# taz.de -- Drama „Ivo“ im Kino: Mit dem emotionalen Ballast im Auto | |
> Alles ist hier in Bewegung: In ihrem neuen Spiefilm beobachtet | |
> Regisseurin Eva Trobisch pointiert die mobile Palliativpflegerin Ivo bei | |
> der Arbeit. | |
Bild: Andeutung im Spiegel: Ivo (Minna Wündrich), mal nicht bei der Arbeit | |
Wer jemanden beim Sterben begleitet hat, erkennt vielleicht noch stärker | |
die unglaubliche Wahrhaftigkeit von Eva Trobischs Drama „Ivo“. In seiner | |
konzentrierten Unaufgeregtheit fängt der Film diese leisen, emotionalen | |
Momente des Innehaltens ein, die Grenzen zwischen einem Innen, in dem | |
Stunden zu Tagen voller Beobachtungen werden, und jenem Außen, in dem die | |
Welt vibriert. Doch obwohl es um sehr unterschiedliche Umgänge mit dem Tod | |
geht, platzt Trobischs zweiter Langfilm vor Leben. | |
Ivo (Minna Wündrich) ist ambulante Palliativpflegerin. Sie lebt quasi in | |
ihrem alten Škoda, telefoniert, isst, weint, lacht und singt dort in dem | |
mobilen Zuhause, verarbeitet ihre Sorgen und die Arbeit mit den | |
Patient:innen, zwischen denen sie sich bewegt. Arbeiterfamilien in der | |
Platte, Alleinstehende, einigermaßen sortierte oder auch emotional | |
angeschlagene Eheleute, ein schwules Paar in einem Haus mit malerischem | |
Garten: Trobisch macht ein breites Panoptikum der Pflegebedürftigkeit in | |
urbaner Peripherie auf. | |
Das Thema Pflege hat dieses Jahr im deutschen Kino volle Breitseite | |
erreicht. In [1][Matthias Glasners traurig-komischem Familienporträt | |
„Sterben“] handelt eine Episode von pflegebedürftigen Eltern, der Vater | |
kommt schließlich ins Heim. Claudia Rorarius erzählt in „Touched“ mit | |
sensiblem Realismus und radikaler Intimität von der Beziehung einer | |
Pflegerin zu ihrem querschnittgelähmten Patienten. In „Ivo“ zeigt Trobisch | |
den Alltag einer alleinerziehenden Mutter zwischen ihrer pubertierenden | |
Tochter (Lilli Lacher) und den Patient:innen. | |
Seine authentische Sachlichkeit zieht der Film aus der Recherche, denn die | |
Regisseurin ist über ihren Kameramann Adrian Campean an dessen Vater Dr. | |
Johann-Severin Campean herangetreten. Letzterer war bis Juli 2023 | |
Geschäftsführer und ärztlicher Leiter der [2][Spezialisierten Ambulanten | |
Palliativversorgung (SAPV) im nordrheinwestfälischen Kreis Mettmann] und | |
hat den Film mit seinem Team begleitet. Er selbst spielt Ivos ärztlichen | |
Leiter, der Deal beim Dreh war, dass der Arzt keine Dialoge übt, sondern | |
sich einfach wie in seinem Beruf gibt. Eine große Hilfe sicher auch bei den | |
heiklen Themen, an denen sich „Ivo“ abarbeitet. | |
## Im Handstand den Pullover anziehen | |
Immer stärker ins Zentrum rücken im Film die an ALS erkrankte Solveigh (Pia | |
Hierzegger) und ihr Mann Franz (Lukas Turtur). Erstere ist eine enge | |
Freundin von Ivo, jede Szene zwischen den Frauen zeugt von einer großen | |
Vertrautheit. Zugleich hat die Pflegerin eine Affäre mit Franz. Einmal | |
trifft sich das heimliche Paar in der „Rhein Suite“ eines Hotels, sie | |
schlafen miteinander und sie beobachtet ihn dabei, wie er versucht, nackt | |
im Handstand seinen Pullover anzuziehen. Später wird es um einen | |
Suizidwunsch gehen – ein so wichtiges wie schwieriges Thema. Dass der Film | |
