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# taz.de -- Politikerinnen über Diversität: „Das neue deutsche Wir“
> Die Politik soll vielfältiger werden, fordern Serpil Midyatli (SPD) und
> Pegah Edalatian (Grüne). Sie setzen sich dafür über Strategiedebatten
> hinweg.
Bild: 27 Prozent der Bevölkerung haben Migrationshintergrund, doch nur 14,5 Pr…
taz: Frau Edalatian, Frau Midyatli, Ihre Parteien gelten als sehr weiß.
Fühlen Sie sich als Politikerinnen mit Migrationsbiografien bei Grünen und
SPD manchmal fremd?
Pegah Edalatian: Als Kind habe ich meinen Vater gefragt, warum ich keinen
deutschen Pass habe. Er hat mir erklärt, da ist eine Partei, die neu im
hessischen Landtag ist und ein anderes Staatsbürgerschaftsrecht fordert.
Das hat mich überzeugt, daher bin ich später bei den Grünen eingetreten und
habe mich nie fremd gefühlt. Aber ja, auch bei uns sind Mitglieder mit
Migrationshintergrund unterrepräsentiert. In der Gesellschaft liegt ihr
Anteil bei 27 Prozent, unter unseren Mandatsträger*innen nur bei 14,5
und im Bundestag [1][insgesamt bei 11 Prozent]. Im Vergleich zu anderen
Parteien sind wir schon diverser, aber es gibt Handlungsbedarf.
Woran liegt das?
Edalatian: Meinem Eindruck nach sind Menschen der zweiten Generation, die
die deutsche Staatsbürgerschaft haben, politisch aktiver als Menschen ohne
Migrationshintergrund. Aber sie engagieren sich vor allem
zivilgesellschaftlich und fühlen sich von Parteien wenig angesprochen. Das
wollen wir ändern.
Wie ist das bei Ihnen, Frau Midyatli?
Serpil Midyatli: Ich bin seit 2000 Sozialdemokratin. Auch bei mir war der
Grund das Staatsbürgerschaftsrecht – das war die Zeit, als Roland Koch und
die CDU Unterschriften gegen die Türken gesammelt haben. Am Anfang war die
SPD schon eine sehr weiße Runde. Wenn man auf Kreisparteitagen in den Raum
gekommen ist, haben sich alle umgedreht. Das ist heute definitiv anders.
Vielleicht hat das mit meinem Wirken als Landesvorsitzende zu tun: Die
Vorbildfunktion führt dazu, dass sich Menschen angesprochen fühlen und
mitmachen.
Hat die SPD auch erhoben, wie viele Mitglieder eine Zuwanderungsgeschichte
haben?
Midyatli: Nein. Aber ich habe mir einen Überblick über die Landesverbände
und Fraktionen verschafft und wir sind ebenfalls deutlich
unterrepräsentiert.
Das wollen Sie gemeinsam ändern. Wie?
Midyatli: Auf unterschiedlichen Ebenen. Wenn über die
Migrationsgesellschaft gesprochen wird, ist das immer negativ behaftet.
Viele Menschen leben aber schon sehr lange hier und sind Teil dieses
Landes. Wir sind uns einig: Wir brauchen eine moderne, vielfältigere und
der Realität angemessene Erzählung. Deshalb haben wir in einem ersten
Schritt all unsere Mandatsträger, Ministerinnen und Minister aus Bund und
Ländern zu einem Vernetzungstreffen eingeladen. Wir wollen gemeinsam
überlegen, wie wir dieses positive Bild, dieses neue deutsche Wir,
gemeinsam vorantreiben können.
Edalatian: Genau. Wenn man über Menschen mit Migrationshintergrund immer so
redet, als wären sie ein Problem, dann entfremden sie sich. Dabei müssen
Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gemeinsam Herausforderungen
meistern, etwa bei Rente, Bildung und Gesundheit.
Sie wollen eine Art umgekehrte [2][Leitkulturdebatte] führen?
Midyatli: Wir haben bereits eine Leitkultur in Deutschland, das
Grundgesetz. Ich halte nichts von einer neuen Debatte in dieser Richtung.
Aber wir müssen auch über Rassismus und Ausgrenzung sprechen, die größten
Integrationshemmnisse überhaupt. Da kann Ihnen jede Person mit
Migrationshintergrund, egal ob Professor oder Reinigungskraft, mehrere
Geschichten erzählen. Über diese gemeinsame Erfahrung sind Pegah und ich
auch zusammengekommen. Bei unserem Treffen geht es auch um die Projekte,
die wir dazu im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Die Ampel muss sie
endlich umsetzen.
