| # taz.de -- Familiengeschichte „Sterben“ im Kino: Herz und Gefühl vergleic… | |
| > In seinem Kino-Film „Sterben“ erzählt Regisseur Matthias Glasner | |
| > traurig-komisch von einer Familie. Die Liebe zu den Figuren kommt ihm nie | |
| > abhanden. | |
| Bild: Verrückte? Lissy (Corinna Harfouch) und Tom Lunies (Lars Eidinger) in �… | |
| Matthias Glasners „Sterben“ zelebriert die erzählerische Anarchie. Sein | |
| Film wagt vieles und ist vieles gleichzeitig: bittertrauriges Drama, | |
| Komödie und derber, verrauschter Schenkelklopfer. Leben, Tod und Kunst | |
| geben sich die Klinke in die Hand in „Sterben“, der – und das ist kein | |
| Widerspruch – vor Leben explodiert. | |
| Glasner ist ein kinematografischer Grenzgänger. Das hat er mit seinem | |
| schwer zu ertragenden Vergewaltigerdrama „Der freie Wille“ (2006) bewiesen, | |
| und das zeigt er auch in seiner Grenzen sprengenden Tragikomödie „Sterben“, | |
| seinem ersten Kinofilm seit zwölf Jahren. | |
| Der Regisseur ließ sich, wie er auf der Pressekonferenz auf der | |
| diesjährigen Berlinale erzählte, von persönlichen Erfahrungen rund um den | |
| Tod der eigenen Eltern inspirieren. „Für meine Familie, die Lebenden und | |
| die Toten“ lautet denn auch der Satz am Ende der 180-minütigen Tour der | |
| Force, für die [1][Glasner in Berlin mit dem Silbernen Bären für das beste | |
| Drehbuch ausgezeichnet] wurde. Beim deutschen Filmpreis gilt „Sterben“ mit | |
| neun Nominierung als großer Favorit. | |
| ## Die Situation ist desolat | |
| Was der motivische schmale Grat meint, auf dem „Sterben“ wandelt und der | |
| später auch im Film selbst erwähnt wird, lässt sich bereits in den ersten | |
| Minuten erahnen. Der in sechs Kapiteln erzählte Film setzt im Elternhaus | |
| der Familie Lunies ein. Lissy (Corinna Harfouch) sitzt in den eigenen | |
| Fäkalien auf dem Boden und versucht, ihren verwirrten Mann Gerd (Hans-Uwe | |
| Bauer), der mal wieder unten ohne durch die Nachbarschaft geschlichen ist, | |
| zu beruhigen. | |
| Die Situation ist desolat, man wähnt sich in einem schwerverdaulichen | |
| Sozialdrama, bis das Ehepaar kurz darauf einkaufen geht. „Du musst mich | |
| lenken, ich sehe nichts mehr“, sagt Lissy, und wie sie da im Auto | |
| herumstottern, er dement, sie halbblind, das ist traurig und zugleich zum | |
| Schreien komisch. | |
| Im zweiten Kapitel lernen wir den Sohn Tom (Lars Eidinger) kennen, einen | |
| Dirigenten. Er gibt den Ersatzvater für die Tochter seiner Ex Liv (Anna | |
| Bederke), weil die den leiblichen Vater nicht leiden kann, und war auch bei | |
| der Geburt dabei. Mit einem Jugendorchester arbeitet Tom an dem Stück | |
| „Sterben“ seines Freundes Bernard (Robert Gwisdek). Letzterer, ein | |
| depressiver Komponist mit Rauschebart und Grummelmiene, ist der Prototyp | |
| des unter seiner Kunst zerbrechenden Künstlers. Und das soll nicht | |
| despektierlich klingen, denn Glasner arbeitet sich ganz bewusst an | |
| Klischees ab, um seine Themen zu setzen und sie Schicht um Schicht | |
| aufzubrechen. | |
| Das extreme Beispiel dafür ist Toms Schwester Ellen, gespielt von einer | |
| [2][punkigen Lilith Stangenberg,] der Spezialistin für extreme Rollen. Zu | |
| sagen, Ellen wäre dem Alkohol und dem Exzess zugeneigt, wäre stark | |
| untertrieben, denn die Frau mit der schiefen Sonnenbrille und den | |
| zerzausten Haaren säuft und raucht, was das Zeug hält, und singt Songs in | |
| ihrer Stammbar. Ihr Motto: „Morgens scheiße, abends wieder gut“. Sie | |
| arbeitet als zahnmedizinische Assistentin, weil sie alles anders machen | |
| will als der Rest ihrer Familie, und schimpft auf die Hipster in Berlin. | |
| Mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld) wirft sie sich | |
| Hals über Kopf in eine alkoholgetränkte Affäre. Natürlich muss da auch mal | |
| besoffen ein Zahn mit einer Rohrzange in der Kneipenküche gezogen werden. | |
| ## Der Taum zwischen den Extremen | |
| Die Gegensätze zwischen den Geschwistern könnten größer kaum sein. Er ist | |
| der irgendwie gesettelte Künstler, etwas unterkühlt, aber nicht gänzlich | |
