politiker kenne, wie er sagt, habe er von ihnen wenig persönlichen | |
Anteilnahme vernommen. „Ich habe an die Werte dieses Landes geglaubt“, sagt | |
Hatem Safadi. Die Zerstörung Gazas und die vielen Toten würden in | |
Deutschland wenig Beachtung finden. Das schockiere ihn. Er spricht von | |
einem Genozid. | |
Nachdem die Hamas am 7. Oktober ihren Angriff auf Israel verübte, bei dem | |
rund 1 200 Menschen starben, sollen nach palästinensischen Angaben rund | |
35.000 Menschen im Gazastreifen durch israelische Bombardements getötet und | |
mindestens 80.000 verletzt worden sein. Diese Zahlen lassen sich nicht | |
unabhängig überprüfen, sie werden aber weithin als glaubwürdig eingestuft. | |
Selbst US-Präsident Joe Biden kritisierte bereits im Dezember die „wahllose | |
Bombardierung“ des Gazastreifens, die zu viele zivile Opfer koste. | |
Doch geändert hat Israel sein militärisches Vorgehen deswegen nicht. Allen | |
Warnungen sogar der engsten Verbündeten zum Trotz bereitet die Regierung im | |
Süden des Gazastreifens, wohin in den vergangenen Monaten über eine Million | |
Menschen geflüchtet sind, eine weitere Offensive vor. Damit könnten | |
Hunderttausende Zivilisten zwischen die Fronten geraten und die ohnehin | |
schwierige Versorgung der Menschen völlig zusammenbrechen, fürchten | |
Hilfsorganisationen. Wie der US-amerikanische Sender [7][NBC] kürzlich | |
berichtete, hat die israelische Armee im Süden von Gaza mehrmals Gebiete | |
bombardiert, die es zuvor ausdrücklich als „sichere Zonen“ ausgewiesen | |
hatte. Die Hamas mag sich in Tunneln verstecken, aber für Zivilisten im | |
Gazastreifen hat sie keine Schutzräume oder Bunker gebaut. Mit anderen | |
Worten: es gibt im Gazastreifen keinen sicheren Ort. | |
Über 100 Familienmitglieder habe er verloren, erzählt Salah Khattab, über | |
200 Angehörige seien durch israelische Bomben verletzt worden, zwanzig | |
Häuser der Familie zerstört. Seine Familie sei eine der größten in Gaza, | |
sie bestehe aus mehreren Tausend Menschen, aber die hohen Opferzahlen seien | |
keine Ausnahme: „Andere Familien haben noch mehr Menschen verloren, manche | |
über 200.“ Gemeinschaftsgräber würden immer häufiger in Gaza, sagt er. Au… | |
seine Familie hätte ihre Angehörigen so bestatten müssen. | |
Salah Khattab betreibt ein Ladengeschäft im Berliner Stadtteil Neukölln. Er | |
verkauft Unterwäsche und Dessous, Parfüms und Kronleuchter. Neben anderer | |
Kleidung verkauft er traditionelle palästinensische Gewänder mit | |
Kreuzstickereien. Ursprünglich stammt der 63-Jährige aus Deir-el-Balah im | |
Zentrum von Gaza. Die meisten seiner Angehörigen seien dort geblieben, auch | |
seine beiden Schwestern. Wessen Haus zerstört wurde, der sei bei Verwandten | |
oder Freunden untergeschlüpft oder lebe in Zelten, berichtet er. Wenn es | |
das Internet zulasse, telefoniere er jeden Tag mit ihnen. Aber manchmal | |
habe er sie bis zu drei Wochen lang nicht gesprochen, weil es keinen | |
Kontakt gab. Kurz vor dem Treffen sei diese Gegend gerade bombardiert | |
worden, erzählt er zu Beginn des Gesprächs. Das habe er aus dem Netzwerk | |
Telegram erfahren. Seine Frau habe daraufhin gleich ihre Schwester dort | |
angerufen – alles gut, sie lebe noch. „Ich weiß besser, was in unserer | |
Gegend in Gaza passiert, als die Leute, die dort sind“, sagt er. Vor Ort | |
könne man kaum wissen, welches Haus genau gerade getroffen worden sei. Er | |
dagegen sei über soziale Netzwerke, über Telegram- und Whatsapp-Gruppen, | |
quasi live dabei, und gebe die Informationen weiter. | |
Salah Khattab lebt seit über 40 Jahren in Deutschland. Als junger Mann kam | |
er nach Leipzig, in die DDR, und lernte dort Deutsch. Anschließend | |
studierte er in Weimar, bevor er in den Westen Berlins zog und dort ein | |
zweites Diplom machte. Er uns seine Frau haben vier Kinder, alle sind schon | |
erwachsen. Im Hinterzimmer seines Ladengeschäfts hängt eine Collage an der | |
Wand. Sie besteht aus Fotos von Yassir Arafat, dem ehemaligen | |
palästinensischen Anführer und Präsidenten, der vor fast zwanzig Jahren | |
