# taz.de -- Pflegedienste in Not: Vier Minuten für die Strümpfe | |
> Weil die Krankenkassen die gestiegenen Kosten nicht übernehmen, machen | |
> viele Pflegedienste Verluste. Auf dem Land haben sie es besonders schwer. | |
Bild: Der Einsatzplan ist immer dabei | |
Als Nadine Berger* in das Schlafzimmer von Edith Oltmann* kommt, blättert | |
sie zunächst in einem Ordner, der auf einer Anrichte neben | |
Einmalhandschuhen, Körperlotion und anderen Pflegeprodukten liegt. Jakob | |
Oltmann*, der Ehemann der 97-Jährigen, ist ein bisschen abgelenkt. „Holst | |
du mir Wasser und Waschlappen?“, sagt Nadine Berger zu ihm. Einen Moment | |
später kommt Oltmann mit einer Plastikwanne voller Wasser und einem | |
Waschlappen wieder. | |
Jakob Oltmann ist 87 Jahre alt und pflegt seine Frau zu Hause. Unterstützt | |
wird er dabei von dem ambulanten Pflegedienst, bei dem Nadine Berger als | |
Springerin arbeitet. Berger war schon eine Weile nicht mehr bei der alten | |
Frau. Deswegen liest sie kurz in den Berichten nach, was ihre | |
Kolleg*innen aufgeschrieben haben. | |
Das geht natürlich von der Zeit ab, die die Pflegerin für die Versorgung | |
zur Verfügung hat. „Ich seh den Zeitplan nicht so verbissen“, sagt sie. | |
Genau 23 Minuten hat sie für die sogenannte Grundpflege. Weitere fünf | |
Minuten kommen für die Inkontinenzversorgung dazu. | |
„Machste einmal dein Gesicht“, sagt Nadine Berger zu Edith Oltmann und gibt | |
ihr den feuchten Waschlappen. „Und an die Ohren denken.“ Die alte Frau | |
wischt sich Gesicht und Ohren ab. Die drei kennen sich schon länger, Berger | |
hat lange im selben kleinen Ort in der Lüneburger Heide gelebt. Sie tippt | |
an den Haltegriff über dem Kopf der Frau. Diese ergreift den Griff und | |
stemmt sich selbst hoch, so dass Berger jetzt auch ihren Oberkörper waschen | |
kann. | |
Rund 1.400 ambulante Pflegedienste gab es nach der letzten aktuellen | |
Erhebung von 2021 in Niedersachsen. Bundesweit waren es rund 15.400. Ihre | |
Situation ist prekär: Im Jahr 2023 mussten laut dem Landesamt für Statistik | |
in Niedersachsen 16 Pflegedienste Insolvenz anmelden. Das sind doppelt so | |
viele wie im Jahr zuvor. Das Portal Pflegemarkt.com [1][zählt für 2023 | |
bundesweit 374 geschlossene Pflegedienste], die zuvor 19.356 | |
Patient*innen versorgten. | |
Grund für die schwierige Lage ist das Tariftreuegesetz, das seit September | |
2022 bundesweit in der Pflege gilt. Seither müssen Pflegekräfte nach | |
Tarifverträgen oder angelehnt an Tarifverträge bezahlt werden, [2][dadurch | |
haben sich die Lohnkosten erhöht]. | |
## Pflegekräfte dringend gesucht | |
Die Idee der Reform war es, dringend benötigte Pflegekräfte im Beruf zu | |
halten und neue zu gewinnen. „Wir haben uns entschieden, uns an den | |
Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst anzulehnen. Wir haben das auch | |
gern gemacht“, sagt Nikolaus Lemberg. Der 48-Jährige ist seit 18 Jahren | |
Geschäftsführer bei der Interessengemeinschaft Salzhausen, dem | |
Pflegedienst, bei dem Nadine Berger arbeitet. | |
Durch die Tariftreueregelung sind die Personalkosten um 20 bis 30 Prozent | |
gestiegen. Die Pflegekassen zahlen aber nur 16 Prozent mehr, obwohl sie | |
laut Gesetz die gestiegenen Lohnkosten eigentlich refinanzieren sollen. | |
Dass das nicht auf Dauer funktionieren kann, ist klar. „Es ist schwer die | |
Struktur in eine stabile Zukunft zu bringen“, sagt Lemberg. | |
Wenn Pflegedienste wegfallen, heißt das oft, dass Angehörige die Pflege | |
stemmen müssen oder Menschen früher als nötig in ein Heim ziehen. Es kommt | |
