# taz.de -- Lieferdienst Getir vor dem Aus: Kündigungen im Hauruckverfahren | |
> Den Getir-Ridern geht es an den Kragen. Möglich sind Massenentlassungen | |
> ohne Sozialplan oder Abfindung. Ein Anwalt rät, zu klagen. | |
Bild: Miserable Arbeitsbedingungen, miserable Entlassungspolitik: Der Lieferdie… | |
BERLIN taz | In der Filiale an der Warschauer Straße ist das nahende Ende | |
des Lieferdienstes Getir nicht zu übersehen. Statt Bestellungen im | |
Minutentakt auszuliefern, ist kein Fahrer weit und breit zu sehen. Keine | |
Lagerarbeiter:innen sind zu erkennen, die sonst hinter den violett | |
abgeklebten Fenstern hektisch die Einkaufstüten befüllt haben. | |
Nachdem Ende April bekannt wurde, [1][dass sich der Bringdienst für | |
Supermarkt-Lebensmittel ab Mitte Mai aus dem deutschen Markt zurückzieht], | |
sind die ersten Kündigungen bei den Kurierfahrer*innen eingetrudelt. | |
Mehrere Betroffene hätten sich bereits bei ihm gemeldet, sagte | |
Arbeitsrechtsanwalt Martin Bechert, [2][der sich seit vielen Jahren für die | |
Rechte der prekär beschäftigten Rider einsetzt], am Montag der taz. | |
In den Schreiben, die sie von Getir erhalten hätten, sei ihnen zu Ende Mai | |
außerordentlich gekündigt worden, bereits ab dem 13. Mai würden sie | |
freigestellt. „Von einem Sozialplan oder von Abfindungen ist darin keine | |
Rede“, kritisiert Bechert. Stattdessen werde von den Arbeiter*innen | |
Stillschweigen verlangt. | |
Laut Business Insider sind von den Entlassungen bundesweit rund 1.200 | |
Mitarbeiter*innen betroffen, davon 800 Fahrer*innen, die meisten in | |
Berlin. Getir soll mittlerweile bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) in | |
Berlin die Massenentlassungen angekündigt haben, wozu das Unternehmen | |
verpflichtet ist. Die BA äußerte sich auf taz-Anfrage nicht dazu. | |
## Managementnaher Betriebsrat | |
Das Hauruckverfahren des umstrittenen Lieferdienstes hält Rechtsanwalt | |
Bechert angesichts der knappen Fristen und der Unternehmensstruktur für | |
rechtlich fragwürdig. „Normalerweise wird bei Massenentlassungen der | |
Betriebsrat konsultiert und ein Sozialplan erarbeitet.“ Dass dies auch in | |
diesem Fall geschehen ist, glaubt er nicht. | |
„Wir haben immer gesagt, dass das ein managementnaher Betriebsrat ist“, so | |
Bechert. Von dem ist aktuell auch nichts zu hören. „Wenn ein Betriebsrat | |
sich bei einer Betriebsschließung nicht auf die Beine stellt, wann dann?“ | |
Plant der Arbeitgeber jedoch in größerem Umfang Personalabbau, ohne einen | |
Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, haben die | |
Arbeiter*innen Anspruch auf eine Abfindung. „Und die liegt im Ermessen | |
des Gerichts“, so Bechert. Wird der Betriebsrat gar nicht konsultiert, | |
seien die Kündigungen sogar unwirksam. | |
Der erfahrene Arbeitsrechtsanwalt sammelt derzeit Fälle, um rechtlich gegen | |
die Kündigungen von Getir vorzugehen. Dabei rechnet er sich gute Chancen | |
aus. „Es ist immer dasselbe: Man haut so was raus in dem Glauben, dass die | |
Leute eh nicht klagen, das ist am Ende billiger.“ Das liege auch daran, | |
[3][dass die meisten Rider Migrant*innen sind, die ihre Rechte nicht | |
kennen], viele von ihnen aus Indien. „Wären das Deutsche, würde man das | |
nicht machen.“ Doch wer sich das gefallen lässt, steht am Ende mit leeren | |
Händen da. „Wer nicht klagt, kriegt im Zweifel gar nichts“, so Bechert. | |
## Individuelle Beratungsangebote der Gewerkschaft | |
Die Gewerkschaften haben sich lange nicht um die migrantischen und | |
dezentral arbeitenden Plattform-Arbeiter*innen bei Getir & Co gekümmert. | |
Mittlerweile hat sich das geändert. Daniel Gutiérrez, Gewerkschaftssekretär | |
bei Verdi, setzt sich für die Rechte der Riders bei Getir ein. „Die | |
Beschäftigten haben keine Tarifverträge und der Betriebsrat bei Getir | |
scheint nur auf dem Papier zu existieren“, sagt Gutiérrez zur taz. | |
Regelmäßige Treffen oder Austausch mit der Belegschaft seien ihm nicht | |
bekannt. | |
Mit individueller Beratung versuche Verdi, die Rider aufzuklären. „Viele | |
sind Studenten aus dem Ausland und kennen ihre Rechte nicht“, so Gutiérrez. | |
Dann kam das plötzliche Aus und die Gründung eines Betriebsrats war passé. | |
„Das war eine Überraschung für die Rider und auch für die Supervisor“, s… | |
der Gewerkschafter. Einer habe gerade erst seine Frau aus Indien | |
nachgeholt. Auch wenn schon länger bekannt war, dass es Getir finanziell | |
nicht gut geht, sei dies ein Schock gewesen. Ein Sozialplan ist dem | |
Gewerkschafter nicht bekannt. | |
Getir selbst begründet seinen Rückzug mit Überlegungen des Hauptinvestors | |
Mubadala, eines Staatsfonds aus Abu Dhabi, der auch bei Flink investiert | |
hat, beide Lieferdienste zusammenzulegen. Demnach soll sich Getir, das 2015 | |
in Istanbul gegründet wurde, auf die Türkei konzentrieren, Flink auf | |
Europa. | |
Zu der Entlassungswelle heißt es bloß: „Getir drückt seine aufrichtige | |
Wertschätzung für das Engagement und die harte Arbeit aller seiner | |
Mitarbeiter in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden und den USA | |
aus.“ Auf taz-Anfrage antwortete das Unternehmen, dass der Betriebsrat | |
bereits im April über die Entwicklungen informiert worden sei. | |
## Kiziltepe fordert Verhandlungen mit Beschäftigten | |
Für Cansel Kiziltepe, die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für | |
Arbeit (AfA) in der SPD und Senatorin für Arbeit und Soziales in Berlin, | |
ist das zu wenig: „Die Lieferdienste Gorillas und Getir sind in der | |
Vergangenheit durch schlechte Arbeitsbedingungen, die Verhinderung von | |
Betriebsratsgründungen und niedrige Löhne aufgefallen. Die Gründung von | |
Betriebsräten war nur gegen den massiven Widerstand der Geschäftsführungen | |
möglich“, so Kiziltepe zur taz. Auch sie fordert Verhandlungen mit den | |
Beschäftigten und die Vorlage eines Sozialplans. | |
Darüber hinaus sieht sie angesichts der Union-Busting-Methoden, [4][durch | |
die Lieferdienste immer wieder auffallen], gesetzgeberischen | |
Handlungsbedarf: „Die Verhinderung von Betriebsratswahlen muss zum | |
Offizialdelikt werden. Außerdem bedarf es der Bildung von | |
Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften, damit eine effektive und konsequente | |
Verfolgung solch missbräuchlicher Methoden sichergestellt ist.“ | |
9 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Marie Frank | |
Jonas Wahmkow | |
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