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# taz.de -- Wahlheimat Köln: Grüne Papageien wie du und ich
> Auf dem Kölner Melatenfriedhof fliegen seit 55 Jahren asiatische
> Halsbandsittiche herum. Keiner weiß, wie sie herkamen.
Köln taz | Der Melaten? Ein urdeutscher Friedhof? Nein, gar nicht. Der Name
stammt aus dem Französischen und kommt von „malade“, also „krank“. Im
Mittelalter war der berühmte Kölner Friedhof nämlich ein
Leprösen-Siechenhaus, das die „Aussätzigen“ nur selten zum Betteln
verlassen durften, immer brav hinter „Schellenknecht“ her, der vor
Ansteckung warnte. Auch später nutzte man das Gelände nicht so
tolerant-vielfältig wie heute, wurden doch 1529, glaubensbedingt, zwei
protestantische Pastoren und im 17. Jahrhundert 30 „Hexen“ dort verbrannt.
Erst als Napoleon während der französischen Besatzungszeit 1804 befahl,
dass Tote aus Hygienegründen nicht mehr neben oder in Kirchen, sondern
außerhalb der Stadt zu begraben seien, kaufte die Stadt das Areal [1][und
eröffnete den Friedhof].
## Angenehmer Ort mit Berühmten
Von all dieser Unbill zeugt nur noch die kleine Schellenknecht-Skulptur am
Eingang, ansonsten ist es ein angenehmer Ort geworden. Heiter spaziert der
Einheimische über den Friedhof, der neben Berühmtheiten wie Nicolaus August
Otto, dem Namensgeber des Ottomotors, reichlich Karnevals-Granden bietet,
ist dies hier doch integraler Bestandteil kultureller Vielfalt. Lebensgroße
Skulpturen Blauer und Roter Funken – der Parodie auf das einstige
französische Besatzungsmilitär – stehen da, und kürzlich erst hat ein
Domprobst die Grabstätte einer Karnevals-„Ehrengarde“ geweiht.
Auch der Volksschauspieler Willy Millowitsch liegt hier begraben. Wobei die
Familie eigentlich aus Osteuropa stammt, wie man bei näherer Betrachtung
seines Namens begreift, der einst wohl auf „vić“ endete. Aber egal,
irgendwann waren die Millowitschs da und brachten es vereinzelt gar [2][zum
Kölner Original].
Und wie man so einher wandelt zwischen all diesen Denkmälern, tönt es
exotisch aus den Lüften, und man meint, da sei wieder ein Tier aus dem Zoo
entkommen. Und tatsächlich: Ein Trupp grüner Papageien jagt unter lauten
Gekreisch übers Gelände. Grüne Halsbandsitiche sind es, eigentlich in
Indien zu Hause, aber schon so kölsch geworden wie Willy Millowitsch.
## Wie echte Kölner
Wie die Sittiche herkamen, ist unbekannt. Vielleicht sind sie einem
Zoohändler entflogen, vielleicht entließ sie ein Privatier. Jedenfalls
tauchten sie 1969 erstmals in Deutschland auf, und zwar genau in Köln.
Seither vermehren sie sich prächtig, gefällt ihnen das milde Klima der
Köln-Bonner Bucht doch ausgezeichnet. 3.000 Tiere sollen es inzwischen in
den Grünzonen der Stadt sein.
Gesellig sind sie wie echte Kölner, wanderfreudig auch – aber in Maßen:
Wohl fliegen sie tagsüber mal in Richtung Eifel oder Bonn. Aber am Abend
kehren sie brav zurück, versammeln sich zu Hunderten auf „Schlafbäumen“, …
gemeinsam eventuellen Feinden zu trotzen. Wobei sie nicht nur bis zum
Dunkelwerden lärmen, sondern natürlich auch mal „aufs Klo“ müssen.
Das gefällt nicht jedem. Im feinen Hotel Maritim etwa, auf dessen Gelände
einige Zeit die – immer wieder wechselnden – Schlafbäume standen, war man
nicht erbaut über Lärm und Kot, und auch der nahe Kneipier grollte, weil
die Kundschaft floh. Der benachbarte Kioskbesitzer indes, dessen Gäste
genau deswegen kamen, war betrübt, als die Vögel weiterzogen.
Neozoen heißen solche eigentlich gebietsfremde, eingewanderten Tiere.
Inzwischen bevölkern die Sittiche das ganze Rhein-Main-Gebiet – wobei
Deutschland spät dran war mit dem Besiedeltwerden, kennt man die Vögel in
England doch seit den 1930er Jahren. Lieblingsnistplätze sind die Höhlen
alter Bäume, daher die Präferenz für Parks und Friedhöfe wie Melaten. Im
übrigen gehen die Sittiche mit der Zeit und brüten auch in den
Styroporaußenwänden gedämmter Häuser; wer weiß, ob das so gut ist.
## Ein kleckerndes Politikum
Überhaupt sind die Sittiche inzwischen zum Politikum geworden: Sehr gern
halten sie sich nämlich bei der neuen hellen Rheinuferpromenade in
Köln-Deutz auf und kleckern dann dort alles voll. Also ließ die Stadt
„gebundene Pflasterfugen“ zwischen die Steine setzen, damit sie leichter zu
reinigen sind. Auch will man die Promenade nun öfter putzen, da man den
Tieren ihr unpassendes Verhalten ja nicht begreiflich machen kann.
Umbringen darf man sie auch nicht, allenfalls „vergrämen“, also durch Lärm
vertreiben.
Und wie der gesellige Kölner so ist, hat er in diesem Vergraulen der
Sittiche gleich ein allgemein mahnendes Symbol gesehen, weshalb die Band
Kasalla und Rapper Eko Fresh anno 2022 den Song „[3][Jröne Papajeie]“
erfanden, der für Toleranz wirbt.
Um das Maß der Würdigung voll zu machen, begeht Köln dieses Jahr außerdem
„55 Jahre Halsbandsittiche“. Mit Glanz und Gloria und, vermutlich,
mindestens einem Karnevalströmmelchen.
12 May 2024
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Melaten-Friedhof
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Willy_Millowitsch
[3] https://www.youtube.com/watch?v=ZV69ebK5LcE
## AUTOREN
Petra Schellen
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