auch vor, dass Menschen schlicht unterversorgt werden, oder alltägliche | |
Aufgaben wie Wundversorgung an Hausarztpraxen hängenbleiben. | |
Seit das Tariftreuegesetz in Kraft getreten ist, schreibt auch die | |
[3][Interessengemeinschaft Salzhausen] rote Zahlen. Im Jahr 2022 betrug der | |
Verlust für den Verein gut 42.300 Euro. Für das Jahr 2023 geht der | |
Geschäftsführer von einem Verlust von rund 65.600 Euro aus. Wie schafft es | |
der Pflegedienst, trotzdem weiterzumachen? Und wie geht er damit um, dass | |
sich nichts zu ändern scheint? | |
Imke Burmester sitzt in einem kleinen Büro in der Geschäftsstelle der | |
Interessengemeinschaft. Ein weißer Hund liegt unter ihrem Schreibtisch. | |
Burmester ist Verwaltungsmitarbeiterin des Vereins. Gerade prüft sie die | |
Leistungsnachweise, also die Tabellen, in denen die Pfleger*innen | |
eintragen, welche Leistungen sie bei den Kund*innen erbracht haben. | |
Blatt für Blatt und Stapel für Stapel kontrolliert sie, ob alle nötigen | |
Kürzel ihrer Kolleg*innen da sind. Anschließend meldet sie die | |
erbrachten Leistungen an die Pflege- und Krankenkassen weiter. „Die Kassen | |
sind so kleinlich, unfassbar“, sagt Burmester. Sie würden jedes fehlende | |
Kürzel sofort finden. Die Pleiten von Pflegediensten in der Region findet | |
sie „beängstigend“. „Wo soll das noch hinführen?“ | |
Die Interessengemeinschaft Salzhausen bietet außer ambulanter Pflege nicht | |
nur Demenzkurse und Kaffeenachmittage für Senior*innen an, sondern auch | |
Kinderbetreuung und Schulassistenz. „Das rettet uns im Moment“ sagt | |
Nikolaus Lemberg. Dass der Verein so breit aufgestellt ist und verschiedene | |
Einnahmequellen hat, hilft ein wenig dabei, die erhöhten Kosten in der | |
ambulanten Pflege abzufedern. „Viele, die nur ambulante Pflege gemacht | |
haben, sind schon weg vom Fenster“, sagt Lemberg. „Wir sind ein | |
gemeinnütziger Verein. Wir sind nicht darauf angewiesen, Gewinn zu machen, | |
so wie privat geführte Betriebe.“ | |
Auch die Rücklagen, die die Interessengemeinschaft in den letzten Jahren | |
gebildet hat, helfen, sich über Wasser zu halten. Aber allein in den | |
letzten zwei Jahren sind die um 100.000 Euro abgeschmolzen. | |
## Stoppschild auf dem Autofenster | |
Nach dem Einsatz bei Familie Oltmann setzt Nadine Berger sich wieder in den | |
blauen Dienstwagen. Auf der Tür klebt das Logo der Interessengemeinschaft: | |
zwei ineinander gelegte Hände. Blau auf weißem Hintergrund. In einem | |
Rückfenster klebt ein aus Papier ausgeschnittenes blaues Stoppschild mit | |
der Aufschrift „Stopp – Pflege in Not“. Dazu ein QR-Code. Auf der | |
Landstraße geht es weiter zum nächsten Ort. Berger fährt durch eine mit | |
Birken gesäumte Allee. Rechts und links der Straße liegen Felder. | |
Die Pflegedienste bekommen pro Einsatz in der Krankenpflege pauschal 6,42 | |
Euro Fahrtkosten, egal ob es 10 bis 15 Minuten ins nächste Dorf geht oder | |
nur zwei Straßen weiter. Das führt dazu, dass Pflegedienste manchmal | |
Anfragen ablehnen müssen, weil sie sich einfach nicht rechnen, obwohl sie | |
das eigentlich gar nicht dürfen. „Es entstehen weiße Flecken auf der | |
Landkarte“, sagt Nikolaus Lemberg. Weiße Flecken, die von keinem | |
Pflegedienst mehr erreicht werden. | |
Nach gut zehn Minuten Fahrt kommt Berger am Haus von Martha Hennig* an. Auf | |
dem Weg vom Auto zum Haus stellt sie auf ihrem Handy eine Stoppuhr an. Sie | |
macht das nicht immer, aber für die taz will sie dokumentieren, wie lange | |
so ein Besuch dauert. Hier hat sie den Auftrag, der Kundin dabei zu helfen, | |
