| # taz.de -- Integrationsdebatte und Rassismus: Bitterer Nachgeschmack | |
| > Der Diskurs über die Hintergründe der Gewalt in der Silvesternacht ist | |
| > wenig zielführend. Konstruktive Lösungsansätze kommen dabei viel zu kurz. | |
| Bild: Nicht nur im rechtsextremen Milieu ist Rassismus verbreitet | |
| Was muss ich sein oder machen, damit ich deutsch bin?“, fragt Dilan Sözeri. | |
| Die [1][17-jährige Jugendliche] war von mehreren Tätern rassistisch | |
| beleidigt und dann zusammengeschlagen worden. Betrachtet man die seit der | |
| Silvesternacht in Deutschland stattfindende Integrationsdebatte in der | |
| Metaebene, so wird schnell deutlich, weshalb Politikwissenschaftler Carlo | |
| Masala diese Debatte „nicht gut für die Zukunft dieses Landes findet“ und | |
| anführt, dass sie „komplett aus dem Ruder läuft“. | |
| Wenn wir nämlich so weit sind, dass die führenden deutschen Politiker von | |
| „[2][Integrationsverweigerern]“ (Faeser, SPD) und dem „[3][Phänotypus: | |
| westasiatisch, dunkler Hauttyp]“ (de Vries, CDU) sprechen, von „bestimmten | |
| jungen Männern mit Migrationshintergrund“ (Faeser, SPD), „kleinen Paschas�… | |
| und „Jugendlichen aus dem arabischen Raum“ (Merz, CDU) zusammen mit | |
| „ungeregelter Migration“, „gescheiterter Integration“ (Spahn, CDU) und | |
| „kultureller Überfremdung“ (Adler, FDP) und wenn keine dieser polemisch | |
| verwendeten Begriffe und Denunzierungen aus dem AfD-Milieu, sondern aus der | |
| bürgerlichen Mitte stammen, dann müssen wir doch laut aufschreien. | |
| Es muss diesen Politikern doch bewusst sein, dass mit ihrer Sprache nicht | |
| nur die sozioökonomisch benachteiligte, kriminell auffällig gewordene und | |
| vom Rechtsstaat geahndete kleine Gruppe von 38 Personen in Berlin-Neukölln | |
| ansprechen, sondern alle 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. | |
| Die Debatte über Integration, Migration und dunklen Hauttyp trifft | |
| unweigerlich uns alle. | |
| Der gravierendste Fehler bei der Debatte nach Silvester ist die irrtümliche | |
| Annahme, der Migrationshintergrund der gewalttätigen Jugendlichen sei Grund | |
| für die Gewalt gegen Polizei und Rettungssanitäter. Tatsächlich ist Gewalt, | |
| in der Polemik der aktuellen Debatte formuliert, auch deutsche Norm. | |
| Stichwort Dresden 2021, Borna 2022, [4][Lützerath 2023]. So sieht auch | |
| Jugendrichter Andreas Müller nicht die Herkunft als das Problem, sondern | |
| vielmehr „ob diese Jugendlichen eine Perspektive haben“. | |
| ## Entscheidend ist der Vorname | |
| Gewalt gegen unsere Einsatzkräfte und Rettungskräfte ist zu verurteilen und | |
| strafrechtlich zu verfolgen. Die Polemik dieser entgleisten | |
| Integrationsdebatte ist dennoch fatal, denn sie perpetuiert rassistische | |
| Narrative. Menschen mit Migrationshintergrund wird „kulturelle | |
| Überfremdung“ angelastet, anstatt sie als Bereicherung wahrzunehmen. Das | |
| ist die laute Debatte, die geführt wird. Das bleibt in den Köpfen hängen. | |
| Das Ziel, dass Menschen mit Migrationshintergrund irgendwann auch | |
| tatsächlich als Deutsche wahrgenommen werden und nicht als Fremde, rückt | |
| damit nicht gerade näher. Die Diskriminierung deutscher Tatverdächtiger | |
| anhand ihrer Vornamen ist der Gipfel der rassistischen Narrative. Der | |
| Soziologe und Bildungsforscher El Mafaalani bringt es auf den Punkt: „Das | |
| Signal ist, selbst wenn ihr eingebürgert seid, selbst wenn ihr hier geboren | |
| seid, am Ende gucken wir uns noch mal euren Vornamen an.“ | |
| Das Signal ist das Gegenteil von dem, was eine sinnvolle | |