Edalatian: Wir müssen sicherstellen, dass Menschen mit
Migrationshintergrund auch rechtlich besser vor Diskriminierung geschützt
werden, zum Beispiel durch die Novellierung des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes. Denn Diskriminierung steht gesellschaftlicher
Teilhabe im Weg. Wir wollen ein Partizipationsgesetz für mehr Teilhabe und
endlich das Demokratiefördergesetz – also eine Verstetigung von
Fördergeldern für Vielfaltsprojekte oder Extremismusbekämpfung –
verabschieden.
Gibt es auch eine Bringschuld von Menschen, die nach Deutschland
einwandern?
Edalatian: Sie sind nicht in der Bringschuld. Aber es ist
selbstermächtigend, wenn man für sich selbst einsteht, indem man wählen
geht oder sich zur Wahl stellt. Das war für mich ein Grund, Politikerin zu
werden: Nicht jemand zu sein, mit dem etwas passiert, sondern
mitzugestalten. Das können die Mehrheitsgesellschaft und die Parteien
unterstützen.
Wie denn?
Edalatian: Wir haben bei den Grünen seit mehr als drei Jahren ein
Vielfaltsstatut mit dem Ziel, die Repräsentation von Menschen mit
Migrationshintergrund und anderen Minderheiten zu verbessern und Wissen
über Diskriminierung auf allen Ebenen der Partei zu verankern. Wir
ermächtigen Menschen mit Rassismuserfahrung in unserer Partei mit
Weiterbildungen und Vernetzungstreffen gezielt dazu, sich einzubringen. Die
Förderung von Selbstvertretungen und Netzwerken ist dabei enorm wichtig.
Midyatli: Bei uns geht es zunächst einmal darum, wie wir Menschen
ansprechen und wie wir zum Beispiel Wahlkämpfe organisieren. Wir dürfen
nicht in Wir und Ihr denken, sondern müssen die ganze Gesellschaft von
Anfang an mitdenken.
Welche Barrieren halten Menschen mit Migrationshintergrund von politischem
Engagement ab?
Edalatian: Sprache ist ein Thema bei Menschen, die Deutsch nicht als
Muttersprache haben. Und dann ist es auch eine Frage von Ressourcen.
Menschen mit Migrationshintergrund müssen in ihrem Leben mehr Barrieren
überwinden – das gilt übrigens auch für Alleinerziehende oder Menschen mit
chronischen Krankheiten. Das kostet Kraft. Ich selbst hatte das Gefühl,
erstmal eigene Baustellen bearbeiten zu müssen, wie zum Beispiel Studium
und Job, bevor ich Parteimitglied wurde. Vielleicht einer der Gründe, warum
ich auch nicht in der Grünen Jugend war.
Midyatli: Jetzt, wo du es sagst: Ich war auch nicht bei den Jusos.
Sind in solchen Fragen nicht Faktoren wie Einkommen und Bildungsstand ein
größeres Hemmnis als der Migrationshintergrund?
Midyatli: Die soziale Herkunft ist natürlich eines der größten Hindernisse
und der gesellschaftliche Aufstieg ist generell schwierig. Meine Eltern
waren beide lange Zeit Analphabeten und allein dadurch hatte ich weniger
Chancen als andere. Der Migrationshintergrund macht es dann aber noch mal
schwieriger, nach oben zu kommen. Der Rucksack, den man mit sich
rumschleppt, ist mit noch mehr Ziegelsteinen gefüllt.
Edalatian: Die deutsche Politik hat ein Klassismusproblem. Die Mehrheit der
Deutschen hat keinen akademischen Abschluss. Im Bundestag ist diese Gruppe
aber nur sehr begrenzt vertreten. Da ist eine krasse Lücke. Menschen mit
Migrationshintergrund, die aus der Arbeiterschicht kommen, sind damit
doppelt diskriminiert. Umgekehrt heißt das: Wenn man die Klassenfrage
angeht, adressiert man auch viele, die einen Migrationshintergrund haben.
Im Kampf um die Vorherrschaft in der linken Mitte beobachten wir zwischen
SPD und Grünen oft Konkurrenzverhalten. Setzen Sie sich mit Ihrer
Zusammenarbeit über die Strategien Ihrer Parteien hinweg?
Edalatian: Der Rechtsruck macht es notwendig, dass wir über Parteigrenzen
hinaus zusammenarbeiten. Ein Zeichen zu setzen, ist wichtiger als die
übliche Konkurrenz.
Warum machen Sie dann nicht gleich eine Ampel-Veranstaltung daraus?
Edalatian: Die FDP war herzlich eingeladen, sie konnte es aber nicht
einrichten. Ich hoffe, dass sie beim nächsten Mal dazukommen.
Die wollten sich so kurz vor ihrem Parteitag wohl nicht mit Roten und
Grünen sehen lassen.
