# taz.de -- Filmdrama „Die Zeit, die wir teilen“: Den Serpentinen zum Trotz | |
> Isabelle Huppert begegnet im Film „Die Zeit, die wir teilen“ als | |
> gealterte Verlegerin ihrer großen Liebe neu. Über ihrem Leben schwebt ein | |
> „Trotzdem“. | |
Bild: Zärtlichkeit am Rhein: Joan Verra (Isabelle Huppert) und Tim Ardenne (La… | |
Eine dunkle Straße windet sich durch eine nächtliche Landschaft, von der | |
nur so viel zu sehen ist, wie die Scheinwerfer eines einsamen Autos | |
freigeben. Durch die verregnete Windschutzscheibe blickt die Frau am Steuer | |
direkt in die Kamera, stellt sich einem unbekannten Publikum mit vollem | |
Namen vor. Joan Verra, heiße sie. Nicht Jeanne, stellt sie klar, auch nicht | |
Joanne oder gar John, wie man sie in ihrem Leben bereits fälschlicherweise | |
genannt habe. | |
Sie driftet ab, beginnt von ihren Eltern und ihrer Kennlerngeschichte zu | |
erzählen, für die sie niemals auch nur einen materiellen Beweis gefunden | |
habe, die Joan aber so oft gehört habe, dass sie für sie real geworden sei. | |
„Der Stoff, aus dem Erinnerungen sind“, ergänzt sie lakonisch, ehe der Film | |
in die wohl schicksalsschwerste Begegnung ihres eigenen Lebens eintaucht. | |
In den Siebzigern hält sie sich als Au-pair in Irland auf und lernt dort | |
einen jungen Mann kennen, der sich als Taschendieb verdingt. | |
Joan, dieser Eindruck stellt sich unmittelbar ein, ist eine aparte Frau. | |
Ist es zumindest mit dem zunehmenden Alter, unter der Last der Erfahrungen | |
und der ständigen Herausforderung, sie zu stemmen, geworden. Gespielt wird | |
sie mit [1][Isabelle Huppert von einer nicht geringeren | |
Ausnahmeerscheinung, die mit „Die Zeit, die wir teilen“ im Frühjahr auf der | |
Berlinale vertreten war und dort mit dem Goldenen Ehrenbären für ihr | |
Lebenswerk] ausgezeichnet wurde. | |
Die erprobte Theater- und Filmschauspielerin verleiht den Worten ihrer | |
Figur eine gewisse Erhabenheit und bewahrt die Geschichte von Regisseur | |
Laurent Larivière, der mit François Decodts auch das Drehbuch verfasste, | |
vor einem Übermaß an Larmoyanz. Denn obwohl Joan ein außergewöhnliches | |
Leben führt, bergen dessen einschneidende Momente universal Nachfühlbares | |
und decken sich mit den klassischen Motiven des Melodrams. | |
## Traumbilder und Trauer | |
Wie verblichene Traumbilder wirken die Rückblenden, die Larivière und | |
Decodts mit schlafwandlerischer Sicherheit in nichtchronologischer | |
Reihenfolge mit der Gegenwart zu einer entrückten Erzählung verweben, die | |
letztlich von nichts anderem handelt als der titelgebenden geteilten Zeit | |
und der Trauer, die ihrem Ende innewohnt. In fahlen Farben begleitet die | |
Kamera die junge Joan (Freya Mavor), wie sie sich mit Doug (Éanna | |
Hardwicke/Stanley Townsend) in eine typische Amour fou stürzt. | |
Die mündet nicht nur in einem bitteren Schlusspunkt, sondern bringt auch | |
die Saat für eine neue Form geteilter Zeit aus. Im Jetzt besucht sie ihr | |
erwachsener Sohn Nathan (Swann Arlaud), der mittlerweile in Montreal lebt. | |
Überraschend taucht er in einem kleinen französischen Dorf auf, unweit des | |
Landsitzes, zu dem sich Joan überhastet aufgemacht hat, nachdem sie zuvor | |
in Paris ihrer alten Jugendliebe begegnet ist. Ohne zu erwähnen, dass aus | |
ihrer Romanze ein Kind hervorgegangen ist. | |
Ihr Umgang mit Nathan wirkt seltsam unbeholfen. Darum, was das Verhältnis | |
von Mutter und Sohn so nachhaltig getrübt hat, baut der Film geschickt ein | |
Mysterium auf, dessen finale Auflösung sowohl alle anderen ihrer | |
Beziehungen in neuem Licht erscheinen lässt als auch Joans bisweilen | |
stoisches Auftreten erklärt. | |
„Nathan ist das Schönste, was mir je passiert ist“, kommentiert sie früh … | |
Film, an einer Tankstelle wartend, rauchend. „Zu behaupten, er hätte mir | |
das Leben gerettet, wäre falsch. Oder ihm einen Sinn gegeben hätte. Ich | |
glaub nicht an diese Albernheiten, ich finde das idiotisch. Man weiß doch, | |
das Leben hat keinen Sinn. Mit Nachwuchs, oder ohne.“ | |
## Ein immer wieder von Gram geprägtes Leben | |
Dass Zeilen wie diese im Kontext des Dramas nicht trivial wirken, liegt | |
daran, dass sie hier keiner bloßen nihilistischen Pose entspringen. In | |
Joans Fall scheinen sie ehrliche Essenz einer bewegten Vita zu sein, eines | |
immer wieder von Gram geprägten Lebens. Eines, das dennoch kein | |
fehlgeleitetes ist. Denn wie viel heilsamer ist es, einer Wahrheit ins Auge | |
blicken und mit ihr leben zu können, als einem falschen Heilsversprechen | |
anzuhängen? | |
Den Unterschied präzisiert der Film an einer weiteren Beziehung Joans, an | |
der relativ kurzen Zeit, die sie mit der Mutter (Florence Loiret Caille) | |
teilte. Sie endete darin, dass diese die Familie in fliegender Hast für | |
eine Affäre verließ, ihr nach Japan folgte. | |
Wenn das Drama an Joan zeigt, dass mancher Traum zerschellen kann, ohne | |
dass man dabei vom Weg abkommen muss, ist die Mutter tragisches Beispiel | |
dafür, wie man selbst an seinen Träumen zerschellen kann. | |
Was Joan nach ihrer Karriere als Verlegerin trotz allem mit ihrer Gegenwart | |
versöhnt, ist die Beziehung mit dem deutschen Autor Tim Ardenne, der sie | |
bereits während ihrer aktiven Zeit auf grotesk-liebevolle Art umschwärmte. | |
[2][Lars Eidinger] spielt die „geplagte Künstlerseele“ mit unnachahmlichem | |
Wahnwitz, und wird so zum charmanten comic relief des ansonsten | |
schwermütigen Dramas. „Die Zeit, die wir teilen“ ist ein zutiefst humaner | |
Film, der den Serpentinen im Weg seiner Protagonistin folgt, um in einem | |
wohltuenden „Trotzdem“ zu münden. | |
31 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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