die Kompressionsstrümpfe anzuziehen. | |
Hennig lacht viel und erzählt, Knie, Rücken und Hüfte seien „nicht besser�… | |
während Berger mit ruhigen Handgriffen die Strümpfe anlegt. Das dauert ein | |
paar Minuten, denn die Strümpfe müssen schön glatt anliegen. Die Haut | |
darunter darf keine Falten werfen. | |
Währenddessen plaudern die beiden über Wassergymnastik und das Befinden von | |
Hennigs Sohn. „Sitzt alles?“, fragt Berger noch. Kurz darauf ist sie schon | |
wieder auf dem Weg zum Auto und stoppt die Uhr. Fünf Minuten und 18 | |
Sekunden hat der Einsatz gedauert. Laut Plan hat sie eigentlich nur vier | |
Minuten. | |
Wie lange die Pfleger*innen für welche Leistung brauchen dürfen, legen | |
die Pflegedienste selbst fest. Die Zeit berechnet sich aus der Vergütung, | |
die die Dienste pro Leistung bekommen. Wie viel eine Leistung wert ist, | |
wird durch eine bestimmte Zahl anhand von Punkten festgelegt. Jedes Jahr | |
wird der Punktwert – also die Menge an Geld, die ein Pflegedienst für einen | |
Punkt bekommt – neu berechnet. | |
Mit dem Anlegen der Kompressionsstrümpfe bei Martha Hennig hat die | |
Interessengemeinschaft 4,22 Euro verdient. Dazu kommt noch die | |
Fahrtkostenpauschale. Weil der Einsatz so kurz, aber der Weg | |
vergleichsweise lang ist, ist er laut Lemberg eigentlich ein Minusgeschäft | |
für den Pflegedienst. „Das einzige Instrument, damit umzugehen, wäre die | |
Versorgungszeiten zu kürzen“, sagt er. Aber „wir sind diese letzte | |
Umdrehung nicht gegangen“. | |
Inzwischen ist es Mittagszeit. Nikolaus Lemberg tritt auf den Parkplatz vor | |
dem Backsteingebäude, in dem die Geschäftsstelle der Interessengemeinschaft | |
sitzt. Er muss erst eines der vielen blauen Autos mit dem Vereinslogo | |
wegparken, die dort stehen, um an einen schwarzen Smart zu kommen. Ein | |
Elektroauto. | |
Im Auto erzählt Lemberg, dass die Interessengemeinschaft vor zwei Jahren | |
entschieden hat, ihren Fuhrpark auf E-Autos umzustellen. Im April 2023 | |
haben sie fünf E-Smarts bestellt, die sie mit Ökostrom aus der eigenen | |
Photovoltaikanlage betreiben wollen. Damals sei noch nicht klar gewesen, | |
dass die Zahlungen der Kassen die erhöhten Löhne nicht decken würden. | |
Inzwischen wurden vier der Autos geliefert. Bald sollen auch die Ladesäulen | |
auf dem Parkplatz installiert werden. Aber eigentlich sei jetzt kein Geld | |
mehr da, um all das zu bezahlen, sagt Lemberg. Auch auf die | |
Photovoltaikanlage werden sie erst einmal verzichten müssen. „Ein halbes | |
Jahr später hätten wir die Entscheidung so nicht mehr getroffen.“ | |
Zum Mittagessen fährt Lemberg zu einem mobilen Asia-Imbiss, der auf einem | |
Edeka-Parkplatz steht. Lemberg tritt an den kleinen Imbisswagen heran und | |
bestellt „Einmal wie immer bitte.“ Neben dem Wagen, gibt es einen Holztisch | |
und ein paar Stühle, die durch Bambuspflanzen in großen schwarzen | |
Plastikkübeln vom Rest des Parkplatzes abgeschirmt sind. | |
An diesen Tisch setzt sich Lemberg mit einem Teller Thai-Curry-Tofu. | |
Während des Essens bekommt er einen Anruf auf dem Handy. Es ist eine | |
Referentin des Leistungsträgerverbands, dem die Interessengemeinschaft | |
Salzhausen angehört. Die Referentin hat angerufen um eine Frage zu | |
beantworten, die Lemberg ihr zuvor gestellt hatte. Es stellt sich heraus, | |
dass die Interessengemeinschaft die Angaben für Gehaltsklassen im | |
Tarifvertrag falsch interpretiert hat. Wenn sie das ausbügeln, werden sie | |
noch mehr Lohnkosten haben, sagt Lemberg. | |