auch dabei nicht seinen angemessenen, ambivalenten Sound verliert, zeugt | |
von immenser Feinfühligkeit. | |
Ein großes Verdienst daran hat das Ensemble, allen voran Minna Wündrich. | |
Mit ihrem zurückhaltenden, nuancierten Spiel ist sie in ihrer ersten | |
größeren Kinorolle schon jetzt eine Entdeckung dieses Filmjahres. Ihre Ivo | |
ist nach jener Frau in [3][Trobischs gefeiertem Debüt „Alles ist gut“], die | |
eine Vergewaltigung zu verdrängen versucht, ebenfalls komplex und dadurch | |
zutiefst menschlich. Ivo versucht alles unter einen Hut zu bekommen: das | |
Zusammenleben mit ihrer dauervideochattenden Tochter, die eigenen | |
Bedürfnisse und ihren so wichtigen wie kräftezehrenden Job. Abends raucht | |
sie gern mal eine Bong zum Runterkommen, einmal setzt sie sich selbst eine | |
Morphiumspritze und driftet weg. | |
Ivo ist das humanistische Scharnier zwischen jenem eingangs erwähnten Innen | |
und Außen, in ihren Blicken und ihrer Wahrnehmung tun sich Welten auf. | |
Tauben werden zum Spiegel ihrer immer unbeweglicher werdenden alten | |
Freundin, Väter rennen mit Kindern über die Straße, der Wind rauscht in den | |
Bäumen und die Autos über die Straßen, während Ivo (Minna Wündrich) das | |
Geschehen rauchend vom Balkon aus beobachtet. Trobisch findet mit dem | |
Sounddesign und mit den dokumentarisch anmutenden Bildern ihres Kameramanns | |
Campean das Abstrakte im Konkreten – und das ganz ohne falsche Gefühligkeit | |
oder aufgepfropft wirkende Metaphorik. | |
„Ivo“ sucht im Tod eben nicht jenen Sensationalismus, der vielen Filmen | |
anhaftet, sondern erzählt in kleinen, pointierten Gesten davon. „Möchten | |
sie den anderen Arm selber waschen?“, wird Solveigh am Rande einer Szene | |
von einer Pflegerin gefragt: ein kurzer Moment, in dem sich die ganze | |
Tragik und Menschlichkeit ihres Wunsches nach Autonomie manifestiert. | |
Alles ist in Bewegung in diesem Film, durch den sich Ivo mit ihrem Auto, | |
ihrem emotionalen Ballast und ihren Hoffnungen manövriert. In Bewegung wie | |
der fahrende Zug, aus dem „Ivo“ zu Beginn und am Ende blicken lässt, als | |
würde sich ein Kreis schließen. | |
25 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Familiengeschichte-Sterben-im-Kino/!6003581 | |
[2] https://www.sapv-mettmann.de/ | |
[3] /Deutscher-Spielfilm-Alles-ist-gut/!5536301 | |
## AUTOREN | |
Jens Balkenborg | |
## TAGS | |
Rezension | |
Spielfilm | |
Tod | |
Medizin | |
Care-Arbeit | |
Doku | |
Spielfilm | |
Fasten | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Online-Ausgabe des Münchner Filmfests: Die Doku ist zurück | |
Das DOK.fest München zeigt online wieder Geschichten, deren Script das | |
Leben schreibt. Es ist eines der angesehensten Festivals für | |
Dokumentarfilme. | |
Familiengeschichte „Sterben“ im Kino: Herz und Gefühl vergleichen | |
In seinem Kino-Film „Sterben“ erzählt Regisseur Matthias Glasner | |
traurig-komisch von einer Familie. Die Liebe zu den Figuren kommt ihm nie | |
abhanden. | |
Sterbefasten: „Ich glaub, jetzt bin ich tot.“ | |
Christiane zur Niedens Mutter aß und trank 13 Tage lang freiwillig nicht. | |
Die Familie unterstützte sie dabei. Im Interview spricht die Tochter | |
darüber. |