| zukunftsorientierte Integrationspolitik wäre. Ironischerweise wird die | |
| aktuelle Integrationsdebatte weder zu einer verbesserten | |
| Sicherheitssituation unserer Rettungskräfte führen, noch zu mehr Achtung | |
| und Respekt vor dem Staat. Im Gegenteil: Das Ergebnis ist Frustration, ist | |
| Verbitterung und Spaltung auf beiden Seiten. Die einen kämpfen darum, als | |
| Teil der Gesellschaft akzeptiert zu werden, und die anderen rufen laut, | |
| dass sie hier nichts zu suchen haben. | |
| Einen Tag nach dem Auftritt des CDU-Vorsitzenden [5][Friedrich Merz bei | |
| Markus Lanz], wo er sich darüber echauffiert, dass in Deutschland alle | |
| Menschen die gleichen Chancen hätten, veröffentlicht die | |
| Integrationsbeauftragte und Beauftragte für Antirassismus, [6][Reem | |
| Alabali-Radovan, einen Bericht], der genau das Gegenteil belegt. Merz setzt | |
| obendrauf, dass Deutschland durch die heute 8-jährigen Grundschüler, die er | |
| als „kleine Paschas“ denunziert, eine Bedrohung besteht. | |
| ## 40% der unter Fünfjährigen | |
| Das sind Kinder, für die wir als Gesellschaft die Verantwortung tragen. In | |
| welcher verzerrten Realität leben Merz und seines Geistes Brüder? | |
| Glücklicherweise positionierte sich Berlins Bürgermeisterin Franziska | |
| Giffey umgehend gegen diese „absurde Debatte“, die uns keiner Lösung | |
| näherbringt. Welche Versäumnisse müssen wir jetzt aufholen? Wem müssen wir | |
| zuhören? Und wen müssen wir unterstützen? Wo investiert Deutschland in die | |
| Zukunft? | |
| Wie sieht die Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der | |
| Migrationsgesellschaft aus? Schon heute weisen [7][40 Prozent der unter | |
| Fünfjährigen Migrationshintergrund] auf. Welchen Lösungsansatz gibt es | |
| gegen den eklatanten Lehrermangel in Deutschland? Welche Projekte sind | |
| geplant, um gegen die Benachteiligung von Schülern und Schülerinnen mit | |
| Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem anzugehen? Das sind | |
| unsere eigentlichen Baustellen. | |
| Die Ergebnisse des von Franziska Giffey initiierten Jugendgipfels sind die | |
| „ausgestreckte Hand“ und das „Stoppsignal“. Diesen Lösungsansatz gilt … | |
| konsequent und langfristig voranzutreiben, wenn man sich gesellschaftlichen | |
| Frieden wünscht. Die Jugendlichen von heute sind unsere Lehr- und | |
| Pflegekräfte von morgen – mit oder ohne Migrationshintergrund. Das | |
| rassistische Narrativ ist nicht mehr nur rechts. Es ist mitten in der | |
| Politik, mitten in der Gesellschaft, steckt in unseren Köpfen. | |
| Bundesinnenministerin [8][Nancy Faeser] liegt falsch: Diese Debatte kann | |
| nicht geführt werden, „ohne rassistische Ressentiments zu schüren“. Die | |
| letzten Wochen haben das einmal mehr gezeigt. Struktureller Rassismus ist | |
| tief in uns drin und der Lagebericht „Rassismus in Deutschland“ ein | |
| unwiderlegbarer Nachweis dessen, was 90 Prozent der Menschen schon lange | |
| fühlen: Deutschland hat ein Rassismusproblem. | |
| 5 Feb 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Prozess-um-rechte-Gewalt-gegen-Dilan-S/!5905184 | |
| [2] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/silvester-krawalle-nancy-… | |
| [3] https://twitter.com/VriesChristoph/status/1610029274614071296 | |
| [4] /Luetzerath/!t5896252 | |
| [5] https://www.youtube.com/watch?v=g1YMqV7oVuk | |
| [6] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rassismus-2156976 | |
| [7] https://mediendienst-integration.de/integration/kita.html | |
| [8] /Silvester-Ausschreitungen/!5903672 | |
| ## AUTOREN | |
| Tuba Ahmed-Butt | |
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