Seit die finanzielle Situation für Pflegedienste immer schwieriger wurde | |
und es immer mehr Insolvenzen gab, hat Nikolaus Lemberg versucht, einige | |
andere Pflegedienste aus der Region, mit denen er bereits zuvor vernetzt | |
war, zusammenzutrommeln, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Seit | |
Mitte 2022 sind sie [4][unter dem Slogan „Pflegestopp“] zusammen | |
aufgetreten. Das Logo: das blaue Stoppschild, das noch immer in den | |
Fenstern der Dienstwagen klebt. | |
Eine Zeit lang sind sie alle jeden Donnerstag um 12 Uhr hupend durch die | |
Dörfer gefahren. Eine Protestaktion, die die Arbeit nicht unterbricht, aber | |
trotzdem für Aufmerksamkeit sorgen soll. Sie sind auf die Kommunalpolitik | |
zugegangen und waren in Sozialausschusssitzungen. Auch eine Demo in | |
Lüneburg haben sie organisiert. | |
## Proteste ohne Traktoren | |
Wenn Lemberg von den Aktionen der Initiative erzählt, hört es sich so an, | |
als läge das alles schon weit in der Vergangenheit. „Bedingt erfolgreich“ | |
nennt er die Arbeit in der Initiative. „Wenn ich heute mit Leuten spreche, | |
dann sagen die immer scherzhaft: Wir haben halt keine Traktoren.“ | |
Die letzte größere Aktion von Pflegestopp war eine Diskussionsveranstaltung | |
im Oktober 2023. Das Interesse sei groß gewesen. Rund 200 Menschen kamen | |
damals in ein Veranstaltungszentrum ins nahe Seevetal, um über die | |
Situation der ambulanten Pflege zu sprechen. Aber seither sei keine Energie | |
mehr da, in der Gruppe weiterzumachen, sagt Lemberg. Es sei ein riesiger | |
Aufwand, so viele Leute zusammenzubringen, die oft schon genug zu tun und | |
keine Zeit für Lobbyarbeit hätten. Hat er resigniert? „Ja, was die | |
kollektive Seite angeht“, sagt Lemberg. | |
Im August letzten Jahres hat die Initiative einen offenen „Brandbrief“ an | |
Politiker*innen und Angehörige geschickt. „Die Pflegebetriebe in ihrem | |
Landkreis befinden sich in großer Sorge“, heißt es in dem Brief. Es habe | |
nur ganz wenige Reaktionen gegeben, sagt Lemberg. Der Brandbrief habe die | |
Leute eher überfordert: „Wie kriegt man in diesem Feld so was wie eine | |
funktionierende Protestbewegung überhaupt hin?“ | |
Gegen Nachmittag hat Nikolaus Lemberg nochmal einen Termin. Frau Reinken | |
vom Naturpark Lüneburger Heide ist gekommen, um eine Plakette zu | |
überreichen. Die Plakette ist ein weißes Plastikschild mit einem lindgrünen | |
Rahmen. Auf der Plakette steht „Naturpark-Partner“, darunter eine | |
stilisierte Heidschnucke: Das Logo des Naturparks Lüneburger Heide. | |
Nikolaus Lemberg, seine Assistentin Astrid Prömm und Frau Reinken posieren | |
mit der Plakette für ein gemeinsames Foto vor dem Haus. | |
Für den Status als Naturpark-Partner hat sich die Interessengemeinschaft | |
selbst beworben. „Und es ist aufgegangen“, sagt Nikolaus Lemberg. Dafür | |
mussten sie unter anderem „Maßnahmen für eine nachhaltige und | |
umweltschonende Wirtschaftsweise“ nachweisen. Die Partnerschaft sei gut für | |
die Außenwirkung. Und attraktiv für neue Mitarbeiter*innen, sagt Lemberg. | |
Der Pflegedienst plant in die Zukunft, obwohl es vielleicht gar keine | |
Zukunft gibt – wenn sich an der Finanzierung seiner Arbeit nicht bald etwas | |
ändert. | |
*Namen von der Redaktion geändert | |
6 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.pflegemarkt.com/news/veraenderungen/anzahl-schliessungen-insolv… | |
[2] /Steigende-Loehne-fuer-PflegerInnen/!5772624 | |
[3] https://in-ge.de/ | |
[4] https://pflegestop.de/ | |
## AUTOREN | |
Franziska Betz | |
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