Midyatli: Es liegt wahrscheinlich eher daran, dass vor einem
Bundesparteitag immer viel zu tun ist.
Die Politik der Ampel verschafft Ihren Anliegen Gegenwind. Die
[3][Verschärfung des Asylrechts] hat bei den Grünen zu Austritten von
Menschen mit Fluchterfahrung geführt.
Edalatian: Als Sprecherin für Vielfaltspolitik bedauere ich solche
Austritte. Ich bin aber froh, dass der Kontakt weiter besteht. Menschen mit
Migrationshintergrund sind sehr heterogen, die Reaktionen auf die
Verschärfung waren sehr unterschiedlich. Letztlich sind wir da aber wieder
an einem entscheidenden Punkt: Wir wollen wieder eine gesellschaftliche
Debatte, die sich positiv über die Einwanderungsgesellschaft unterhält und
Migration nicht nur als Konfliktthema betrachtet.
Frau Midyatli, Sie nicken. Wie sehr hat es Sie geärgert, dass ausgerechnet
ein sozialdemokratischer Kanzler letztes Jahr gesagt hat, man müsse endlich
im großen Stil abschieben?
Midyatli: Das hat mich sehr geärgert und das habe ich Olaf Scholz deutlich
gesagt. Die Menschen, die abgeschoben werden müssen, sind ja nur eine
kleine Gruppe. Demgegenüber stehen die Millionen Menschen, die teils schon
in dritter Generation sind, aber nicht gesehen werden. Das regt uns und
viele aus den Communities so auf. Die haben das Gefühl, dass sich die
Politik immer nur mit einer Gruppe beschäftigt und dabei auch noch ihren
Ton immer weiter verschärft.
Haben Sie das Gefühl, ihre Kritik am Kanzler hat gewirkt?
Midyatli: Olaf Scholz hat es nicht noch mal wiederholt.
Welche Anliegen begegnen Ihnen sonst häufig, wenn Sie als Politikerinnen
mit Menschen mit Migrationshintergrund sprechen?
Midyatli: Oft geht es gar nicht um Migrationspolitik im engeren Sinne,
sondern um andere Themen, die diese Menschen aber auch stark betreffen.
Viele Menschen mit Migrationshintergrund haben zum Beispiel vom Mindestlohn
profitiert. Andere Anliegen sind bezahlbarer Wohnraum, gute
Verkehrsverbindungen oder genügend Lehrkräfte für die Schulen.
In einigen migrantischen Communities gibt es aktuell Unverständnis über die
deutsche Nahost-Politik und die Israel-Solidarität der Bundesregierung. Wie
sehr schadet das Ihrem Anliegen, Menschen mit Migrationshintergrund stärker
für Ihre Parteien zu mobilisieren?
Edalatian: Es schadet nicht meinen Anliegen. Es ist aber offensichtlich,
dass wir einen Raum schaffen müssen, um als Demokrat*innen die
unterschiedlichen Wahrnehmungen zu klären. Ich habe den Eindruck, dass oft
in unserer Gesellschaft über die Menschen geredet wird, aber es wenig Platz
gibt, um miteinander zu reden.
Midyatli: In den Dialog zu gehen, ist ja generell die Aufgabe der Politik.
Ich sage aber auch ganz klar, dass bei uns in der SPD auch nicht jeder
herzlich willkommen ist. Man muss schon unsere Werte teilen. Für mich kommt
zuerst, Sozialdemokratin zu sein, und dann, den Migrationshintergrund zu
haben. Wem unsere Positionen zu bestimmten Themen überhaupt nicht passen,
der muss sich eben nach anderen Parteien umsehen. Vielleicht wäre es
ohnehin am schönsten, wenn sich die Menschen mit Migrationshintergrund
gleichmäßig auf alle demokratischen Parteien verteilen. Dann würde man
sehen, wie vielfältig die Migrationsgesellschaft ist und wie absurd
Schubladendenken ist.
Im nächsten Bundestagswahlkampf werden die Parteien voraussichtlich wieder
keine Kanzlerkandidat*innen mit Migrationsgeschichte aufstellen. Ist
die Zeit dafür noch nicht reif?
Edalatian: Die Zeit ist immer reif und irgendwann wird Deutschland auch
eine Kanzlerin oder einen Kanzler mit Migrationshintergrund haben.
Und wann ist die SPD bereit dafür?
Midyatli: Für uns stellt sich die Frage für die nächste Bundestagswahl
nicht, weil wir einen Kanzler haben.
Und für die übernächste?
Edalatian: Vielleicht ist Serpil dann ja die SPD-Kandidatin. Das wäre
schön.
25 Apr 2024
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## AUTOREN
Anna Lehmann
Tobias Schulze
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