gestorben ist, Familienfotos von Kundgebungen mit palästinensischen Flaggen | |
und einer Karte des historischen Mandatsgebiets Palästinas. Ein Foto zeigt | |
einen jungen Salah Khattab zusammen mit Arafats Nachfolger, dem | |
palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, der als Chef der | |
„Autonomiebehörde“ im Westjordanland über begrenzte Macht verfügt. Ein p… | |
Jahre lang vertrat Abbas dessen Partei, die Fatah, in Deutschland. | |
Khattab spricht gerne über Politik. Für ein Foto legt er sich einen Schal | |
mit dem schwarz-weißen Kuffiyeh-Muster, auf dem der Felsendom in Jerusalem | |
abgebildet ist. An der Wand hängt ein ähnlicher Schal, darauf steht auf | |
Arabisch: „Jerusalem ist unser“. Khattab spricht sich dennoch klar für eine | |
Zweistaatenlösung aus. Das sei die einzige Möglichkeit für Frieden, betont | |
er – auch wenn dies bedeute, dass seine Familie nicht in den Ort | |
zurückkehren werde, den seine Vorfahren 1948 verlassen mussten – das | |
heutige Be’er Sheva, die Hauptstadt des Negev, die im Süden Israels liegt. | |
Seine Partei habe dazu eine Resolution beschlossen, sagt er: Entweder das | |
Recht auf Rückkehr oder Entschädigungszahlungen. „Ganz einfach.“ Doch eine | |
Zweistaatenlösung, für die sie seit Jahren eintritt, scheint heute ferner | |
denn je: „Nachdem Arafat in den 1990er Jahren die Oslo-Abkommen | |
unterschrieben hatte, sollte es innerhalb von fünf Jahren einen | |
palästinensischen Staat geben, mit allem Drum und Dran“, sagt Khattab. | |
„Doch was ist seitdem passiert?“, fragt er und antwortet selbst: „Nichts.… | |
Das Westjordanland werde zersiedelt, alles sei schlechter geworden als vor | |
Oslo. | |
Am schlimmsten sei aber der aktuelle Krieg in Gaza. Er klingt resigniert. | |
Die israelische Armee mache dort keinen Unterschied zwischen Zivilisten und | |
Hamas-Kämpfern, davon ist Khattab überzeugt. „Sie erklären einfach: Das | |
sind Hamas-Aktivisten.“ Das Leid der Menschen in Gaza werde in Deutschland | |
seiner Meinung nach kaum wahrgenommen. Eigentlich, sagt er, lebe er sehr | |
gerne in Berlin. „Wenn ich verreise und zurückkehre, dann fühle ich mich | |
hier wieder zu Hause.“ Doch seit dem 7. Oktober habe sich das geändert. Er | |
fühle sich inzwischen „unwohl“, sagt er, auch wenn ihm persönlich niemand | |
etwas getan habe. Aber das laute Schweigen der deutschen Politik störe ihn. | |
Doch langsam, sehr langsam, scheine sie sich zu ändern, glaubt er. | |
„Die Medien stehen an der Seite Israels“, sagt er unaufgeregt. Für ihn ist | |
das eine Tatsache, aber kein Grund aufzugeben. Khattab hat viele Proteste | |
gegen den Krieg in Gaza in Berlin mitorganisiert, darauf ist er stolz. Kurz | |
nach dem 7. Oktober sei das schwierig gewesen, erzählt er – viele | |
Kundgebungen wurden untersagt. Wie entmachtet habe er sich da gefühlt. Doch | |
inzwischen habe sich das geändert, und es würden auch viel mehr Menschen zu | |
den Demonstrationen kommen als zu Beginn, sagt er, überall in Deutschland – | |
auch mehr Menschen, die keinen persönlichen Bezug zu Palästina hätten, aber | |
gegen den Krieg seien. Das Verhalten der Polizei bei den Demonstrationen | |
halte er für unverhältnismäßig, aber die einzelnen Beamten treffe keine | |
Schuld, findet er: „Sie haben ihre Befehle von oben.“ | |
In seinem Laden seien die palästinensischen Kuffiyeh-Tücher und Schals mit | |
dem gleichen Muster in den letzten Monaten zu einem Verkaufsschlager | |
geworden, erzählt er noch. Viele Deutsche, die sie kaufen, würden nun den | |
arabischen Namen kennen. Auch Fahnen bietet er an, sie hängen draußen, in | |
der Auslage vor dem Laden. „Meistens verschenke ich die“, sagt er lächelnd. | |
13 May 2024 | |
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[1] https://twitter.com/imanaeq/status/1719474475404521879 | |
[2] https://www.stern.de/gesellschaft/gaza-krieg--deutsch-palaestinenserin-verl… | |
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[4] https://twitter.com/imanaeq/status/1787533910823375069 | |
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