| unsympathisch, sie die Figur gewordene unangepasste Extrovertiertheit. Dass | |
| Glasner seine Ellen erst nach der Hälfte des Films einführt, spricht für | |
| dessen wohlüberlegte Konstruktion. Denn erst mit ihr öffnet sich der ganze | |
| gewagte Resonanzraum des Films, der zwischen den Extremen, zwischen sehr | |
| leise und sehr laut, zwischen subtil und frontal auf seinem ganz eigenen | |
| schmalen Grat wandert. | |
| Man müsse genau diesen Grat treffen, sagt der an seiner Komposition | |
| verzweifelnde Bernard einmal, sonst bleibe nur Kitsch: Kitsch für die | |
| Massen oder Kitsch für die Schlauberger – ein Wink auch auf „Sterben“ | |
| selbst. | |
| Dass Glasner selbst diesen Grat nicht immer trifft, macht „Sterben“ umso | |
| lebendiger. Der Film lebt vom Wagnis, davon, dass er kein perfektes, | |
| geschlossenes Werk ist, sondern sich, äquivalent zu den Probenszenen, | |
| ausprobiert, mäandert und Emotionen aller Art über Perfektion stellt. Dank | |
| des fantastischen Ensembles, von dem ein Großteil beim Deutschen Filmpreis | |
| auf Lolas hoffen darf, bleibt dieser thematisch kalkuliert überladene | |
| Balanceakt, dieses vielstimmige Porträt von Familien und Freundschaften im | |
| Normal- und Ausnahmezustand, über die gesamte Laufzeit lebendig. | |
| Zwischen Leben und Tod erzählt „Sterben“ vor allem auch davon, wie sehr | |
| unsere Familien uns prägen. In einer Schlüsselszene in der Mitte des Films | |
| sitzen sich Lissy und ihr Sohn Tom im Elternhaus in Trauer gegenüber. Lissy | |
| mampft Kuchen und eröffnet das Gespräch damit, dass sie ja auch bald | |
| sterben werde, Diabetes, Nierenversagen und Krebs, und dass es sich für sie | |
| nicht lohne, irgendwas dagegen zu tun. Am Ende dieser bitter ehrlichen, 15 | |
| Minuten dauernden Szene, in der Eidinger und Harfouch mit kühlem, | |
| intensivem Spiel brillieren, ist das Bild der Familie ein neues. | |
| Die Liebe für seine Figuren mit all ihren Macken kommt dem Regisseur | |
| darüber nie abhanden. Wie hat es Glasners eigene kleine Tochter zu Beginn | |
| des Films altklug in eine Handykamera gebrabbelt: „Du musst dein Herz | |
| vergleichen mit deinen Gefühlen. Du musst auf dein Herz hören“. „Sterben�… | |
| hat viel Herz und tut genau das. | |
| 24 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Goldener-Baer-fuer-Doku-ueber-Restitution/!5991919 | |
| [2] /Musik-von-Schauspielerin-Stangenberg/!5719823 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Balkenborg | |
| ## TAGS | |
| Spielfilm | |
| Familie | |
| Eltern | |
| Sterben | |
| Rezension | |
| Filmbranche | |
| Deutscher Filmpreis | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Demenz | |
| Deutscher Film | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Drama „Ivo“ im Kino: Mit dem emotionalen Ballast im Auto | |
| Alles ist hier in Bewegung: In ihrem neuen Spiefilm beobachtet Regisseurin | |
| Eva Trobisch pointiert die mobile Palliativpflegerin Ivo bei der Arbeit. | |
| Film „Bad Director“: Stolz wie Oskar | |
| Vergebliche Provokationsversuche: Oskar Roehler adaptiert mit „Bad | |
| Director“ seinen eigenen Roman „Selbstverfickung“, der mit der Filmbranche | |
| abrechnet. | |
| Deutsche Filmpreise vergeben: Filme, die zeigen, wie es uns geht | |
| Am Freitag wurden in Berlin die Gewinner:innen des Deutschen | |
| Filmpreises Lola gekürt. Darunter sind Filme von Ayşe Polat und Steffi | |
| Niederzoll. | |
| Kaberettist Josef Hader über neuen Film: „Auf dem Land war's mir zu grob“ | |
| Mit „Andrea lässt sich scheiden“ legt Josef Hader seine zweite Regiearbeit | |
| vor. Es geht um Härten des Landlebens – und die traurigste Landeshauptstadt | |
| Österreichs. | |
| Film „Blauer Himmel Weiße Wolken“: Eine Bootsfahrt ins Vergessen | |
| Der Film "Blauer Himmel Weiße Wolken" der Bremer Regisseurin Astrid Menzel | |
| erzählt, wie ein geliebtes Familienmitglied mehr als nur tüdelig wird. | |
| Filmdrama „Die Zeit, die wir teilen“: Den Serpentinen zum Trotz | |
| Isabelle Huppert begegnet im Film „Die Zeit, die wir teilen“ als gealterte | |
| Verlegerin ihrer großen Liebe neu. Über ihrem Leben schwebt ein „Trotzdem�… |